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Themenreihe: Muss Literatur politisch sein?
Die bestehende Ordnung der Dinge stören

Wie politisch soll oder darf Literatur sein? Diese schon immer umstrittene Frage ist heute wieder aktuell. Sasha Salzmann reflektiert ihre eigene Rolle im Literaturbetrieb und äußert den Verdacht, nicht autochthon deutsche Autoren und Autorinnen seien bloß "die Würze in der Betriebssuppe".

Von Sasha Salzmann |
Die Autorin Sasha Marianna Salzmann, aufgenommen am 09.10.2017 am Rande der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2017 im Römer in Frankfurt am Main (Hessen). Zum 13. Mal wird die Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres vergeben. Der Preis ist mit insgesamt 37 500 Euro dotiert. Foto: Arne Dedert/dpa ++
Sasha Salzmann schreibt Theaterstücke, Essays und Romane (dpa)

1. Phantasmen der Anderen

Es ist erfreulich zu sehen, wie viele Namen, die nicht autochton deutsch oder weiß scheinen, Einzug in die deutschsprachige Literaturwelt halten. Dass diese Namen auf Bestsellerlisten stehen und bei Preisvergaben genannt werden, lässt den Eindruck entstehen, nun sei die Literaturbranche also diversifiziert, die Bücherlandschaft bilde die um sie herum stattfindende Realität ab, und die Deutungshoheit läge nicht mehr in der Hand der wenigen Protagonisten, die schon seit Jahrhunderten immer nur zu weißen Männern sprechen. Was aber sind die Bedingungen für die neuen Zuzügler*innen, in einen Raum einzutreten, der ihre Anwesenheit als ein Novum begreift?
Seit geraumer Zeit fällt mir auf, dass die Buchpremieren oder -vorstellungen bzw. die Lesungen einiger meiner Kolleginnen in ethnisch definierten Räumen stattfinden. Ihre Verlage oder die Veranstalter bieten ihnen das, so höre ich, ohne weitere Erklärungen an. Wahrscheinlich meint man, es sorge beim Publikum für gute Stimmung, wenn zwischen den Lese- und Gesprächspassagen Borschtsch gelöffelt werden kann. Als ich bei einer solchen Veranstaltung eine Autorin moderierte, kam ich aus dem Staunen nicht heraus: Das Licht war schummrig, in der Gastwirtschaft mit dem Namen "Doma" wurde ein Drei-Gänge-Menü aus traditionellen russischen Speisen serviert, dazwischen sollten die Debütantin und ich über ihr Buch sprechen. (Falls Sie sich das nicht ohnehin schon gedacht haben: Autorin und Moderator kommen beide aus der ehemaligen Sowjetunion.)

Ein Missverständnis

Ich kenne das Lokal sehr gut, ich habe einige meiner Geburtstage dort gefeiert. "Doma" heißt auf Russisch "Zuhause", und vielleicht veranschaulicht der Name der Gastwirtschaft bereits das Missverständnis, das vorliegt: Bei einer Buchpräsentation sind wir nicht bei einem privaten Get-together, Zuhause, wir sind auf der Bühne. Es ist im Grunde das genaue Gegenteil einer Geburtstagsfeier, zu der man nur die Familie, seine Liebsten und Freunde einlädt. Bittet man Kritiker*innen und Buchhändler*innen, fremde Menschen also, zu einer öffentlichen Veranstaltung in ein Restaurant mit russischem Namen und russischer Küche, beeinflusst das den Leseeindruck: Es rassifiziert den Text – und es prägt den Blick auf den Körper, der das Geschriebene vorträgt.
Über einen ähnlichen Abend berichtete mir eine Kollegin, die in einem Restaurant namens Bosporus las. Bei der Marketing-Veranstaltung für ihr Romandebut wurde Humus gereicht. In dieselbe Kategorie Rassifizierung fällt die Überschrift der Besprechung einer weiteren Buchpremiere: "Büchertisch mit Samowar". Und des Öfteren schon wurde ich zu Interviews in das Café des Jüdischen Museums gebeten; auf meine Nachfrage, warum wir uns ausgerechnet dort treffen sollten, kam die Gegenfrage, ob ich nicht ohnehin gerne dort sei.

