Massenentlassungen und Ausreiseverbot für Wissenschaftler - dutzende Journalisten zur Fahndung ausgeschrieben - Ausnahmezustand mit offenem Ende: Der türkische Präsident Erdogan greift in seinem Land mit aller Macht durch. Das hat natürlich auch Folgen für die Kunst und Kultur. Zum Beispiel haben die Macher der Biennale in Sinop heute ihre Veranstaltung abgesagt. Welche Auswirkungen die Kreativen in der Türkei befürchten, wollen wir im Corso-Gespräch wissen von Nurkan Erpulat.
Der türkische Theaterregisseur hat einen genauen Blick für die Themen Identität, Minderheiten, Klischees und soziale Ausgrenzung. Aufsehen erregte er zum Beispiel 2008 mit dem Stück "Jenseits - Bist du schwul oder bist du Türke?" im Hebbel am Ufer oder mit "Verrücktes Blut" – es wurde zum Stück des Jahres 2011 gekürt und er als Macher selbst zum Nachwuchsregisseur des Jahres. Erpulat wurde 1974 in Ankara geboren, studierte Schauspiel in Izmir und Regie in Berlin – er kennt also die deutsche und die türkische Kulturszene sehr genau. In diesen bewegten Zeiten erreichen wir ihn am Telefon in Ankara.
(Anm. d. Red.: Erpulat spricht mehrfach von "August", er meint natürlich "Juli". Wir wollten die Abschrift nicht verfälschen.)
Adalbert Siniawski: Guten Tag, Nurkan Erpulat!
Nurkan Erpulat: Hallo, guten Tag.
Siniawski: Was für eine Türkei haben Sie vorgefunden?
Erpulat: Also, als ich am 14. August in die Türkei gereist bin, nach Istanbul gereist bin, war alles in Ordnung. Alles in Ordnung insofern, wie die Türkei halt in den letzten Jahren ist. Es gab die Entwicklung schon zu einer totalitären, regimeähnlichen Situation und am 15. August, also ein Tag später, hat es angefangen, die Flugzeuge einfach über uns zu fliegen, beziehungsweise verschiedene Orte bombardieren oder Sonic Bombs zu werfen, und das war eine sehr beängstigende und kriegsähnliche Situation in Istanbul, aber nicht nur in Istanbul, sondern in der ganzen Türkei.
"Viele Künstler, auch ich, fühlen sich bedroht"
Siniawski: Und wie reagieren Ihre Künstler- und Schauspielkollegen, die Sie in der Türkei treffen, darauf?
Erpulat: Also seit der Gezi-Bewegung, seit drei Jahren nach der Gezi-Bewegung, leider: dass die Energie, die da entstanden ist, nicht weitergegangen ist, weil wieder brutal von der Regierung vorgegangen ist. Künstler wurden wieder in Gefängnisse gesteckt, die Journalisten wurden in Gefängnisse gesteckt nach der Gezi-Bewegung - auch mit verschiedenen Verschwörungstheorien von Erdogan wurden einige Künstler verboten oder ihre Sendungen gecancelt oder sie wurden rausgeschmissen von den Sendungen et cetetra. Wir haben in den letzten drei Jahren als Künstler in der Türkei sehr oft Niederlagen erlebt, und jede laute Stimme wurde erwürgt - und jetzt, dadurch, nach diesem Vorfall, sind sie bisschen in dem Stand-by-Modus gerade. Wir wissen nicht, wie es weitergeht.
Es kann jederzeit was passieren, es gerade in eine Richtung geht in der Türkei, in eine Richtung, die keiner erwartet hat. Sie wissen, im Iran auch: keiner hat erwartet, dass es von einem auf den anderen Tag zu einer islamischen Revolution kommt. Daher sind wir sehr vorsichtig. Ein Freund von mir, ein Schauspieler - ich möchte den Namen gar nicht geben -, gleich nach dem 15. August, dem 16. August, hat er auf Twitter gepostet: "Weder Putsch noch Scharia". Daher hat er Bedrohungen bekommen, weil er die Scharia abgelehnt hat. Und die Türkei ändert sich rasend schnell und ich versuche, das zu verstehen. Und das gelingt mit momentan kaum.
Siniawski: Der deutsch-türkische Journalist und Filmemacher Osman Okkan sagte in unserem Programm, er rechne mit der Flucht vieler intellektueller Künstler und Oppositioneller aus dem Land und er erwartet jetzt vermehrt Asylanträge in Europa. Würden Sie auch so weit gehen? Sehen Sie da Anzeichen?
Erpulat: Ja, allgemein die Stimmung in der Türkei nach diesem Putschversuch, hat Erdogan, hat die Menschen auf die Straßen geworfen und daneben AKP-Wähler und auch viele radikal-islamische, islamistische Mehrheit, also die waren auf den Straßen. Die Stimmung ist so, dass sie gegen alles, unter anderem auch gegen Künstler, gegen Mittelklasse, gegen Andersdenkende, gegen Homosexuelle, gegen Frauen, gegen Vieles auch diese Stimme erheben und auch in diesen Protesten die Kraft finden, weiter ihren radikalen, islamischen Gedanken weiterzuführen. Und daher fühlen sich viele Künstler, auch ich, fühle ich mich bedroht.
Auf dem Taksim-Platz, die Proteste, die Geräusche, die Schüsse in der Luft - angeblich aus Feierlichkeiten - kommen auch durch die Cihangir-Straßen, also wo sich die Künstler meistens befinden, und mit "Allahu Akbar" oder ähnlichen Rufen machen sie diese Viertel unsicher, sagen wir mal. Und da fühlen sich auch viele bedroht, aber auch allgemein ist die Atmosphäre in der Türkei gerade nicht bestens.
