Während der Probenphase habe sich die Stimmung im Land immer mehr der von 1992 angenähert, so Sczilinski. Und auch die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte seien denen von Rostock-Lichtenhagen immer ähnlicher geworden. Das Ensemble sei geschockt über die Nachricht gewesen, dass eine Flüchtlingsunterkunft in Baden-Württemberg, in der Menschen leben, mit einer Handgranate angegriffen wurde.
Gegen Pegida in München demonstriert
Vorbereitet hat sich das junge Ensemble, das zum Teil auch aus semiprofessionellen Schauspielern besteht, auch in der Realität: Als die Pegida-Bewegung in München ihren "Jahrestag" feierte, nahmen die Darsteller und auch Sczilinski an der Gegendemonstration teil. "Für einige war es das erste Mal, sich politisch in der Öffentlichkeit zu positionieren," sagte Sczilinski. Mit Sprechchören habe man gegen Pegida angesungen. Dabei hätten die Darsteller gemerkt, welche Macht man haben kann, wenn man mit einer Masse loszieht. "Das hat viel in ihren Köpfen gemacht."
Christoph Heinemann: Über den "Prolog zur Unmenschlichkeit" hat Heribert Prantl in dieser Woche in der "Süddeutschen Zeitung" geschrieben im Zusammenhang mit schießwütigen AfD-Spitzenpolitikerinnen. Vielleicht muss man diesen Prolog Jahrzehnte zurückdatieren: 1992, Rostock-Lichtenhagen und viele andere Städte im Osten und im Westen. Wie augenscheinlich normale Menschen auf einmal die Sau rauslassen, davon handelt der Film "Wir sind jung, wir sind stark", eben über die Ereignisse von Rostock. Dieser Film kommt jetzt in München auf die Bühne, im Marstall, mit dem sogenannten Jungen Resi des Residenztheaters der bayrischen Landeshauptstadt. Das Junge Resi möchte Kinder und Familien für das Theater begeistern, genauso Jugendliche und junge Erwachsene, etwa auch indem sie mitspielen. Rostock 1992, Villingen und viele andere Orte, 2016, wenige Theateraufführungen sind so aktuell wie "Wir sind jung, wir sind stark". Indirekt hat sogar die Erfahrung mit Pegida diese Inszenierung geprägt. Das erzählt gleich Anja Sczilinski, die Leiterin des Jungen Resi und Regisseurin des Stückes, dessen Premiere heute Abend über die Bühne geht. Ich habe sie vor dieser Sendung gefragt, was sie an diesem Stoff reizt!
Anja Sczilinski: Der Stoff ist wahnsinnig aktuell. Also, wir haben uns entschieden im Februar letzten Jahres, das machen zu wollen. Und im Verlauf des Sommers ist dieser Stoff natürlich hochaktuell geworden, noch aktueller denn je. Und es war im Januar letzten Jahres Beginn der Pegida in München, die Stimmungen, die 92 vor diesem Haus waren, und die Haltungen derer, die dort waren, waren so nah an den Haltungen derer, die bei Pegida sind. Und in dem Moment war die Entscheidung da, das ist jetzt notwendig, so etwas zu tun.
Heinemann: Das heißt, jetzt im Februar 2016 erkennen Sie den August 1992 wieder?
Sczilinski: Ganz genau.
Wie werden Menschen zu Monstern?
Heinemann: Jetzt hatten Sie die Aufgabe, junge Schauspieler in diese Rolle hineinzubringen. Wie haben Sie diese Menschen dazu gebracht, für die Dauer dieses Stückes leidenschaftlich zu hassen oder diesen Hass auf die Bühne zu bringen?
Sczilinski: Ich würde gerne noch mal sagen, es sind junge Darsteller, die nicht alle Profis sind. Ich würde sagen, Semiprofi. Und wir haben Schauspieler aus unserem Ensemble des Residenztheaters und diese spielen gemeinsam dieses Stück. Die Täter rücken in den Mittelpunkt dieses Stückes, da fingen wir erst mal an zu schauen, was ist eigentlich gewesen 92? Es war Wendezeit, es gab unglaublich viel Umstrukturierung und Ähnliches und es gab sehr viel Orientierungslosigkeit. Und die Schulsysteme wurden anders, die Inhalte der Schulen wurden anders, die Werte verflogen und hatten nicht mehr ihre Möglichkeiten wie zuvor, viele Elternhäuser brachen zusammen und auch die Jugendlichen hatten keinen Weg für ihre eigene Zukunft. Und auch zu schauen, nicht nur zu hassen, sondern auch zu schauen, wie kommen diese jungen Menschen in diese Situation und warum passiert das? Ganz viele sind von Anfang an nicht diese Monster, wie man erst mal denkt. Das sind Menschen, das sind Jugendliche, die da reingeraten.
