Dumm gelaufen, ein bisschen jedenfalls, ist es auch für diese Auseinandersetzung des Theaters mit dem Welt-Problem Nummer eins zurzeit: den Fluchtbewegungen weg aus den von Armut und Krieg geschundenen Regionen und her zu uns. Die Dynamik dieser Bewegung hat seit dem Sommer auch die Pläne der Bühnen überrollt - "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek, geplant als "Stück der Stunde" und viel gespielt am Beginn der Saison, wirkte plötzlich völlig deplatziert; und auch Karin Beier suchte Fellinis "Schiff der Träume" vor dem Anwachsen des Zustroms aus, also "vor Syrien". So musste der Kreuzfahrtdampfer noch mal kurz ins Trockendock vor der Premiere, um mit beträchtlicher dramaturgischer Mühe sturmfest gemacht zu werden für die neue Gegenwart. Das ist einigermaßen gelungen.
Anders als bei Johan Simons vor Jahren in München, blieb bei Karin Beier jetzt nur Fellinis Grundstruktur erhalten: Europas Hochkultur-Schickeria will eine prominente Persönlichkeit seebestatten; und im Laufe der Reise werden Geflüchtete aufgenommen, die die feine Gesellschaft völlig umstülpen. Hier führt ein ganzes Orchester (wie es in Fellinis etwas früherem Film "Die Orchesterprobe" auftaucht) den frisch verstorbenen Dirigenten in der Urne mit sich - und des toten Dirigenten Stellvertreter, hauptberuflich am Triangel tätig, verliest den letzten Willen:
Niemand wird verschont
"Ich wünsche, dass - wenn meine Urne in der Ägäis versinkt - noch einmal mein Werk 'Human Rights Nr. 4' zur Aufführung gebracht wird. Dieses Werk ist mir unter all meinen Kompositionen das liebste, weil es den utopischen Anspruch meiner Musik am radikalsten fasst."
"Human Rights Nr. 4" also, das "opus magnum" des Dirigenten, der auch komponierte ... einige Anweisungen für das Ensemble sind darin allerdings sehr speziell:
"Einzelkritik ... Cornelius von Ochs - ob es Ihnen passt oder nicht: auch Taucherflossen gehören bei meinem 'Human Rights Nr. 4' zum Schlagwerk."
Und weil die Damen und Herren Musiker natürlich gehorchen, wie sehr auch immer der Hass auf den Orchester-Despoten am Ego nagen mag, watschelt denn Josef Ostendorf eine Weile auf Flossen durch die ziemlich gewöhnungsbedürftige Partitur.
So weit, so furios ... auch weil der musikalische Leiter Jörg Gollasch sich auf die Instrumentalisten im Schauspielhaus-Ensemble verlassen kann. Im ersten Teil entfesselt Karin Beier so - mit grandioser Besetzung, Ostendorf und Charly Hübner, Michael Wittenborn oder Bettina Stucky vorneweg - ein hinreißend schwarzhumoriges Orchester-Gemetzel. Niemand wird verschont - und letztlich auch die Urne nicht. Sie fällt natürlich vom Tisch kurz vor der Bestattung und überzieht den stellvertretenden Orchesterleiter mit einem Ascheschleier. Sehr komisch, wirklich.
Die Kellnerin aus dem Bord-Restaurant liest uns die Leviten
Da sind die Geflüchteten schon an Bord - fünf "people of colour" (wie das heute ja heißt), aus afrikanischen Ländern auf dem Weg nach Europa. Bei Fellini waren das noch Serben, und gleich begann der Weltkrieg; jetzt empfehlen sich die munteren Fünf als Entwicklungshelfer - und wollen die allgegenwärtige europäische Depression aufpeppen mit afrikanischer Lebenslust. Das sieht immer noch komisch aus, verflacht aber zusehends ... und mit dem Orchester schließen die fünf Gäste bald multikulturelle Brüderschaft: in der Musik, im Rhythmus, im Tanz. Jetzt nimmt der Abend den Charakter einer schmucken Kitsch-Postkarte an.
Dann werden die Geflüchteten ausgeliefert an die Frontex-Polizei, und die wohlwollenden Künstler wissen nichts zu tun, als noch mal "Human Rights Nr. 4" anzustimmen: vergeblich. Die drei Schiffsdeck-Etagen der Bühne von Johannes Schütz neigen sich zum Untergang, und die bislang so harmlose Kellnerin aus dem Bord-Restaurant liest uns final die Leviten: Müll seid Ihr, altes Europa, Ihr müsst weg! Dann aber hüpft die bekannt wandlungsfähige Lina Beckmann noch in die Rolle der Regisseurin - und definiert den ganzen Abend im Nachhinein als Übungseinheit in Multikulturalität; nächste Woche ist der Nahe Osten dran!
Das ist der letzte Trick - und der merklich zu lange Abend driftet doch noch herüber in die Gegenwart. Viel Mühe war dafür nötig, aber die ist gut angelegt.