Die Würze in der Betriebssuppe

Die Inszenierung des Raums ist maßgeblich für die Bedingungen des Miteinandersprechens, für die Art, wie ich vor mein Publikum trete und dieses Publikum mich empfängt und meine Arbeit wahrnimmt. Ob ich meinen Roman im Literaturhaus bzw. den eigens dafür geschaffenen Räumen eines Verlagsgebäudes vorstelle oder gebeten werde, in Kneipen mit fremdklingendem Namen vorzulesen, während die anderen essen, veranschaulicht, wer wozu geladen ist: Die einen machen Kunst, die anderen sind die Würze in der Betriebssuppe. Sie bleiben Objekte. Dekoration, mit der sich eine herrschende Norm ausstaffiert.
Es sind nicht einzelne Leser*innen, die entscheiden, dass Menschen mit Vibrationshintergrund, Migrationsvordergrund, dass Mehrsprachige, Aus-der-Reihe-Tanzende, Queere … eine Modeerscheinung sind. Es ist das Klima, in das sie geholt werden, das sie dazu macht. Und Klima macht bekanntlich niemand allein.

Eine "authentische" Atmosphäre

Ich vermute, dass die übereifrigen Regisseure unserer öffentlichen Auftritte – würde man sie mit der Problematik ihrer Konzepte konfrontieren – behaupten würden, es ginge um Authentizität. Man versuche, eine "authentische" Atmosphäre herzustellen, ein "authentisches Bild" zu liefern, was wiederum das Interesse steigere und in der Folge den Verkauf befördere. Wenn, mit Michel Foucault gesprochen, authentisch sein imperfekt sein bedeutet, dann heißt der Ruf nach Authentizität: "Hab Fehler, sei eine Abweichung." Und wenn man sich die Inszenierung von rassifizierten Körpern anschaut, könnte man weiter schlussfolgern: "Und ich bestimme, wie diese Abweichung aussieht." Die Kunst- und Kulturindustrie bedient sich kollektiver Phantasmen, um das Produkt, das sie produziert und präsentiert, anzupreisen. Sie hat genügend illusionsraubender Erkenntnisse der Marktforschung vorliegen, um zu wissen, was sich auf welche Art anbieten lässt.
Welchem Authentizitätszwang gegenüber der Leserschaft müssen erst die Romanfiguren solcher Autor*innen standhalten? Gegen welche Phantasmen müssen sie sich behaupten? Und wie entgeht man dem Vorwurf, "unauthentisch" zu sein, wenn man versucht, das vorgefertigte Bild von Menschengruppen künstlerisch zu unterlaufen, bewegt man sich doch zwischen denen, die die Deutungshoheit über die Welt immer schon für sich beanspruchten, und jenen, die an den Marginalien der Gesellschaft ihre Erfahrung sammeln und sich selten glaubwürdig repräsentiert sehen. Beide Leserschaften erheben Ansprüche, die einen Druck erzeugen, von dem sich freizumachen, illusorisch ist. Denn Autor*innen sind nicht nur Objekt von Phantasmen, sie bedienen sich auch solcher, um anschlussfähig zu bleiben. Je mehr sie sich auf das Spiel mit den Erwartungen einer Mehrheitsgesellschaft einlassen, desto mehr Publikum haben sie. Und Autor*in wollen verstanden werden, darum sprechen sie.

2. Kitsch und Phantasma

Phantasma bedeutet im Altgriechischen die Vorstellung, die man sich von Dingen macht. In der Psychoanalyse, so könnte man verkürzt sagen, ist das Phantasma konstitutiv für die menschliche Psyche, es hat die Funktion eines Abwehrmechanismus – im Phantasma werden Erfahrungen bildhaft umgedeutet. Judith Butler spricht von "komplexen unbewussten Objektbeziehungen", von "unbewussten Neigungen, die Bildform annehmen und uns in ein Spannungsverhältnis zu uns selbst versetzen oder uns in verschiedene Richtungen gleichzeitig treiben und gegen die eine narzisstische Verteidigung aufgebaut wird". Ein Phantasma ist ein Filter zwischen dem gereizten Subjekt und seiner Außenwelt.
Oft genug haben wir es mit kollektiven Phantasmen zu tun. "Unbewusste Neigungen" und "narzisstische Verteidigung" können identitätsstiftend wirken. Schwört sich eine Gruppe auf eine bestimmte Version der Gegebenheiten (oder der Geschichte) ein, und sei sie noch so abwegig und auch nicht belegbar, kreiert sie eine emotionale Gemeinschaft.