"Ich habe eine Art Selbstzensur gemacht"
Siniawski: Es könnte dann ja auch sein, dass Erdogan mit den Gülen-Sympathisanten anfängt und dann andere missliebige Minderheiten im Land an der Reihe sind sozusagen, unter Repression zu kommen. Wie sieht es da zum Beispiel in der Lesben- und Schwulen-Szene aus? Sie sind ja selber schwul. Der Gay Pride in Istanbul wurde von ein paar Wochen nicht genehmigt - aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. Die Aktivisten sahen dies als Verletzung der Rechte an. Im vergangenen Jahr schon gab es Tränengas und Wasserwerfer von der Polizei auf die Teilnehmer. Gibt es in der LGBT-Community auch die Angst vor Repression?
Erpulat: Natürlich, also tatsächlich, auf diesem Taksim-Platz wurde in den letzten Jahren ständig verboten, dass die Schwulen auf die Straßen gehen, dass die Lesben auf die Straßen gehen, aber dass auch zum 1. Mai die Leute da rausgehen. Aber für die AKP-Anhänger wurden die geöffnet, und die durften auch in die Luft schießen und beziehungsweise "Scharia" rufen. Also Erdogan will jetzt ein neues System, das heißt nicht Präsidenten-System, sondern Erdogan-System und dazu gehören die Schwulen definitiv nicht.
Siniawski: Wie ist es bei Ihnen konkret? Sie inszenieren ja auch in der Türkei, gehen als Theatermacher sehr kreativ und frei mit Texten und Vorlagen um, mögen auch Provokationen. Werden Sie sich nun in der Türkei zügeln müssen, also die Dinge nicht mehr so auf die Bühne bringen oder in der Öffentlichkeit darstellen können?
Erpulat: Bei mir ist es so, ich habe zum ersten Mal tatsächlich dieses Jahr im Februar habe ich was inszeniert, hier in der Türkei. Und da merkte ich selber, dass ich während den Proben eine Art Selbstzensur gemacht habe. Nicht, um mich zu schützen, sondern um die Schauspieler zu schützen vielleicht. Allein viel, viel schwieriger ist - und ich werde glaube ich den Weg finden, wie ich weiter Theater mache und weiter sage, was ich sagen möchte.
"Theater eine Kommunikation ist, die jeden Abend neu stattfindet"
Siniawski: Sie machen politisches Theater, nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland, aber "in der Türkei ist die Dosierung etwas anders", das haben Sie mal in einem Interview gesagt. Wie genau gehen Sie mit der Dosierung um, also wo ziehen Sie da genau die Grenze?
Erpulat: Also ich glaube daran, dass Theater eine Kommunikation ist, die jeden Abend neu stattfindet. Für mich ist das Theater nicht, was wir auf der Bühne machen, sondern für mich ist das Theater einfach, was zwischen Bühne und Publikum passiert. Das zündet was an, oder da zündet was nicht an. Und das glaube ich, braucht es auch von der Schauspielerseite, dass sie eine gute Nase haben, was wie viel da Hand in Hand geht. Aber genauso natürlich als Regisseur geben wir eine Grundlage oder geben wir eine Basis, wo ich Schauspielern bestimmte Freiheiten überlasse.
In dieser Kommunikation ist es wichtig zu wissen, mit wem ich spreche und in welchem Ort ich spreche, und da glaube ich, ist es möglich, mit den Leuten einfach zu kommunizieren. Ich will nicht sage: was mitteilen oder was beibringen oder was sagen, es interessiert mich gar nicht. Mich interessiert einfach, dass wir nicht aufhören, weiterzudenken, dass wir nicht aufhören, uns infrage zu stellen, uns selbst vor allem infrage zu stellen. Weil ich glaube, der Schlüssel überhaupt für eine Änderung liegt in uns, in unseren Händen.
Über den Anderen zu schimpfen interessiert mich nicht, was in der Türkei sehr üblich ist im Theaterbereich, oder in Deutschland habe ich das auch gesehen. Aber mich interessiert einfach, dass wir kritisch mit uns weitergehen und weiterdenken. Diese Dosierung findet man jedes Mal durch die Nase als Regisseur, als Schauspieler und als Bühnen- oder Kostümbildner - und das möchte ich weiter fortsetzen. Die Kommunikation einfach nicht abbrechen, sonst haben wir wirklich verloren.
"Was wir gerade erleben, ist leider gar nicht neu"
Siniawski: Letzte Frage an Sie: Wird die Lage in der Türkei in irgendeiner Form Einfluss auf Ihre Theaterarbeit finden, vielleicht auch in Deutschland, wo Sie die Eindrücke ja dann freier verarbeiten können?
Erpulat: Im Maxi-Gorki-Theater bereiten wir schon längst eine Inszenierung vor, deren Texte wir selbst entwickeln. Im November, am 11. November wird sie Premiere haben. Das ist eine Arbeit über die Türkei und heißt "Love it or leave it?". Und natürlich, diese neuen Ereignisse werden da auch einfließen in diese Arbeit.
Wir wollen einfach die Türkei noch mal unter die Lupe nehmen und erst mal sehen, was in der Türkei gerade passiert, aber darüber hinaus, was in der Türkei immer passierte. Was wir gerade erleben, ist ja leider gar nicht neu - und das ist eine Systemfrage beziehungsweise eine systematische, etwas Systematisches sehen wir da drin, was die Türkei alle 10, 20 Jahre erlebt. Und das wollen wir gerne auf die Bühne bringen und das wird im November Premiere machen.
Siniawski: Nurkan Erpulat, zugeschaltet aus Ankara, danke sehr für das Gespräch.
Erpulat: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.