Susanne Luerweg: 2015 jährte sich der Völkermord an den Armeniern zum 100. Mal. Nur darf der Völkermord nicht als solcher bezeichnet werden, zumindest nicht, wenn es nach dem türkischen Präsidenten Erdogan geht. Am zweiten Juni will der Bundestag nun genau zu diesem Thema "Völkermord an den Armeniern" eine Resolution verabschieden.
Erdogan warnt schon mal vorsorglich, dass er das nicht gutheißen wird. Genauso wie er nicht mit dem Projekt "Aghet" der Dresdner Sinfoniker einverstanden war, von der EU verlangte, die Werbung für das von ihr finanziell unterstützte Kunstevent zu streichen und genauso wie er gegen Jan Böhmermann und gegen die Satiriker von Extra 3 vorging. Es ließen sich sicher noch viele Dinge finden, die dem türkischen Staatsoberhaupt nicht gefielen. Und es ließen sich vermutlich noch viele Dinge finden, die dem türkischen Staatsoberhaupt nicht gefallen.
Vermutlich gehört auch das morgen aufgeführte Stück "Die 40 Tage des Musa Dagh" dazu. Der armenisch-jüdische Regisseur Nuran David Calis inszeniert es am Münchner Residenztheater. Thema des Stücks, nach einem Buch von Franz Werfel, eben jener von den Türken bis heute verneinte Völkermord an den Armeniern. Und Herrn Calis begrüße ich jetzt in München. Schönen guten Tag!
Nuran David Calis: Ja. Guten Tag.
Luerweg: Herr Calis, gibt es jetzt schon Proteste im Vorfeld?
Calis: Nein. Also wir haben jetzt von der Theaterleitung und auch hier in unserer Arbeit nichts davon gemerkt. Wir konnten in Ruhe künstlerisch arbeiten, das Theater schützt auch diese Produktion. Der Intendant hat sich auch vor die Produktion gestellt und hat auch gesagt, dass wir keinen Millimeter von unserer Wortwahl abweichen und auch nicht irgendetwas in der Inszenierung künstlerisch verändern.
Luerweg: Aber wie inszenieren Sie? Also diese Geschichte, die Resolution am 2. Juni, die muss man ja wirklich mitdenken, wenn man das Stück inszeniert. Bauen Sie das ein?
Calis: Ja, natürlich. Wir benutzen den Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" als Katalysator und versuchen, Themen und Fragen freizusetzen, die eben uns um dieses Thema herum und auch in der Auseinandersetzung mit der Türkei bewegen. Auf der Bühne befinden sich deutsche, türkische und armenische Spieler, die gemeinsam diesen Roman lesen und alle aufkommenden Fragen in einem archäologischen Vorgang nachgehen und versuchen, ans Tageslicht zu bringen.
"Wir verschließen die Augen vor gravierenden Verletzungen der Menschenrechte"
Luerweg: Was sind das für Fragen Ihrer Ansicht nach, die da aufkommen werden?
Calis: Zunächst einmal handelt es sich ja, auch wenn es ein Roman ist, der auf Tatsachenberichten beruht, auch um eine künstlerische Auseinandersetzung an diesem Abend. Also befragen wir auch natürlich unsere Mittel und auch den Apparat, das Theater an sich. Wie geht man mit einem Völkermord um künstlerisch? Was fordert der ein? Was kann man aufbringen? Wo kann man die Dinge zeigen? Und vor allem, wenn man sich einem Roman widmet, der 1915 spielt, müssen wir uns natürlich auch künstlerisch fragen: Was hat das heute noch mit mir und in der Auseinandersetzung der Gesellschaft zu tun?
Und da kommen natürlich ganz stark die politischen Zusammenhänge heute auch ans Tageslicht. Zum Beispiel: Dass wir zugunsten eines politischen Ergebnisses, was wir uns als EU oder als Deutschland von der Türkei wünschen, die Augen verschließen vor gravierenden Verletzungen der Menschenrechte. Und wir müssen ja nur seit Juli die über 5.000 umgekommenen Kurden und auch türkische Menschen vor Augen führen, die in dem Konflikt, in dem Kurdenkonflikt im Osten der Türkei gestorben sind.