Eine Form der Abwehr

Mir scheint es beim Nachdenken über Phantasmen wichtig, im Blick zu behalten, dass es sich dabei um eine Form von Abwehr handelt. Man bäumt sich auf gegen jemanden oder gegen etwas, wehrt jemanden oder etwas ab; man entwickelt ausdrücklich keine Vision davon, wie die Welt anders oder anders besser sein könnte. Man gibt unterschwelligen Neigungen nach, kommuniziert sie in doppeldeutigen Wünschen und erhebt Forderungen. Und diese werden besonders sichtbar in den Inszenierungen derjenigen, die als die Anderen konstruiert werden: Man könnte doch diese junge Autorin in ein schummriges Licht setzen. Was verbirgt sich eigentlich unter dem Kopftuch? Wie schmeckt schwarze Haut? All das sind Ausdrucksformen unterdrückter Wünsche. Hier wird eine in der narzisstischen Kränkung, womöglich im Minderwertigkeitsgefühl geborene Angst deutlich, die das Gegenüber zur Schablone, zur Karikatur macht.
"Ich fühle mich klein, machtlos und unbedeutend, und Juden regieren die Welt", ist ein gängiges Phantasma. "Ich bin eigentlich stark, aber werde (von Frauen) meiner männlichen Kräfte beraubt", ist ein anderes. "Ich habe nichts gegen Schwule in Clubs, ich will nur nicht, dass sie mich betatschen." … Die Liste solcher Beispiele ist lang und definiert unter anderem, wer in dem Narrativ von Angriff und Verteidigung sich als die Norm etabliert und wer als Aggressor*in konstruiert wird.
In der Literatur bewegt man sich in einem Koordinatenfeld von Phantasmen. Ein mehrheitstauglicher Text spielt mit seinen Themen auf der emotionalen Klaviatur einer kollektiven Psyche. Den dramaturgischen Bogen, nach dem Menschen verlangen, wenn sie auf eine fiktionale emotionale Reise gehen, kann man sich von der entsprechenden Fachliteratur erläutern lassen. Und längst liefern die Daten und Metadaten unseres Kauf- und Leseverhaltens die nötigen Informationen, welche Zutaten ein Werk benötigt, wann welcher Reiz ausgeübt werden muss, um bei einer breiten Öffentlichkeit Zustimmung zu erfahren.

Grausamer Kitsch

Dass ein Buch in Deutschland im Jahr 2019 den vierten Platz auf der Bestsellerliste einnehmen konnte, in dem im Stil eines besseren Schulaufsatzes davon berichtet wird, wie eine Jüdin, ein Berliner Aktmodell, mit den Nazis kollaboriert, während der Ich-Erzähler – ein Schweizer (ein vorgeblich Neutraler also) – einfach nur "mit ihr tanzen will", sagt viel über die Psyche dieses Landes aus. Die Jüdin wird mit Gummischläuchen ausgepeitscht, ihr Unterleib muss genäht werden, es gibt Austern und Koks. Das vielleicht Auffälligste an den Bildern, derer sich der Autor bedient, ist ihr grausamer Kitsch.
Denn Kitsch bedient sich hemmungslos am Phantasma. Kitsch ist ein Spiel mit den Erwartungen, die einer kollektiven Psyche eingeschrieben sind. Er referiert stets auf eine bereitwillig und breit geteilte Annahme und trägt somit den Mief der Nostalgie mit sich, reproduziert abgenutzte Bilder: die ausgepeitschte Jüdin, die misshandelte Frau, die trotzdem wild und fröhlich leben will. Kitsch drückt jene Knöpfe, die längst eingebaut sind, darum ist er so vorhersehbar und funktioniert so gut. In seiner Studie "Psychologie des Kitsches", schreibt Abraham Moles, "Kitsch (ist) immer auch angepasst an den Geschmack der großen Mehrheit, getreuer Ausdruck der allgemeinen Gefühlswelt, der Harmonie, die der Kleinbürger liebt, da er in ihr die Schönheit und die Ordnung der Dinge gewährleistet sieht. Die bestehende Ordnung der gegebenen Dinge."

