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Theaterwissenschaftler als Popstar

Dass ein deutscher Theatertheoretiker wie ein Popstar gefeiert wird, ist etwas Außergewöhnliches. Hans-Thies Lehmann heißt er und hat 1999 sein Opus Magnum über "Postdramatisches Theater" veröffentlicht. Und nun weilt er in Südamerika und wird dort begeistert aufgenommen.

Von Michael Laages |
    Er staunt ja manchmal selber; und denkt darüber nach, warum das Zauberwort von der "Postdramatik", vor immerhin bald eineinhalb Jahrzehnten von ihm kreiert, so offenkundig als Schlüsselbegriff taugt für das wachsende künstlerische Selbstbewusstsein seiner Gastgeber.

    Klar: Hans-Thies Lehmann war oft vor Ort und hat speziell mit Brechtstudien beigetragen zur zeitgenössischen Auseinandersetzung über dessen Werk, das in Brasilien noch immer die Wahrnehmung des Theaters aus Deutschland überhaupt prägt; kein Theaterjahr hier ohne ganz viel Brecht, ohne "Mann ist Mann", den "Guten Menschen von Sezuan" oder (wie dieser Tage gerade) "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe".

    Auch am Beginn der Vortragsreise spricht Lehmann jetzt in Sao Paulo (anlässlich einer deutsch-brasilianischen Koproduktion durch die "andcompany" aus Berlin) über Brechts "Fatzer"-Fragment, dieses Experimentierlabor aus unendlich vielen Theatersprachen, das er in der Bedeutung gleich neben Hölderlin ansiedelt. So weit jenseits von den Konventionen des Dramas übrigens siedelt hier Brecht, das fast schon Lehmanns weiter Begriff vom "postdramatischen" Theater passt.

    Aber jenseits dieser eher akademischen Bedeutungsebene öffnet Lehmann in Brasilien ganz andere Türen – postdramatisches ist hier vor allem posteuropäisches Theater.

    Von der Enge Europas hin zum Theater der Welt, den unendlich vielen Welten des Theaters. Und mit dieser Ent-Kanonisierung der Theater-Begriffe wird Hans-Thies Lehmann in Brasilien plötzlich zum Sprachrohr der jüngeren Moderne – denn es ist ja noch gar nicht so lange her, dass sich die Theatermacherinnen und -macher vor Ort von den europäischen Vorbildern zu verabschieden begannen.

    Kultureller Kolonialismus, unter europäischer Hegemonie in den konventionelleren Künsten und unter anglo-amerikanischer in den elektronischen, in Pop- und Film-Kultur, prägt bis heute (und angesichts immer enger vernetzter Märkte stärker denn je) den überwiegenden Teil brasilianischer Alltagskultur; zudem fehlt ja (was speziell das Theater betrifft) jene politisch in Deutschland noch immer akzeptierte Produktionsstruktur von Stadt- und Staatstheatern, die zwar als "Apparat" künstlerisch oft ziemlich hinderlich sein kann, zugleich aber auch den nötigen Schutzraum bieten kann, um "das Eigene" gegen die Übermacht der Kolonisatoren behaupten zu können.

    Wer dagegen in Brasilien Theater spielt, ist quasi automatisch eine "freie Gruppe" und kann nur in günstigsten Fällen auf öffentliche Unterstützung hoffen – und auch für diese Ausgangslage sind Lehmanns "postdramatische" Überlegungen immer von Belang – denn er setzt ja auf die "Ent-Hierarchisierung" der Theaterstrukturen, und darauf, dass alle Sounds und Stile "auf Augenhöhe" in Beziehung miteinander treten.

    Wie grenzenlos Theater weit weg von zu Hause noch immer "in die Breite" geht, hat Hans-Thies Lehmann noch vor Beginn der Vortragsreihe auf einem Platz in Sao Paulo erlebt: beim Straßentheater für jedermann. Ein Sofa, ein Lautsprecher, ein paar Requisiten – das genügt. Und ständig fahren Autos über die Bühne. Das Stück ist, gewürzt mit reichlich Lehrstück-Brecht über Gangster, große Ziele und menschliche Opfer, eine schrille, grelle Telenovela. So weit reißt sie die Klappe auf, als wolle sie die ganze laute Stadt übertönen – ein tolles Fundstück mehr für den Theater-Kosmos des Hans-Thies Lehmann.