Ich bin noch damit aufgewachsen, dass die deutsche Nachkriegsliteratur so toll ist, weil sie wieder politisch sein konnte, ohne Verhaftung und KZ befürchten zu müssen: die Gruppe 47, Heinrich Böll, Nelly Sachs, Günter Grass. Ich bin damit aufgewachsen, dass die besten deutschen Schriftsteller*innen aus der DDR kamen, wo sie dissidente Stimmen gegen ein System waren, das keine Dissidenz zulassen wollte.
Deshalb kann ich mich bei den Debatten über die Politisierung des Literaturbetriebs manchmal nicht des Verdachts erwehren, dass Kritik erst dann zum Problem wird, wenn sie sich gegen einen selbst richtet. Also: Toni Morrison ist große Literatur, weil sie den Rassismus in Amerika sichtbar macht, aber wenn sich zum ersten Mal eine ganze Reihe von Neuerscheinungen mit Rassismus in Deutschland beschäftigen, diskutieren wir sofort darüber, ob sie nicht Identitätspolitik seien, als wäre das ein literarisches Genre.
Ich kann das in gewisser Form sogar nachvollziehen. Schließlich ist nicht jede Kritik wertschätzend. Ja, nicht einmal jede Kritik ist berechtigt. Kritik schaut genauso aus einem eingeschränkten Blickwinkel auf die Welt - aber eben aus einem anderen Blickwinkel.
Kunst ist - wie das Leben - immer politisch
Vielleicht geht es hier nicht um den Unterschied zwischen politischer und unpolitischer Literatur, sondern zwischen bewusst politischer und einfach nur so politischer Literatur; weil man ihr nicht anmerkt, dass ihre Ästhetik und ihre Inhalte politischen Parametern folgen. Wenn ich die Liebesgeschichte eines heterosexuellen Paars mit deutschem Pass erzähle, ist das genauso eine politische Entscheidung, als würde die Liebesgeschichte zwischen Menschen mit unklarem Aufenthaltsstatus spielen – bloß fällt nur eine dieser Entscheidungen auf. Ob Texte als politisch wahrgenommen werden, hat deutlich mehr mit den politischen Verhältnissen zu tun als mit ihren Autor*innen.
Ist es also ein Privileg, vermeintlich unpolitisch schreiben zu können?
Ich werde ja gerne als politische Autorin wahrgenommen. Allerdings nicht nur als politische Autorin – ich würde mich wahnsinnig freuen, endlich einmal bei einer Lesung hauptsächlich über stilistische Fragen sprechen zu dürfen - aber ich verstehe mich eben auch als politische Autorin, weil Politik eine Dimension ist, die aus Geschichten nicht wegzudenken ist, weil sie aus dem Leben nicht wegzudenken ist. Und dann mache ich das lieber bewusst, als dass es sich halt so in meine Texte hineinschreibt.
Literatur sollte gesellschaftlich repräsentativ sein
Aber Mithu, es geht hier doch gar nicht darum, ob Texte politisch sind, sondern ob politische Kriterien in den Literaturbetrieb eingreifen. Darauf sage ich nur: Doch es geht genau darum. Vor kurzem interviewte mich eine ansonsten entzückende Rezensentin, die mir zum Abschied verriet, sie fände die "identitätspolitischen" Romane wie meinen und Hengameh Yaghoobifarahs und Sharon Dodua Otoos wichtig und richtig und freue sich über die Aufmerksamkeit, die wir erhielten, aber sie seien ihr literarisch ... einfach nicht literarisch genug. Wow! Und der ganze Literaturbetrieb ignoriert das, um politisch korrekt zu sein?!
Natürlich können wir nicht einen einzelnen Text nehmen und an ihm alle politischen Parameter durchexerzieren: Gibt es darin alle Geschlechter? Alle gesellschaftlichen Gruppen? Klassen? Races? Natürlich nicht!
Aber wir können die Gesamtheit der Literatur befragen, ob sie repräsentativ ist. Und wenn sie es eben nicht ist, dann verfehlt sie eine ihrer zentralen Funktionen. Denn Kunst soll ja immer ein Spiegel der Gesellschaft sein. Nicht nur, das wäre ja langweilig: Aber auch wenn Literatur der Gesellschaft Visionen anbietet, dann möchte ich dass ich, dass Menschen wie ich, ebenfalls in diesen Visionen vorkommen.
Romane machen etwas mit uns, was Sachbücher nicht können. Geschichten erreichen uns auf einer Ebene, an die unser Kopf alleine nicht herankommt. Seit mein Roman "Identitti" im Februar dieses Jahres erschienen ist, bekomme ich täglich E-Mails und Social-Media-Nachrichten von Menschen, die mir mitteilen, dass sie sich zum ersten Mal in der deutschen Literatur repräsentiert fühlten.
Wie konnte es soweit kommen, dass eine Erweiterung, ein Mehr an Stimmen an Perspektiven, an Stilen als weniger wahrgenommen wird, als Einschränkung? Jetzt müssen wir alle politisch korrekt schreiben?
Bitte nicht kleinlich in Details verbeißen!
Weil nicht alle diese Aushandlungsprozesse prima laufen. Weil wir alle durch die Corona-Maßnahmen noch viel mehr Zeit als ansonsten im Internet verbringen und Twitter und In-your-Facebook und Insta-Scham nicht für ihre besonnene Debattenkultur bekannt sind. Deshalb wünsche ich mir das von uns, von der Literaturkritik und dem Rest des Feuilletons: Lasst und nicht die kleinlichen und peinlichen Aspekte der Debatte herauspicken, die es natürlich auch gibt. Warum sollten wir weniger dysfunktional sein als der Rest der Gesellschaft? Sondern lasst uns schauen, wie diese Auseinandersetzungen das Gemeinwesen bereichern können. Nichts anderes bedeutet Politik.