Und da müssen wir natürlich auch als Gesellschaft uns fragen, wir brauchen auf der einen Seite natürlich die Türkei, sie ist uns immens wichtig und sie ist auch unser Nachbar. Aber weil sie auch natürlich über drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat und ihnen einen Schutz geboten hat. Aber trotzdem müssen wir auch Dinge benennen, die nicht funktionieren so in unserer Beziehung.
"Die Türkei ist Heimat und Hölle zugleich für mich"
Luerweg: Das deutsch-türkische Verhältnis, das ist heikel, Sie sagen es gerade. Und wenn man jetzt Werfels Buch liest, dann hat man ja so ein bisschen das Gefühl, also "History repeats itself", denn damals war das ja schon so: Wir brauchten die Türken mehr als sie uns und alle Proteste damals, die verpufften, war egal. Ist ja heute wieder so ein bisschen oder?
Calis: Genau und darin ist natürlich die Beschreibung von Werfels Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" unheimlich genau und deckt halt diese Zusammenhänge und diese Wahrheit auf. Und deswegen ist das auch kein Roman, der alt ist und 100 Jahre zurückliegt, sondern in seiner Aktualität und in seinem Brennpunkt eigentlich uns noch viel genauer zeigt, wie verzwickt oder wie ungelöst noch dieser Konflikt zwischen diesen drei Völkern ist.
Weil man muss wissen, dass die Türkei und Deutschland Waffenbrüder waren im Ersten Weltkrieg und Seite an Seite gekämpft haben. Dass über 400 deutsche Soldaten neben dem Sultanspalast auf einem deutschen Friedhof liegen, die in der Schlacht bei den Dardanellen ums Leben gekommen sind, das muss uns alles bewusst sein, wie eng eigentlich die Bände mit der Türkei sind und das ist natürlich auch ein großer Konflikt.
Auch ich liebe dieses Land, die Türkei, über alles. Es ist ein Teil meiner Identität, meine Eltern kommen von daher und meine Großeltern liegen auf dem armenischen Friedhof in Istanbul. Ich fühl mich diesem Land sehr verbunden, aber sie ist Heimat und Hölle zugleich für mich.
Luerweg: Und schon damals, 1933, gab es Proteste des türkischen Botschafters gegen das Buch von Franz Werfel. Also da ist auch so ein bisschen eine Parallele zu sehen.
Calis: Ja natürlich. Also wir müssen uns hüten, in dieser Sache nachgiebig zu sein und zu sagen okay, aufgrund einer bestimmten Sache, die wir von der Türkei einfordern, müssen wir jetzt an diesen Stellen, was die Meinungsfreiheit angeht und die künstlerische Freiheit angeht, da dürfen wir uns nicht hineinmanövrieren lassen.
Und mit dem Aufruf der Dresdner Symphoniker von Marc Sinan und Markus Rindt ist natürlich total deutlich geworden, dass sie in unseren Institutionen auch versuchen, zu diktieren, was Kunst sein darf und was nicht. Und heute sind's die Künstler, die Satiriker und morgen sind's vielleicht die Sender oder die Journalisten und Redaktionsräume. Und da muss man natürlich auch einem Freund und einem Partner wie die Türkei das ist, auch wenn's ein Teil meiner Heimat ist, mit Entschiedenheit sagen, so geht das nicht.
"Es gibt eine große Bewegung in der Türkei, die Aufklärung will"
Luerweg: Sie sagen gerade, das ist ein Teil Ihrer Heimat, Sie sind armenisch-jüdisch. Wie bekannt ist eigentlich noch dieser Roman von Franz Werfel in der armenischen Gemeinde? Hängt der da noch so hoch, wie man im Moment das Gefühl hat? Wird der gelesen?
Calis: Also für die Armenier ist das ein Volksheld. Es gibt sogar in Armenien ein Denkmal von ihm, das ist das armenische Yad Vashem, dort in Jerewan und da ist 'ne Büste von ihm. Und das armenische Volk ist dem Franz Werfel zutiefst verbunden und zu Dank verpflichtet, weil er der Einzige war, der damals das so aufgegriffen hat und denen eine Erzählung gegeben hat, was da passiert ist.