Zustand der Unschuld

Die "bestehende Ordnung der gegebenen Dinge", die Keep-My-World-Great-Fantasie, ist nichts anderes als das Anhängen einer imaginären Vergangenheit, in der man sich vorgeblich nicht mit den Dringlichkeiten des jeweilig aktuellen Status Quo beschäftigen musste: der Zustand der Unschuld – der neutrale Schweizer! Man hängt der Zeit nach, in der kabarettistische Anspielungen auf Schwarze Penisse noch nicht für einen Eklat sorgten, Blondinenwitze nicht weiter auffielen, man vermisst die Zeit, in der Possen über Menschen mit Behinderung Usus waren. Humor ist vielleicht das untrüglichste Barometer dafür, was im Unbewussten brodelt. Bei Witzen geht es bekanntlich um ein "befreiendes" und ein "befreites" Lachen. Es stellt sich die Frage, warum Blondinenwitze befreien und wovon.
Humor zielt also aufs Gefühl, Ironie dagegen auf den Intellekt. Sie signalisiert kritische Distanz. Wenn Kitsch klug sein will, wird er ironisch. Er stilisiert und ikonisiert Gegebenes, im Wissen um die Abgeschmacktheit des Details, das er zum Markenzeichen erhebt. In der queeren Modesprache des Camp sind weiße Tennissocken zu einem Code geworden. Synthetische Stoffe und Plüsch bezeugen Zugehörigkeit zu oder Solidarität mit einer Klasse, die sich die Accessoires der Haute Couture nicht leisten kann oder will und für die sie nicht bestimmt sind.

Kein kluger Kitsch in der Literatur

Derlei Codes können eine Kritik an Schönheitsidealen und genauso ihre Aneignung sein. Aber was sich in der einen Ausdrucksform als Effekt einstellt, tut dies nicht notwendigerweise auch in der anderen: In der Literatur, so scheint mir jedenfalls, gibt es keinen klugen Kitsch. Natürlich, es gibt Ironie in der Literatur, die immer dann funktioniert, wenn derselbe Referenzraum geteilt wird, wenn also eine bestimmte Peergroup adressiert wird. Und insofern Ironie Distanz herstellt, konstituiert Literatur, die ironisch verstanden werden will, ihren Gegenstand aus einer permanenten Haltung der Abwehr. Sie funktioniert durch Exklusion.
Ich als Lesende*, aber mehr noch als Schreibende* bin auf der Suche nach einer Literatur der Inklusion, einer Poesie die eine Einladung ohne mitgemeinte Zielgruppe ausspricht, ohne sich auf die "bestehende Ordnung der gegebenen Dinge" zu stützen. Ich suche nach Romanen, Erzählungen, Gedichten wie jenen des Musikers und Schriftstellers Sherhij Zhadan, der in seinem Essay "Die guten schlechten Bücher" schreibt: "In den ersten Kriegsmonaten, als die Lage besonders schlimm war, sind Dorfbewohner in die Bibliotheken gekommen, einfach um sich dort aufzuhalten, zusammen zu sein, zu reden. […] Ohne Bücher kommt man problemlos aus. Ohne Strom, ohne Heizung, ohne Kanalisation kaum. Und trotzdem haben wir immer und überall Bücher vorgefunden – ob in den Soldatenkantinen oder in der Wohnung, die als Sammelstelle dient, wo Freiwillige auf dem Boden schlafen, die schon den dritten Tag entlang der Frontlinie unterwegs sind."