Heinemann: Aber wie werden Menschen zu Monstern?
Sczilinski: Diese Energie, die da passiert, ist ganz viel, dass die Freundschaften, die es dort gibt unter den Jugendlichen, dass das keine ehrlichen, wirklichen Freundschaften sind, dass es ein sehr unsoziales Verhalten zwischen denen gibt, dass die Schwächeren auch sehr gedisst werden und ...
Heinemann: "Gedisst" heißt ausgegrenzt?
Sczilinski: Die ausgegrenzt werden, ganz genau, die an den Rand geraten. Und irgendwie will man dabei sein und braucht irgendwie auch aus dem Alleinsein heraus eine Gruppe, wo man dazugehört. Und diese Gruppe, ich würde es mal falsche Freunde nennen, die einen dann in die falsche Richtung bringen. Und zu diesem Zeitpunkt, wo der Stefan zu Beginn des Stückes steht, würde ich sagen, wenn er andere Freunde gefunden hätte, wäre die Geschichte für ihn eine andere geworden.
Orientierungslos in der Masse
Heinemann: Und welche Entwicklung findet statt, bis sich zum Beispiel Stefan traut, die letzten zivilisatorischen Grenzen zu überschreiten und eben Feuer zu legen oder einen Molotowcocktail zu werfen?
Sczilinski: In diesem ganz konkreten Fall gibt es die nicht vorhandene Mutter, einen Vater, der nicht fähig ist, dem Kind das zu bieten, was er braucht, weil er auch überfordert ist in der Politik mit all den Dingen, die auf ihm lasten, einen Freund, den er verliert, der sich selbst umbringt, und etwas, was in der Freundschaft passiert, mit denen, mit denen er zusammen ist, die ihn sozusagen radikalisieren. Und in diesem Moment, wenn er zuschlägt, ist es auch die Masse, die passiert, die Masse, die das hochpushen lässt. Er würde es von seiner Grundbesinnung eine ganz lange Strecke nicht tun, und ganz am Ende verliert man die Orientierung und ist in einer Masse drin, und die Masse besteht nicht nur aus den Jugendlichen, die randalieren, sondern auch von denen - und das waren damals sehr viele -, die draußen stehen und schauen und Applaus geben und das Ganze noch unterstützen und die plötzlich so wertvoll machen diese Jugendlichen, sie etwas bekommen, was sie an Aufmerksamkeit sonst nie bekommen, und das plötzlich sich zusammenträgt, und wo es explodiert.
Heinemann: Was bewegt eigentlich die Jugendlichen, zum Beispiel diesen Stefan, in diesem Stück mitzuspielen?
Sczilinski: Wir haben zu Beginn oder nachdem sich alle angemeldet hatten, wir hatten insgesamt 86 Anmeldungen, die bei dem Stück mitmachen wollten, und hatten Castings, wobei man diese Castings jetzt nicht als Castings verstehen soll, sondern das sind so workshop-ähnliche Arbeitsprozesse, um sie kennenzulernen. Und alle hatten auch zu Beginn eine Art von Motivationsschreiben oder Nennung oder Erzählen im Gespräch, warum sie mitmachen wollen. Und mich interessierte schon auch, wo sie stehen und wo sie politisch stehen und was sie an dieser Geschichte interessiert. Also, diese Menschen, die mitmachen, sind politisch alle auf der anderen Seite, da ist niemand dabei, der aus Überzeugung dieses Stück macht, weil er es gut findet, was passiert. Und sie wollten aktiv auch was tun, sie wollten sich politisch zeigen und wollen auch Gesicht zeigen. Und das tun sie, wenn sie an diesem Stück mitmachen, sehr.
Heinemann: Gibt es da auch persönliche Bezüge?
Sczilinski: Also, wir haben ja die Jugendlichen, die eher die rechte Liga spielen oder die hineinrutschen, und es gibt aber auch die, die auf der Bühne die nicht deutscher Herkunft spielen. Und die sind wirklich nicht deutscher Herkunft. Wir haben viele Nationalitäten in diesem Projekt und teilweise spiegeln sich die Geschichten ihrer Mütter in den Figuren wider. Das heißt, es gibt eine junge Frau, die ist damals 92 selbst zu diesem Zeitpunkt, als es passierte, im Mutterleib gewesen in einem Aufnahmelager.
Heinemann: Stichwort nicht-deutscher Herkunft: Es gibt ja auch den anderen Mob, den, der sich an Silvester ausgetobt hat, kriminelle Energie gepaart mit einer hoffnungslos verklemmten Sexualität. Könnten Sie sich vorstellen, auch solche Straftaten mal auf die Bühne zu bringen?
