Stefan Heinlein: Nach dem Wahlkampf haben die Parteien inzwischen den Schützengraben verlassen. Nun treffen sich Union, FDP und die Grünen am Verhandlungstisch, um möglichst rasch eine neue Koalition unter Dach und Fach zu bekommen. Spätestens unter dem Weihnachtsbaum Mitte Dezember sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein. Auf diesen Zeitplan hat man sich weitgehend verständigt. Allerdings ist es noch ein weiter Weg nach Jamaika. Und über die große Runde wollen wir jetzt sprechen mit dem Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt. Guten Tag, Herr Patzelt!
Werner Patzelt: Guten Tag!
Heinlein: Cem Özdemir und Andreas Scheuer, Christian Lindner und Barbara Roth, das waren ja lange Jahre politische Gegner. Man hat sich beharkt, man hat sich bekämpft öffentlich und zuletzt auch im Wahlkampf. Vielleicht kommen jetzt diese Akteure wieder aus den Schützengräben.
Patzelt: Sie kommen aus den Schützengräben, weil das Wahlergebnis sie dazu veranlasst. Keiner, der bei Sinnen ist, kann endlose Koalitionsverhandlungen und dann den haarigen Weg hin zu Neuwahlen wünschen, und folglich haben nun alle begriffen, dass es Zeit ist, aus jener Phase herauszutreten, in der man bei Meinungsverschiedenheiten schnell mit Vorwürfen und überschießenden Formulierungen bei der Hand war, sondern dass man entdeckt, wo man doch Schnittstellen hat, die man ausbauen kann und wo man einfach unterschiedliche Sichtweisen und Präferenzen wechselseitig zu akzeptieren lernt, wenn halt nur unterm Strich jeder das bekommt, was ihm ganz besonders wichtig ist.
Jamaika - "Alle sind zum Erfolg verurteilt"
Heinlein: Herr Patzelt, über diese Schnittstellen müssen wir gleich noch sprechen. Zunächst einmal, ich verstehe Sie richtig: Alle Seiten sind zum Erfolg verdammt, weil es ja so richtig keine Alternative gibt zu Jamaika.
Patzelt: Das ist genau die strategische Lage. Selbst wenn die SPD sich nicht verweigern würde, wäre dem Land ja wirklich nicht gedient, wenn es zu einer weiteren Großen Koalition käme mit weiterem Ausfransen insbesondere am rechten Rand. Infolge dessen sind alle zum Erfolg verurteilt, und man sieht wiederum das am Werk, was man nennt: die disziplinierende Kraft eines parlamentarischen Regierungssystems, und die hat noch so manche politische Unvernunft im Lauf von Jahrzehnten abgeschliffen.
Heinlein: Ist das grundsätzlich, aus Ihrer Sicht eines Politikwissenschaftlers, ein gutes Zeichen für unsere Demokratie, dass es einen politischen Grundkonsens offenbar gibt zwischen den Parteien trotz aller Unterschiede, dass man zusammenfindet in einer solchen Koalition, in einer solchen Koalition aus drei oder vier Parteien?
Patzelt: Ja, natürlich ist das ein gutes Zeichen für unsere Demokratie, und sollten endlich FDP und Grüne, die lange Zeit sich verhalten haben wie Hund und Katze, ob dann vielleicht auch noch FDP und CSU und gar die Grünen und die CSU zu einem friedlichen politischen Wettstreit ohne rhetorischen Überbietungswettbewerb übler Art gelangen, wenn das gelingt, dann ist unserer deutschen politischen Kultur ein gigantischer Dienst erwiesen, und manches, was an unnötiger, steriler Aufgeregtheit in den Talkshows der Nation in den letzten Jahren zu besichtigen war, das kann einer vernünftigen, rationalen Diskussion realer Probleme weichen, und damit wäre unserem Lande sehr gedient.
Integration - Mehr als Formelkompromisse nötig
Heinlein: Sie haben vorhin den politischen Rand angesprochen, den rechten Rand. Wenn jetzt CSU und Grüne gemeinsam ins politische Bett steigen, wie groß ist dann die Gefahr, dass dieser politische Rand gestärkt wird, weil viele sagen, die stecken ja ohnehin alle unter einer Decke, diese Systemparteien, wie es ja heißt von der AfD unter anderem?
Patzelt: Das hängt davon ab, wie mit jenem gigantischen weißen Elefanten umgegangen wird, der seit langer Zeit in sämtlichen Dienststuben und Parlamenten und Kabinettssitzungssälen der Republik sein Wesen treibt, nämlich wie mit der Einwanderungsfrage und der Integrationsfrage umgegangen wird, wohinter die Frage danach steht, welches die Deutschen zu ihrem Land und zu dessen Kultur einzunehmen bereit sind. Wenn es gelingt, im Bereich der Zuwanderung und der Integrationspolitik einen Kurs zu verfolgen, von dem die meisten Deutschen nicht den Eindruck haben, das führe zu einer gewissen Überforderung des Landes, dann muss man sich um das weitere Anwachsen des rechten Randes keine Sorge machen. Wenn aber hier lediglich Formelkompromisse geschmiedet würden, hinter denen jenes Migrationsgeschehen ohne vernünftige Integration weitergeht, das uns in diese innerpolitische Krise geführt hat, dann wird freilich gerade eine Jamaika-Koalition den rechten Rand weiter stärken, und genau das macht die Koalitionsverhandlungen auch sehr schwierig, denn die CSU weiß, dass von dem, was in Migrations- und Integrationsfragen im Koalitionsvertrag drinnen steht, ihr politisches Schicksal in Bayern abhängt.
Integration - Massive Differenzen zwischen Grünen und CDU/CSU
Heinlein: Und damit sind wir bei den Schnittstellen, die Sie vorhin angesprochen haben, Herr Patzelt. Ist dieser Block Flüchtlinge, Zuwanderungspolitik, ist das der dickste Brocken in den Koalitionsverhandlungen? Ist man dort am weitesten, am stärksten auseinander?
Patzelt: Das scheint mir der dickste Brocken zu sein, weil es hier ja um einerseits die Identität von Parteien geht. Wenn eine Partei wie die Grüne-Partei lange Zeit den Wandel Deutschlands zu einer multikulturellen Gesellschaft sich auf die Fahnen geschrieben hat, wo nichts weiter zusammenhalten könne als das Grundgesetz und die leidlich beherrschte deutsche Umgangssprache, dann ist das sehr weit von dem entfernt, was in weiten Kreisen der CDU und der CSU als normal gilt für eine Art deutscher Identität und Zukunft dieses Landes. Das ist tatsächlich der dickste Brocken, weil das eben in emotionale Tiefenschichten hineinreicht und obendrein ein real ganz wichtiges Problem ist. Man muss nur auf die Zahlen gucken, die angeben, wie stark denn das Migrationsthema und der Zustrom von Geflüchteten die deutschen Haushalte und den deutschen Sozialkasten belastet und in der Zukunft belasten wird, um zu erkennen, dass die Rede vom Elefanten nicht nur metaphorisch, sondern auch finanzpolitisch ganz angemessen ist.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Mittag Werner Patzelt von der TU Dresden. Ganz herzlichen Dank, Herr Patzelt, für das Gespräch, und ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!
Patzelt: Danke, Ihnen auch!
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