In die dunklen Ecken schauen

Serhij Zhadan war schon vor 2014 ein bedeutender Name in der ukrainischen Literatur- und Musikszene; seit Kriegsausbruch befindet er sich praktisch auf einer permanenten Lesereise durch den Donbass. Er und seine Kollegen schaffen Bücher in die noch immer intakten Bibliotheken und veranstalten dort Lesungen.
Ich versuche Zhadans ästhetisches Verfahren zu verstehen, der in seinen Geschichten über den Krieg in die dunklen Ecken schaut, in denen vor sich hin faulende Haufen von Büchern auf den Böden der Bibliotheken darauf warten, dass jemand kommt und nach ihren maroden Umschlägen greift. Natürlich ist Zhadan nicht der Erste, der vom Krieg erzählt. Aber seine Augen (und wir mit ihm) sehen etwas nie zuvor Gesehenes. Er kommt ganz ohne die Versatzstücke der bestehenden Ordnung der gegebenen Dinge aus.
Ich suche nach Büchern, die uns über die Welt, von der sie erzählen, wissen lassen, dass alles, was wir zu sehen bekommen, auch ganz anders sein könnte. Sie dekonstruieren permanent die eigenen Phantasmen und ziehen sich nicht auf die leichtgängigen Stereotype zurück (die Wodka saufenden Söldner im Feldlager). Ich suche nach Literatur, die Prozesse beobachtet und den daran beteiligten Individuen zuschaut. Die nicht wertet, mir nichts vorkaut und in den Mund legt.

Unhintergehbare Figuren

Sula, die titelgebende Protagonistin in Toni Morrisons zweitem Roman, schaut zu, wie ihre Mutter verbrennt, schläft mit dem Ehemann ihrer besten Freundin, hat einen kleinen Jungen auf dem Gewissen und bringt letztlich durch ihr Verhalten das ganze Dorf gegen sich auf. In keiner Nuance ihres Wesens entspricht sie einem der Stereotype der guten Schwarzen, die trotz des Unrechts, das ihr widerfährt, stets selbstaufopfernd und integer handelt. Und gerade deswegen wurde sie lange Zeit zur stetigen Begleiterin meiner Tage, und kaum eine andere Figur aus der Literatur hat mich mehr über das Menschsein gelehrt.
Der Weg zu solchen unhintergehbaren Figuren ist das Ziel meines Schreibens. Vor einiger Zeit fand ich bei Jonathan Franzen einen Satz, der mir hilfreich schien: "The reader is a friend, not an adversary, not a spectator." Die*der Lesende ist kein*e Kontrahent*in, keine voyeuristische*r Zuschauer*in. Ein* Freund*in, der man nichts erklären und nichts beweisen muss. Freundschaften zeichnen sich durch lange, ehrliche, oft genug unbequeme Konversationen aus. Darum sind sie wertvoll, darum können sie etwas an der Art ändern, wie wir die Welt wahrnehmen. Und Bücher eigenen sich besonders gut für längere Gespräche (mit Charakteren, mit dem Gegenstand der Geschichte).

3. Blicktraining

Phantasmen sind Schutzmechanismen. Sie bewahren vor dem Schmerz, der sich breitmacht, wenn man die Welt in all ihren Nuancen aushalten will oder muss. Sie puffern das entstandene Vakuum zwischen mir und dem Moment, wenn ich einer Kränkung gewahr werde. Sie verhindern, dass das Gefühl der Minderwertigkeit an die Oberfläche steigt. Sie schützen vor der lähmenden Erfahrung der Ohnmacht. Ich vermute, dass das Schreiben die Autor*innen deshalb oft an ihre Grenzen führt, weil es bedeutet, auf angelernte Schutzreflexe zu verzichten und trotzdem die Augen offen und dabei die Fäuste gesenkt zu halten. Nicht umsonst heißt es von Künstler*innen, sie liefen "schutzlos" herum, sie seien "dünnhäutig" oder gleich "ohne Haut".
Rachel Cusk mutmaßt über ihre eigene Zunft: "Möglicherweise ist Literatur einfach das Produkt einer gewissen Überempfindlichkeit." Ich vermute, es hat einen gewissen – womöglich voyeuristischen - Unterhaltungswert, sich Künstler*innen irgendwie kaputt vorzustellen. Auch so ein Phantasma: Künstler*innen hätten ein schwieriges, belastendes Leben gehabt, darum seien sie psychisch labil, und nun stellen sie ihren Schmerz aus und man zahle dafür, am Spektakel dabei zu sein. Aber Kunst im allgemeinen und natürlich auch das Schreiben hat nur bedingt etwas mit traumatischen Erfahrungen zu tun, man hat sie gemacht oder eben nicht. Aber die "Überempfindlichkeit", von der Rachel Cusk spricht, scheint mir doch die Voraussetzung dafür zu sein, um alles um sich herum aufzunehmen. Entzieht man sich ihr, entstehen Bücher, die von Algorithmen bald besser geschrieben werden als vom menschlichen Geist und von menschlichen Händen. Für mein eigenes Schreiben kann ich jedenfalls sagen: Bleibe ich auf sicherem Terrain, biete ich Nacherzählungen an, Malen-nach-Zahlen-Schablonen, Bücher, die versprechen: Your world ist great. Your world is great. Alles wie gehabt, bloß keine Sorge.