Und es gibt auch eine riesen Bewegung in der Türkei. Ich sag, nach dem Mordanschlag auf Hrant Dink, dem armenischen Journalisten, der in Istanbul erschossen wurde, sind auch eine halbe Millionen Türken aufgestanden und haben alle gerufen: "Wir alle sind Armenier". Es gibt eine große Bewegung in der Türkei, die auch Aufklärung will in dieser Sache, aber es kommen sich dort natürlich die Gesellschaft und die Regierung dort in die Quere bei dieser Aufarbeitung.
Luerweg: Das hat ja schon Werfel gesagt, "nicht alle Türken sind schlecht". Das hat er glaube ich als Randnotiz an seinem Buch gehabt. Aufpassen, dass man nicht die Türken da alle in einen Topf wirft.
Calis: Genau, er hat gesagt: "Nicht gegen die Türken polemisieren". Das hat er gesagt, und das versucht auch dieser Abend. Wir wollen alle Konfliktlinien hineinziehen und auch der türkischen Seite die Chance geben, ihre Sicht der Dinge zu zeigen.
Luerweg: Und es gibt ja auch türkische Künstler, Sie haben es gerade gesagt, wie Fatih Akin beispielsweise, hat einen Film gemacht "The Cut", der sich damit auseinandergesetzt hat mit dem armenischen Völkermord und gestern haben Künstler noch mal einen offenen Brief an Angela Merkel geschickt, wie Christian Petzold und eben auch Mark Sinan und Markus Rindt von den Dresdner Symphonikern und haben gesagt, bitte unbedingt am 2. Juni die Resolution verabschieden.
Calis: Genau. Uns allen liegt ja die Türkei am Herzen. Das darf man nicht vergessen. Aber das bedeutet nicht, dass man über gewisse Dinge hinwegschaut. Ich glaube eine Beziehung wächst viel mehr dadurch, dass man sich auch offen die Meinung sagt und Konflikte miteinander austrägt. Und das, was natürlich die EU damals gemacht hat mit dem Projekt "Aghet", ist natürlich, ich sag jetzt vorsichtig, das war natürlich ein Einknicken und vorauseilender Gehorsam, der so nicht hätte stattfinden dürfen.
"Es gibt einen silbernen Streifen am Horizont"
Luerweg: Ja und unter guten Freunden müsste es ja normalerweise möglich sein, sich mal die Meinung zu sagen. Jetzt ist es so, Herr Calis, Sie mischen sich mit Ihren Stücken immer wieder in die Politik ein. In Köln, da stehen im Moment gleich zwei Stücke von Ihnen auf dem Spielplan, einmal "Glaubenskämpfer", da geht es um die Radikalisierung von jungen Menschen in Richtung Religion und dann noch "Die Lücke", da wird der NSU-Anschlag, das Nagelbombenattentat thematisiert und da hieß es kürzlich mal: "Wir spielen das Stück so lange, bis es ein Urteil gibt in München gegen Frau Zschäpe". Ja, vielleicht sind "Die 40 Tage des Musa Dagh" auch so lange am Residenztheater, bis die, naja gut, nicht bis die Resolution verabschiedet ist, sondern bis man so das Gefühl hat, da ist man auf dem rechten Weg?
Calis: Ja also meine große Hoffnung ist wirklich, dass man eine gemeinsame Erzählung und eine Geschichtsschreibung zwischen diesen drei Ländern findet. Wenn man sich an der Sache zwischen Deutschland und Israel orientiert, in dem die gemeinsame Aufarbeitung funktioniert hat, grenzt das ja schon fast an ein Wunder, dass zwei Völker es so geschafft haben und ich finde, an dem könnten sich Deutschland, Armenien und die Türkei orientieren. Es gibt einen silbernen Streifen am Horizont, auf den müssten wir uns eigentlich alle gemeinsam hinbewegen.
Luerweg: Der Regisseur Nuran David Calis, der gerade am Münchner Residenztheater das Stück "Die 40 Tage des Musa Dagh" inszeniert. Das Stück hat morgen Premiere. Wir wünsche viel Erfolg und, ja, schauen wir mal, was die Zukunft bringt.
Calis: Genau. Ja. Schauen wir.
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