Treffpunkt St.-Pauls-Kirche an einer viel befahrenen Straßenkreuzung im Bezirk Wedding. Trotz des extrem heißen Wetters ist eine Handvoll Besucher gekommen. Eine Frau im gepunkteten Sommerkleid gibt sich als Reiseführerin zu erkennen.
"Guten Tag, herzlich willkommen. Mein Name ist Susanne Chrudina. Ich bin vom Theaterscouting Programm, das vom Performing Arts Programm getragen wird."
Susanne Chrudina ist Theaterregisseurin und Leiterin einer freien Gruppe. Und das ist Konzept: Die Touren werden nicht von Touristenführern durchgeführt, sondern von Künstlern, die die Szene genau kennen.
"Heute benutzen wir die U8 als Transportmittel zwischen Wedding und Kreuzberg. Wir haben das "Arterie der Avantgarde" genannt - das ist natürlich ein charmanter Titel, aber es ist was dran, wenn man Wedding anschaut als einen sehr multikulturellen Stadtteil, wo man sagt, der ist jetzt im Kommen für Künstler und Kreative."
Die Tour verbindet drei Spielorte, die alle an der U-Bahnlinie 8 liegen. Susanne Chrudina will die Vielfalt der freien Szene zeigen. Die erste Station sind die Uferstudios - ein Komplex aus flachen Backsteinbauten am Ufer der Panke. Früher wurden dort Straßenbahnzüge und Busse repariert.
"Der Architekt Jean Krämer, der das gebaut hat, hat viel Funktionsgebäude in Berlin gebaut - unter anderem auch diese Uhr, die am Potsdamer Platz steht, 1924 von ihm. Das war der Stil der Neuen Sachlichkeit, als man sich vom Expressionismus abwandte."
Was nicht heißt, dass man auf Verzierungen völlig verzichtete. Susanne Chrudina zählt architektonische Besonderheiten auf und skizziert die Geschichte der Werkstatthallen. Dann stellt sie eine erste Künstlerin vor: Stefanie Wenner, die in den Uferstudios das Projekt "Mykorrhiza - ein Apparat" leitet.
"Das Projekt ist entstanden aus der Überlegung heraus, was kann eigentlich heutzutage Theater machen, wenn es nicht darum geht zu sagen: die Realität ist schlecht und wir zeigen das auf der Bühne. Wir versuchen, eine andere Art von Wirklichkeit uns vorzustellen und darauf hinzuarbeiten - eine bessere."
Und für diese Wirklichkeit haben die Künstler ein Modell gefunden: Mykorrhiza - das symbiotische Zusammenleben von Pilzen und Pflanzen. In die Kunst übersetzt heißt das, dass sich Künstler verschiedener Disziplinen treffen und ein Netzwerk bilden - ein Myzel, wie Stefanie Wenner sagt.
Eine Pilzkultur im früheren Heizhaus
Doch davon bekommt die Theaterscouting-Gruppe wenig mit. Nur der Raum kann besichtigt werden - das ehemalige Heizhaus der Uferstudios, das von den Künstlern zu einer Pilzbrutstätte umgewandelt wurde. In Schränken und Vitrinen wachsen bunte Pilzkulturen. Die Theaterscouts machen ein paar Fotos und müssen dann weiter zur nächsten Station.
Unterwegs können Fragen gestellt werden. Wie werden freie Theaterproduktionen finanziert?, möchte eine Besucherin wissen. Susanne Chrudina erläutert eines von vielen möglichen Modellen.
"Wenn ich eine Produktion vorhabe mit meiner Company, dann frage ich eine Spielstätte: Können wir das bei euch zeigen? Ich finde, das passt zu euch. Die sagen dann: Ja, das finden wir interessant. Dann schreibt man einen Antrag und blockt eine Zeit in dieser Spielstätte. Aber erst wenn die Förderung entschieden ist, wissen wir, wie der Spielplan aussehen wird."
Gruppen, die eine eigene Spielstätte betreiben, sind in der freien Szene selten. Die Mietkosten sprechen dagegen, ebenso wie der Aufwand, den es bedeuten würde, einen permanenten Spielbetrieb aufrecht zu erhalten. Die Produktionen sind meist nur kurz an einem Ort zu sehen und gehen dann auf Tour. So können Veranstalter, wie die Sophiensäle, mehr als 100 Premieren in einer Spielzeit anbieten.
Auch in den Sophiensälen wird den Theaterscouts zuerst das Gebäude erklärt. Es wurde als Geschäftsstelle eines Handwerkervereins errichtet und später als Fabrik umgebaut - in die Substanz wurde aber nie investiert. Das Haus verfiel und stand leer, als es in den 90er Jahren von freien Künstlern entdeckt wurde. Schon die erste Premiere - das Tanzstück "Allee der Kosmonauten" von Sasha Waltz - machte überregional Schlagzeilen. Das Land Berlin beschloss, das Haus dauerhaft als Spielort für die freie Szene zu sichern. Davon können andere Off-Theater nur träumen
Die Vierte Welt, bei der der Theaterscouting-Rundgang endet, ist akut in ihrer Existenz bedroht, wogegen sich die Künstler zur Wehr setzen. Auch das wird den Besuchern des Theaterscouting-Rundgangs erklärt. Die Gruppe wird mit derart viel Insiderwissen ausgestattet, dass alle Schwellenängste verfliegen.
"Ich kannte die Sophiensäle noch nicht und war beeindruckt vom großen Saal."
"In den Sophiensälen war ich auch schon öfter. Dass ist jetzt eine Möglichkeit über einen anderen Weg mit der Tanzszene in Kontakt zu kommen."
"In den Sophiensälen war ich auch schon öfter. Dass ist jetzt eine Möglichkeit über einen anderen Weg mit der Tanzszene in Kontakt zu kommen."
Das Theaterscouting bringt für alle Beteiligten Gewinn: Die Theater finden neue Zuschauer, die Besucher erfahren, wie sie sich im Dschungel der Berliner freien Szene orientieren können.