Sehen-Lernen

So viel ich weiß, gibt es an Universitäten und Kunsthochschulen kein Fach mit dem Namen Übung im Sehen. Schreibende suchen sich ihre Strategien selbst, und das muss wahrscheinlich so sein. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Das Sehen-Lernen wird nicht durch die simple Umkehrung herrschender Verhältnisse funktionieren. Wenn ich aus schwachen Frauenfiguren einfach nur starke mache, aus heterosexuellen Paargeschichten lesbische/schwule usw., dann manifestiere ich nur die Hierarchie, arbeite mich am bestehenden Phantasma ab. Ich produziere Kitsch und laufe Gefahr, die billige Lösung anzubieten.
In "Everybody's Protest Novel", jenem Essay, der James Baldwin 1955 schlagartig berühmt machte, wettert der Autor gegen gutgemeinte Protestbücher, deren sentimentale Geschichten eine kindgerechte Deutung der Welt liefern. Der Geist, der diese Bücher trägt, beruhige die Leserschaft mit Pamphlet-artigen Thesen zu Gut und Böse. Jede Anstrengung werde unternommen, um das Falsche im Anderen zu suchen und niemals bei sich selbst. "As long as such books are being published', an American liberal once said to me, ,everything will be all right'", schreibt Baldwin in dem Essay.
Ich nehme mir also vor, alles, was ich über meinen Gegenstand weiß, neu abzumessen und mir selbst und meinen Annahmen gegenüber skeptisch zu sein. Ich nehme mir vor, keine Abkürzungen auf dem Langstreckenlauf des Romanschreibens einzuschlagen. (Das bedeutet unter anderem, dass ich mir vornehme, so wenig Adjektive wie möglich zu benutzen, denn sie sind der Trick, zu dem ich greife, wenn ich mich mit der erzählten Szene unsicher fühle. Sie sind die eingebaute Knöpfe, die sich immer schnell drücken lassen, die lockende Abkürzung in einem Dauerlauf.)

Malen, was man sieht

Zu malen, was man von der Landschaft sieht, und nicht, was man vermutet zu sehen, war der Ratschlag Paul Gauguins an seine Schüler. Wenn ich aus dem Fenster meiner Wohnung schaue, sehe ich keine nackten Baumkronen, ich sehe Kratzer und Risse. Über dem Sportstadion hängt keine Wolkendecke, es ist gerissener Mull. Der erste Schritt ist also, zu verstehen, was man betrachtet. Der zweite ist dann, dafür Worte zu finden, so dass das Bild vor den Augen der anderen entstehen kann.
Lange hing ich der Vorstellung an, dass es für jemanden wie mich schwieriger sei, sich verständlich zu machen, weil ich beladen bin mit Identitätskategorien, die meine Erfahrung und mein Empfinden in der Welt maßgeblich anders prägen als die der Mehrheit, der meine Referenzen häufig unbekannt sind. Ich denke bei Lampenschirmen an Konzentrationslager, ich denke bei Regenbögen an das Verbot von "homosexueller Propaganda" in dem Land, in dem ich geboren bin. Meine Muttersprache ist eine andere Sprache, als die, in der ich schreibe. Das führt zu anderen Klängen im Ohr. Und ich verzweifle manchmal an der Armut an Synonymen, die das Deutsche im Vergleich zum Russischen hat. Hinzu kommt das Personalpronomen-Theater der deutschen Grammatik. (Wäre ich in der Türkei geblieben und hätte angefangen, auf Türkisch zu schreiben, wäre es viel einfacher, Personen ohne binäre Geschlechtszuschreibung zu den Protagonist*innen meiner Texte zu machen.)
Zudem schaue ich durch lesbische Augen, was bedeutet, dass die amourösen Begegnungen, von denen ich erzähle, leicht überlesen werden. Denn Anbandlungen zwischen Frauen werden, sofern sie nur vage und suchend und nicht in expliziten Szenen geschehen, meist nicht gesehen, während die Darstellung heterosexueller Begegnungen nur weniger Pinselstriche bedarf – eben weil sie auf über Jahrhunderte Vertrautes, weil sie auf immer schon Gesehenes aufsetzen.