Sczilinski: Grundsätzlich interessiert dahinter ja immer: Wieso kommt es dazu? Also auch, weil Sie mich vorhin fragten: das Hassen. Wir im Theater fangen erst mal an, diese Figuren ganz neutral zu sehen. Wenn ich anfange als Regisseurin, die schon nicht zu mögen, was ich privat tue, aber in dem Moment als Regisseurin muss ich sie erst mal ernst nehmen, sonst werden sie Karikaturen. Und in dem Moment fängt man an zu forschen, warum wird jemand dies? Und das wäre in dem Fall, wenn es um das geht, um Silvester, würde genau diese Arbeit stattfinden vorher: Wieso passieren diese Dinge? Man befragt unglaublich viel dahinter. Und in dem Zusammenhang interessiert natürlich auch solch ein Vorgang.
Heinemann: Haben sich die Schauspieler, vor allen Dingen die Nichtprofis verändert während der Arbeiten?
Sczilinski: Sie haben sich auf jeden Fall verändert. Also, sie wissen, was sie tun auf der Bühne und dass das wahnsinnig wichtig und sehr aktuell ist. Und es war ja genau in unserer Probenphase der Jahrestag von Pegida in München. Und da hat die Pegida München einen sogenannten Jahrestag ausgerufen, was wir furchtbar fanden. Und sind auch alle als gesamtes Ensemble dorthin gegangen. Und ich glaube, für einige war es das erste Mal, so politisch wirklich in der Öffentlichkeit Stellung zu beziehen und sich zu verhalten. Und sind mit diesen Sprechchören, die wir ja eigentlich erst mal negativ und rechts haben, die haben sich verwandelt und waren sehr erfinderisch ... Also, wir arbeiten sehr viel mit Chören auch, um diese Masse und diese Kraft zu erzählen. Und die haben sich verändert und sie haben sie auf der Straße ins Gegenteil gegen diese Pegida benutzt und merkten plötzlich, was das wirklich in der Realität für eine Kraft hat, wenn man als Masse zusammen loszieht und nach draußen geht und etwas will.
Heinemann: Und das haben die wahrscheinlich dann anschließend auch bei den Proben gespürt, diese Erfahrung?
Sczilinski: Das war für mich ein ganz tolles Erlebnis, weil das ganz viel in ihren Köpfen gemacht hat und die nicht nur etwas erzählt bekommen. Sie wussten und spürten und fühlten auch, was sie tun.
Heinemann: Frau Sczilinski, welche Wirkung möchten Sie mit diesem Stück erzielen?
Sczilinski: Als Erstes interessiert mich natürlich erst mal die Geschichte, zu erzählen, das ist passiert 92. Und wir wollen als Theater auch nicht, dass diese Geschichte sich wiederholt, so wie sie damals passiert ist. Es gab ja 173 Anschläge 2015, also Feueranschläge auf Asylheime. Und bis dato waren da keine Menschen drin. 92 war das so. Mittlerweile, jetzt wirklich kurz, ganz aktuell ist es hier passiert, dass dann doch Handgranaten in belebte Häuser geworfen werden, und in dem Moment ...
Heinemann: Also, ich kenne einen Fall in Villingen.
Sczilinski: Den meine ich, genau.
Heinemann: Ja, das war eine Handgranate, die glaube ich vor dem Haus deponiert oder hingeworfen wurde ...
Sczilinski: Und wenn sie explodiert wäre, hätte es Opfer gekostet.
Heinemann: Mit Sicherheit.
Sczilinski: Und da ist sozusagen ... Also, im Verlauf der Proben merkten wir, die Anschläge werden immer aggressiver und nähern sich dem, was in der Geschichte bereits passiert ist. Und es ist ein großer Wunsch, dass das nicht wieder passiert. Und wenn man da drin ist und das sieht, will man es auch hoffentlich, dass es nie wieder passiert, weil es furchtbar ist. Es hat uns sehr geschockt, dass jetzt der Schritt eigentlich schon passiert ist, dass es weitergeht.
Heinemann: Kann das Theater das humane Immunsystem stärken?
Sczilinski: Ich hoffe und denke, dass das möglich ist. Erstens regt es zum Gespräch an, zur Auseinandersetzung, für alle, die mitmachen auf jeden Fall, weil, Theater selbst spielen für die Jugendlichen, das stärkt Selbstbewusstsein. Und wenn man selbstbewusst über Geschichte, Politik nachdenkt, bildet man eine eigene Meinung und lässt sich nicht von Dingen verblenden und mitreißen, sondern positioniert sich selbst.
Heinemann: Anja Sczilinski, die Leiterin des Jungen Resi, Residenztheater München. Heute Abend Premiere im Marstall des Stücks "Wir sind jung, wir sind stark". Wie sagt man bei Ihnen? Toi, toi, toi?
Sczilinski: Ganz genau!
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