Nicht gefällig, trotzdem anschaulich

Ich muss permanent prüfen, ob Namen und Begriffe in meinen Texten für sich alleine stehen können und die Geschichte tragen. Weil meine Gedankengänge oft einer breiten Öffentlichkeit nicht gleich einleuchten, übersetze ich hin und her: Aus der Logik meines Publikums in meine eigene und wieder zurück, versuche mich nicht zu verzetteln, nicht gefällig und trotzdem anschaulich zu sein.
Ein No-Go scheint es mir, in Vergleichen zu kommunizieren, etwa: von Dnipropetrowsk nach Sotchi ist es so weit wie von Paris nach Berlin. Oder: Oksana Sabuschko ist so etwas wie die Elfriede Jelinek der Ukraine. Ich will mich nicht zu einer Norm ins Verhältnis setzen, für mich ist diese Norm kein Maßstab. Aber mein Wissen existiert in Abhängigkeit, das ist mir immer bewusst. Doch ist mir auch bewusst, dass es eine stilistische und ästhetische Entscheidung sein kann, Unbekanntes, manchmal auch Unverständliches im Text zu platzieren.
So erschien es mir sinnvoll, in meinem ersten Roman, "Außer sich", russische Worte in kyrillischer Schrift ohne Übersetzung und Transliteration stehen zu lassen, denn die erzählende Stimme wechselt als Romanfigur zwischen den Sprachen. Es ist ihr Blick, es sind ihre Fragen, es ist ihre Art, in mehreren Sprachen zu fluchen. Und in meinem aktuellen Buch verzichte ich komplett auf das Russische, obwohl alle Protagonist*innen diese Sprache sprechen. Denn das Russische ist für sie die einzig verfügbare Sprache, es gibt keine Abweichungen (ins Deutsche etwa), ich würde meine Figuren exotisieren, wenn ich ihren Dialogen russische Worte beimischte. In schlechten Filmen und Serien werden manche Figuren über den groben Akzent markiert, den man ihnen auferlegt und der wiederum das Phantasma von Menschen aus dem Osten bedient: "Wladimir, kannst du mir den Kugelschreiber reichen, poschalujsta?"

Unausgesprochenes miterzählen

Auch mit Personalpronomen lässt sich im Rahmen der Romanlogik sehr viel Unausgesprochenes miterzählen. In "Außer sic"h folgen diese Pronomina den Metamorphosen der Figuren. Aus "sie" wird "er", und so erzeuge ich einen Perspektivenwechsel ohne belehrende Erklärungen. Vielleicht kann die Grammatik hier sogar helfen, den Wandel stärker zu empfinden als zu denken. Man spürt, etwas ist anders in der Art, wie man die Figur sieht – und wie die Figur auf uns Lesende zurückblickt.
Meinen neuen Roman wollte ich ursprünglich WATNIK nennen und in Kauf nehmen, dass nur ein Bruchteil meiner Leserschaft auf Anhieb weiß, was das Wort bedeutet. In Menschen, die des Russischen und Ukrainischen nicht mächtig sind, werden Assoziationsketten ausgelöst, die nichts mit der eigentlichen Bedeutung des Wortes zu tun haben: Watte, Wolken, der Eigenname einer Ortschaft, der Spitzname einer Figur … Ich schrieb also auf die erste Seite meines Manuskripts:
Ein Watnik ist
1. ein Daunenmantel, auf Russisch sagt man auch: Körperwärmer
2. ein Mensch, der nichts als Leere in sich trägt
3. jemand, der seine Heimat liebt, ein Putin-Anhänger
Und dann löschte ich diese Erklärungen und benannte meinen Roman um, denn ich will keine Literatur produzieren, die einer Gebrauchsanweisung folgt oder selbst eine enthält. Ich sehe es als meine Aufgabe an, historisch präzise zu sein und die Dinge beim Namen zu nennen, aber ohne sie zu vergegenständlichen wie ein Sachbuch. Ich will sie gegenwärtig und anschaulich machen auf eine Weise, wie sie noch nie betrachtet und angeschaut wurden.

Wie vom Holodomor erzählen?

Eines der Themen meines neuen Romans ist der Holodomor. Das ist kein russisches oder ukrainisches Wort, Sie können es problemlos ohne kyrillische Tastatur in den Suchmaschinen nachschlagen. Trotzdem ist es in der Datei, in der ich diesen Text tippte, rot unterstrichen, das Schreibprogramm Microsoft Word kennt diesen Begriff nicht. Und obwohl Holodomor das Wort für einen millionenfachen Völkermord ist, der keine hundert Jahre zurückliegt und der die europäische Realität bis heute prägt (immerhin haben wir gerade einen Krieg auf unserem Kontinent, dessen Ursprung eben in jenem Holodomor liegt), wird es nicht nur das weltweit benutzte Schreibprogramm Word sein, dem dieser Genozid unbekannt ist.
Wie veranschauliche ich einem Publikum ein solches Verbrechen, von dem es mit großer Wahrscheinlichkeit nichts weiß, ohne auf der emotionalen Klaviatur bekannter Darstellungsmuster zu spielen? Es schien mir wie ein Drahtseilakt, keinen Kitsch zu produzieren, den ich bei Darstellungen von Massenvernichtung selber oft bemängele: bis auf das Skelett abgemagerte Kinder, verstörte Frauen, herumlungernde Männer, Leichenberge.
Ich schreibe kein Geschichtsbuch. Geschichtsbücher berichten "über" ein Ereignis. Ich bin keine Kulturvermittlerin. Kulturvermittler*innen erklären, was ein bestimmtes Ereignis zu bedeuten hat. Um es mit der Erzählerin und Lyrikerin Esther Kinksy zu sagen: Ich bin keine Fremdenführerin. Ich kann und will keine Touren durch die Katakomben des Elends anbieten. Ich bin jemand, die sieht und dafür in Worte übersetzte, unverbrauchte Bilder sucht.

Gezwungen sein, genau hinzusehen

Es gibt viel Gerede über den angeblichen Vorteil, Migrant*in zu sein. Oder queer oder Schwarz oder ein wie auch immer konstruiertes Anderes. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf Neid, Missgunst und die Ängste der Mehrheitsgesellschaft eingehen. Ich will ihr aber in einem Punkt recht geben, von dem sie womöglich selbst nichts weiß: Ich denke, es ist tatsächlich besser für das Schreiben, viele Annahmen und Positionen der Gesellschaft, in der man lebt, nicht zu kennen oder sie nicht als selbstverständlich leben zu können. Je weniger mir geschenkt wird, je weniger selbstverständlich mir meine Umgebung ist, desto mehr bin ich gezwungen, genau hinzusehen. Sicherlich ist das nicht die einzige Voraussetzung für relevante Literatur, aber ich glaube, dieses erzwungene Hinblicken macht meine Stimme zu meiner eigenen. Vielleicht bin ich dann authentisch. Wenn ich die Bedingungen für meine Imperfekt-Sein selbst bestimmen kann.
Dann kann ich Kreativität daraus schöpfen, mich dem gegebenen Narrativ zu entziehen. Ich kann mich dafür entscheiden, nicht um die Zustimmung derer zu buhlen, die nur eine Welt verstehen, wie sie immer schon erzählt worden ist. Ich kann mich dafür entscheiden – bewusst oder unbewusst –, die "bestehende Ordnung der gegebenen Dinge" zu stören. Mit allen Konsequenzen, die eine solche Störung mit sich bringt.
Im September erscheint im Suhrkamp Verlag Sasha Marianna Salzmanns neuer Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein".