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Themenwoche "Ware Welt"
Ökonomisierung und moralischer Wandel

Wir leben in einer Welt, in der alles zur Ware werden kann, ob natürliche Ressourcen wie Trinkwasser, soziale Leistungen oder Ideen von Künstlern. Ursächlich dafür waren nicht nur politische und ökonomische Veränderungen, sondern auch der Wandel sozialer Wertvorstellungen. Aber worin genau besteht die moralische Dimension der Ökonomisierung?

Von Dominic Akyel |
    Ein Finger zeigt auf das Symbol eines Einkaufwagens auf einer Taste einer Computertastatur.
    Worin genau besteht die moralische Dimension der Ökonomisierung? (picture alliance / ZB / Jens Büttner)
    Whale Watching, der englische Originalbegriff für Walbeobachtung, bezeichnet die Beobachtung von Walen und ebenso die von Delfinen in ihrem natürlichen Lebensraum. Solche Beobachtungen finden von Argentinien bis Island, von Frankreich bis Südafrika statt, in allen Meeren, in denen die Populationen auf Wanderschaft Quartier machen.
    Der wissenschaftliche Sammelbegriff für Wale und Delfine – "Cetacea" - hat seinen Ursprung in der griechischen Mythologie. Wale und Delfine haben auf viele Menschen eine große Anziehungskraft, in vielen Kulturen wurden sie schon vor langer Zeit verehrt. Mit dem Roman "Moby Dick" hat Herman Melville den Mythos Wal Mitte des 19. Jahrhunderts literarisch verewigt. Der archaische Kampf zwischen Wal und Mensch markiert einen Anfang der literarischen Moderne und zählt heute zu den Klassikern der Weltliteratur.
    Heute erfreut sich der Waltourismus immer größerer Beliebtheit. Von den USA, wo das Whale Watching seinen Ursprung hat, zog der Trend 1980 mit den ersten Walbeobachtungs-Touren in der Straße von Gibraltar auch nach Europa weiter. Menschen möchten Wale sehen, hören, sogar reiten.
    Beispielsweise hat sich Whale Watching in Kanada zu einer florierenden Branche entwickelt. Ehemaligen Walfängern oder arbeitslosen Fischern wurde auf diese Weise eine neue lukrative Existenz ermöglicht. Walbeobachtung soll als Ökotourismus verstanden werden.
    Dabei nimmt die Beobachtung von Kleinwalen und Delfinen an Bedeutung zu. Das liegt vor allem daran, dass immer mehr ortstreue Delfinpopulationen bekannt werden. Außerdem sind solche Populationen in der Regel verlässlicher anzutreffen als wandernde Großwale, was sie für kommerzielle Anbieter besser "erschließbar" macht.
    Und somit ist das Stichwort gefallen - Kommerz. Dass die Walbeobachtung überhaupt eine kommerziell lohnende Branche werden konnte, ökonomisiert werden konnte, liegt in einem moralischen Wandel begründet, der das Verhältnis der Menschen zum Wal verändert hat.
    "Ökonomisierung und moralischer Wandel"
    Eine Studie aus dem Jahr 2004 beschreibt die Entstehung der Branche der kommerziellen Walbeobachtung in Kanada als einen solchen Wandlungsprozess. Während Wale noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ökonomische Ressource wahrgenommen wurden, entwickelten sich Walerzeugnisse im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch moralische Veränderungen von legal-legitimen zu moralisch umstrittenen Gütern, die einer hohen Marktregulierung unterworfen wurden.
    1946 unterzeichnete die IWC, die Internationale Walfang-Kommission, einen Vertrag zur Regulierung von Walfangaktivitäten und zur Erhaltung von Walbeständen. Als deutlich wurde, dass die Anzahl getöteter Wale nicht nachhaltig war und ein Walbestand nach dem anderen an den Rand der Ausrottung gelangte, beschloss die IWC 1982 mit nun 89 Mitgliedstaaten ein Verbot des kommerziellen Walfangs, das im Jahr 1986 in Kraft trat. Doch längst nicht alle Länder der Welt halten sich an das Moratorium.
    Tierschützer und Wissenschaftler erhielten seitdem weltweit moralische Unterstützung aus der Bevölkerung, wenn sie die Bedrohung der Wale öffentlich bekannt machten und den ungeregelten Walfang anprangerten. Mittlerweile hat der Mythos Wal neue Dimensionen erreicht. Laut der Studie aus dem Jahr 2004 werden Walen quasi-menschliche Eigenschaften und eine starke symbolische Bedeutung zugeschrieben: Sie gelten als Individuen, die zu schätzen und zu respektieren sind.
    Die Entstehung der kommerziellen Walbeobachtung als einem Markt bildete sich als Folge einer Ausweitung sozialer Verbote heraus, die mit einer Tabuisierung bestimmter wirtschaftlicher Handlungen, in diesem Fall Walfangprodukte aus nicht akzeptierten Fängen, einherging. Die Autoren der Studie weisen dabei auf die große Bedeutung unternehmerischen Handelns für die Entstehung dieses Marktes hin. Auch wenn der Wandel kultureller Vorstellungen eine wichtige Voraussetzung war, hing die tatsächliche Entstehung und konkrete Ausgestaltung des Marktes auch von den Aktivitäten lokaler Pionierunternehmer ab.
    Handel mit moralisch problematischen Produkten
    Ökonomische Veränderungen können sich infolge der Entstehung von Tabus ereignen, mit dem bestimmte Waren und Güter belegt werden. Denn das wirtschaftliche Handeln in modernen kapitalistischen Ökonomien wird von sozialen und kulturellen Wertvorstellungen genauso gesteuert und strukturiert wie von verbindlichen Rechtsnormen. Insofern darf auch der Einfluss moralischen Wandels als grundlegend für Ökonomisierung angenommen werden.
    Hersteller müssen beispielsweise nicht nur Arbeitsstandards und Umweltschutzauflagen einhalten, sondern ebenso gesellschaftliche Konventionen und Anstandsregeln beachten. Auch die Entscheidung, welche Produkte und Dienstleistungen erworben und konsumiert werden, hängt maßgeblich davon ab, was innerhalb der Gesellschaft und des Sozialverbandes als angemessen und wünschenswert erachtet wird.
    In noch stärkerem Ausmaß zeigt sich der große Einfluss moralischer Vorstellungen, wenn moralisch problematische Produkte und Dienstleistungen auf Märkten gehandelt werden. Beim Geschäft mit Gütern, die als schützenswert oder auch als anrüchig oder gar gefährlich eingestuft werden, geraten ökonomische Anforderungen und moralische Vorstellungen regelmäßig in Konflikt. Bei der Spekulation mit Lebensmitteln, dem Angebot erotischer Dienstleistungen oder der Waffenproduktion müssen Unternehmer beispielsweise besondere Strategien anwenden, um ihr Handeln zu legitimieren und ihre ökonomischen Ziele zu verfolgen. Daher unterliegt der Handel mit derartigen Produkten häufig speziellen moralischen Einschränkungen.
    Was war dafür verantwortlich, dass sich das Marktprinzip während der letzten Jahrzehnte auch in vielen außerökonomischen Bereichen durchsetzen konnte? Wie wirkten Unternehmer und Konsumenten daran mit? Und worin genau besteht die moralische Dimension dieser Ökonomisierung von Wirtschaft und Gesellschaft?
    Es gibt bislang wenig Forschung zur Rolle des moralischen Wandels bei der Entstehung von Ökonomisierungsprozessen. Ebenso existieren kaum theoretische Konzepte, um die moralische Dimension von Ökonomisierung zu verstehen. Deshalb geht es in diesem Essay um die Frage, auf welche Weise moralischer Wandel zur Ökonomisierung beiträgt und wie sich dieser Zusammenhang theoretisch fassen lässt.
    Moralische Ansprüche in den Hintergrund gedrängt
    Viele industrialisierte Länder haben seit den 1970er-Jahren Wirtschaft und Rentabilität in den Mittelpunkt gestellt und ganz generell eine Ausweitung von Marktbeziehungen vorangetrieben. Dieser zumeist als "Ökonomisierung" bezeichnete Prozess zeigt sich mittlerweile in fast allen Wirtschafts- und Gesellschaftsbereichen. Ursächlich dafür waren jedoch nicht nur politische und ökonomische Veränderungen, sondern auch der Wandel sozialer Wertvorstellungen. Dadurch, dass die Menschen zunehmend individueller und eigenständiger handelten, entwickelten sich neue Bedürfnisse und Handlungsmuster. Dieser Wandel trug ebenfalls zur Ausweitung von Marktbeziehungen bei.
    Der zeitgenössische Ökonomisierungstrend hat viele Gesichter. Auf der einen Seite haben sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt neue Märkte etabliert, während staatliche Unternehmen privatisiert und Gesetzesordnungen liberalisiert wurden. Auf der anderen Seite sind Unternehmer und Kunden heutzutage viel stärker als in der Vergangenheit auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. Damit haben Handlungsprinzipien der Wirtschaft an Geltungskraft gewonnen, während moralische und soziale Ansprüche zugunsten von Kosten-Nutzen-Kalkulationen in den Hintergrund gedrängt wurden.
    Um fortschreitende Ökonomisierung jedoch überhaupt als solche identifizieren zu können, muss man wissen, was die kapitalistische Wirtschaftsordnung in ihrem Wesen ausmacht. Als genuin kapitalistisch gelten solche Ökonomien, in denen privates Unternehmertum, Privateigentum und freie Märkte den Austausch sowie die Güterproduktion bestimmen. Im Gegensatz zu frühen Formen kapitalorientierten Wirtschaftens werden in modernen kapitalistischen Ökonomien sowohl der Handel als auch die Produktion durch private Unternehmer finanziert. Der Besitz der Produktionsmittel konzentriert sich dabei in den Händen einer Minderheit, während der Großteil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt durch Lohnarbeit erwirtschaftet. Der Großteil der wirtschaftlichen Aktivität beruht demnach auf der Investition von Kapital.
    Der moderne Konsumstil ist viel selbstbezüglicher
    Kapitalistische Ökonomien sind außerdem durch eine spezifische Ethik des Wirtschaftens und des Konsums geprägt. In der kapitalistischen Wirtschaftsethik gilt das Streben nach Gewinn. Es verbindet sich in der Person des kapitalistischen Unternehmers mit Tugenden wie Fleiß, Wirtschaftlichkeit und Vertragstreue. Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsordnungen spielen hier die Planung und Kalkulation bei der Geldvermehrung sowie die rationale Betriebsführung und die Ausrichtung auf Rentabilität eine herausragende Rolle.
    Auch in der Art, wie Güter erworben und genutzt werden, unterscheidet sich der moderne Kapitalismus von anderen Wirtschaftssystemen. Vor dessen Entstehung war der Konsum in erster Linie auf die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse ausgerichtet. Der moderne Konsumstil ist hingegen viel selbstbezüglicher. Frei nach dem Credo "Konsum um des Konsums Willen" zielt er auf die Steigerung der Erlebnisqualität und der Auswahlmöglichkeiten ab. Wie auch beim kapitalistischen Wirtschaften wird hier das wirtschaftliche Handeln seiner ursprünglichen Funktion entzogen. Die spezifisch kapitalistische Ethik des Konsums ist daher ebenfalls durch eine Entgrenzung des wirtschaftlichen Handelns gekennzeichnet.
    Die kapitalistische Produktionsweise entwickelte sich etwa ab dem 17. Jahrhundert als Folge vielschichtiger Veränderungen der Gesellschaft und Fortschritt der Technik. Eine Schlüsselrolle nahm dabei die staatliche Politik ein. Viele absolutistische Herrscher trieben durch die Gewährung von Monopolen, den Erlass von Ein- und Ausfuhrverboten sowie die Aufhebung von Zollschranken den Aufstieg des kapitalfinanzierten Unternehmertums voran. Gleichzeitig wurden die notwendigen institutionellen und materiellen Voraussetzungen für die Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaft geschaffen, wie beispielsweise ein geordnetes Geld- und Bankwesen.
    Großen Einfluss hatte der Liberalismus, der im 18. Jahrhundert entstand. Die Anhänger des Liberalismus glaubten daran, dass gesellschaftlicher Reichtum am besten durch die Kultivierung des individuellen Gewinnstrebens auf freien Märkten zu verwirklichen sei. Sie forderten unbeschränkten Wettbewerb, freien Handel und eine Minimierung staatlichen Eingreifens in das Wirtschaftsgeschehen. Auch wenn die Ideen des Liberalismus nicht überall gleichermaßen umgesetzt wurden, hatte dieser eine große Wirkung. Vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert war das Postulat der Selbstregulierung der Ökonomie eines der wichtigsten Leitbilder der Wirtschaftspolitik.
    Bedeutungsverlust des Liberalismus
    Aus dem Blickwinkel der Zeitgeschichte hat der Ökonomisierungstrend von heute seinen Ursprung im Aufschwung des neoliberalen Denkens, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Die Bezeichnung "Neoliberalismus" bezieht sich dabei auf eine Strömung des Liberalismus, deren Anhänger sich für den freien Austausch von Waren auf Märkten sowie eine radikale Begrenzung staatlicher Eingriffe einsetzen. Ihnen zufolge sollte der Staat seinen Einfluss lediglich zur Sicherung von Recht und Freiheit nutzen, nicht jedoch für die Schaffung eines sozialen Ausgleichs.
    Die Entstehung dieses wirtschaftspolitischen Leitbildes war eng mit den Aktivitäten einflussreicher liberaler Intellektueller verknüpft. Der Liberalismus wurde jedoch als politisches Programm wieder an den Rand gedrängt, als sich der Aufstieg zweier totalitärer Herrschaftssysteme in den 1930er und 1940er Jahren abzeichnete. Auch der Einfluss des Keynesianismus trug zu einem Bedeutungsverlust des Liberalismus bei. Die von dem britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes entwickelte Wirtschaftstheorie geht im Gegensatz zur klassischen Wirtschaftstheorie nicht davon aus, dass die Selbstregulierung des Marktes beispielsweise für Vollbeschäftigung sorgt. Vielmehr kommen dem Staat wichtige Aufgaben bei der Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu.
    Wirtschaftsliberale Intellektuelle schlossen sich 1947 in der Mont Pelerin Society zusammen, um dem Wirtschaftsliberalismus wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Vor dem Hintergrund ökonomischer und sozialer Krisen während der darauf folgenden Jahrzehnte vollzog sich eine Reorganisation des liberalen Denkens. Dabei bildeten sich die ideologischen und machtpolitischen Voraussetzungen für die Einpassung marktliberaler Reformen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts heraus.
    Die politische Umsetzung der neoliberalen Programmatik begann in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund globaler wirtschaftlicher Krisenerscheinungen. Die überraschende Parallelität von wirtschaftlicher Depression und steigender Inflationsrate stand im Widerspruch zur bis dahin vorherrschenden keynesianistischen Theorie und brachte diese dadurch zunehmend in Misskredit. War der Neoliberalismus bis dahin eine, Zitat: "schlafende Schönheit" gewesen, fand er nun immer stärkere politische Beachtung. Unter dem Einfluss der "Chicagoer Schule" um den Ökonomen Milton Friedman wurden in verschiedenen Ländern marktliberale Reformen als vermeintlicher Ausweg aus der wirtschaftlichen Depression durchgeführt - allen voran in Chile, Großbritannien und den USA.
    Geldmittel werden nach Leistungskriterien verteilt
    Die weltweite politische Umsetzung neoliberaler Ideen in den darauffolgenden Jahrzehnten war zum einen der intensiven Propagierung dieses Leitbildes durch proliberale Expertennetzwerke geschuldet. Zum anderen wurde sie durch die zunehmende globale Vernetzung von Politik und Wirtschaft gefördert.
    Anreize für die Umsetzung neoliberaler Managementkonzepte ergaben sich aber auch infolge verschiedener wirtschaftlicher und politischer Veränderungen. So sorgten intensiver globaler Wettbewerb, Rationalisierungsmaßnahmen, wirtschaftliche Konzentrationsprozesse sowie technische Fortschritte für eine höhere Dynamik auf vielen Märkten - der Markteintritt branchenfremder Investoren sowie gestiegene Gewinnansprüche trugen ebenso dazu bei.
    Eine Umgestaltung nach neoliberalen Prinzipien erfuhr beispielsweise das deutsche Hochschulwesen. Die deutschen Universitäten werden immer stärker wie kommerzielle Unternehmen geführt und orientieren sich zunehmend an solchen Prinzipien, die auch in der Wirtschaft vorherrschen. Geldmittel werden nach Leistungskriterien verteilt. Lehrstühle konkurrieren stärker als bisher um verfügbare Gelder und müssen einen größeren Teil ihrer Forschungsmittel bei Sponsoren aus der Wirtschaft einwerben. Ziel dieser Maßnahmen sollte es sein, die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Hochschullandschaft zu bewahren.
    Neoliberale Steuerungsmodelle haben aber auch im Sozial- und Gesundheitswesen Einzug gehalten. Dafür verantwortlich war unter anderem die chronische Mittelverknappung der öffentlichen Hand. Eine höhere Staatsverschuldung und Haushaltsdefizite sorgten hier für eine Finanzierungskrise, die sich unter anderem in einem Rückbau von Unterstützungsleistungen niederschlug.
    Ambivalente Güter wie beispielsweise sexuelle Dienstleistungen
    Den Aufwind für neoliberale Managementkonzepte und damit Trend zur zeitgenössischen Ökonomisierung verursachten also verschiedene soziale, politische und ökonomische Wandlungsprozesse. Doch gab es auch ideologisch gelenkte Veränderungen.
    Ökonomisierung hat auch eine moralische Dimension. Wer neoliberale Steuerungsmodelle umsetzen will, muss sich immer auch die Frage stellen, in welchen Bereichen man einen weitgehend regelfreien Markt zulassen kann und möchte, und ob überhaupt eine grundsätzliche Markteignung des jeweiligen Gutes besteht.
    Es gibt eine ganze Reihe ambivalenter Güter, beispielsweise sexuelle Dienstleistungen oder Produkte im Bestattungswesen, bei denen Unsicherheit darüber herrscht, ob diese auf freien Märkten gehandelt werden sollten. In diesen Bereichen stehen sich zumeist widerstreitende Auffassungen über die Markteignung des betreffenden Gutes und den Umfang der Regulierung unversöhnlich gegenüber.
    Hier zeigt sich der Einfluss gesellschaftlicher Wertvorstellungen besonders deutlich, denn es gibt starke moralische Spannungen - zwischen Sakralem und Profanem. Der Verkauf sexueller Dienstleistungen und die Bereicherung am Tod gelten als anrüchige Formen des Gelderwerbs. Menschliche Wertvorstellungen, welche das Individuum als einzigartig und den menschlichen Körper als heilig erachten, geraten mit der Logik des Marktes, dem Markttausch in Konflikt. Die bestehenden Wertvorstellungen zielen in solchen Wirtschaftsbereichen zumeist auf eine partielle oder vollständige Einschränkung des Austauschs dieser Produkte. Um die daraus entstehenden Tabus zu umgehen, müssen in diesen Märkten wirtschaftliche Handlungsweisen als vermeintlich nicht ökonomisches Verhalten getarnt werden. Dies äußert sich darin, dass Preisvergleiche, aggressive Werbung oder allzu offensichtliche Maßnahmen zur Absatzsteigerung vermieden werden.
    Weil diese Märkte von Rechts wegen legal sind, in der Gesellschaft aber ein abweichendes moralisches Empfinden darüber vorherrscht, lassen sich diese auch als "illegitime Märkte" bezeichnen.
    Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: illegale Märkte, auf denen moralisch legitime Güter gehandelt werden. Hier existiert eine Diskrepanz zwischen rechtlichem Status und sozialen Wertvorstellungen. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise der Markt für Organe oder der Markt für weiche Drogen. Beim Organhandel kommt es zu dieser Situation, weil es gleichzeitig positive und negative Folgen hat, wenn Organe Gegenstand des Markttauschs sind. Zwar ist der freie Handel von menschlichen Körperteilen aus verschiedenen Gründen problematisch. Die Legalisierung des kommerziellen Austauschs von Organen könnte jedoch - so die Hoffnung der Befürworter - die notorische Knappheit dieses Gutes beseitigen und damit zur Heilung von schwer kranken Menschen beitragen. Weil der Organhandel auch sozial erwünschte Ergebnisse produzieren könnte, sind Organe im Gegensatz zu anderen illegalen Gütern eine vergleichsweise legitime Handelsware.
    Ökonomisierung setzt oft eine Neudefinition eines Handelsgutes voraus
    Ein weiteres Beispiel für ein solches Produkt sind rauschauslösende Cannabisprodukte. Während der Verkauf und Gebrauch von "harten" Drogen wie Heroin und Kokain in Deutschland verboten ist und gleichzeitig als unerwünscht gilt, wird die Möglichkeit der kontrollierten Abgabe weicher Rauschmittel, etwa Haschisch und Marihuana, seit den 1970er Jahren immer wieder diskutiert und in einigen Fällen auch umgesetzt. Auch die große Selbstverständlichkeit, mit der Cannabisprodukte bei vielen Gelegenheiten öffentlich konsumiert werden, darf als Indiz dafür gewertet werden, dass es sich dabei zwar um ein illegales, in bestimmten Bevölkerungsschichten jedoch weithin gebilligtes Gut handelt. In diesen Märkten wird der wirtschaftliche Handlungsspielraum vor allem durch kodifiziertes Recht eingeschränkt. Gleichzeitig legt das kollektive moralische Empfinden eine teilweise oder vollständige Legalisierung dieser Produkte nahe. Hier ist der Güteraustausch also illegal, erscheint unter bestimmten Bedingungen jedoch als legitim.
    Ökonomisierung setzt häufig eine Neudefinition und Neubewertung eines Handelsgutes und damit den Wandel seiner moralischen Dimension voraus. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung der Lebensversicherung in den USA während des 19. Jahrhunderts.
    Das Grundprinzip der Lebensversicherung bestand schon damals darin, den Tod eines Versicherungsnehmers finanziell abzusichern. Die ersten nordamerikanischen Versicherungsunternehmen wurden bereits Ende des 18. Jahrhunderts gegründet. Es dauerte jedoch beinahe ein ganzes Jahrhundert, bis sich die Lebensversicherung als legitimes Finanzprodukt etablieren konnte. Grund dafür waren moralische Vorbehalte innerhalb der Bevölkerung gegen das, was man zur damaligen Zeit als eine "Wette auf den Tod" wahrnahm. Die Notwendigkeit, den Sterbensfall einer Person in Geldwert zu bemessen, wie es beim Abschluss einer Lebensversicherung geschieht, sorgte bei vielen Menschen für Unbehagen.
    Im Verlauf des 19. Jahrhunderts änderten sich jedoch allmählich die sozialen Verhältnisse und die moralischen Vorstellungen innerhalb der Gesellschaft. Weitreichende Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse sorgten für eine moralische Aufwertung ökonomischen Denkens und Handelns. Dadurch entwickelte sich die Lebensversicherung - nicht zuletzt als Ergebnis aggressiven Marketings - zu einem weltlichen Ritual des "guten Todes". In der öffentlichen Wahrnehmung wurde sie nun nicht mehr mit der monetären Bewertung des Verstorbenen in Verbindung gebracht, sondern der Aspekt der Versorgung der Hinterbliebenen trat in den Vordergrund. Damit hatte sich die Lebensversicherung von einem moralisch anrüchigen zu einem moralisch erstrebenswerten Produkt gewandelt.
    Zusammenhang zwischen moralischen und wirtschaftlichen Veränderungen
    Wirtschaftlicher Wandel infolge einer Veränderung der kulturellen Bedeutung von Gütern zeigt sich heutzutage auch im Markt für nachhaltige Produkte, bei Fair-Trade-Bekleidung, Bio-Lebensmitteln oder Ökostrom. Anders als bei herkömmlichen Waren sind bei der Herstellung und beim Kauf dieser Güter moralische Kriterien maßgebend. Obwohl solche Produkte schon sehr lange angeboten werden, haben sie jahrzehntelang eher ein Nischendasein gefristet. In den letzten Jahren hat ihre Verbreitung allerdings deutlich zugenommen. Mittlerweile kaufen knapp 40 Prozent der Deutschen regelmäßig Bio-Lebensmittel ein. Gleichzeitig hat sich das Image dieser Güter stark verändert. In der Vergangenheit repräsentierten diese Lebensmittel die Partikularinteressen der Umwelt- und Naturkostbewegung. Mittlerweile wird der Anspruch auf Nachhaltigkeit und Natürlichkeit von vielen Bevölkerungsschichten geteilt. Dementsprechend orientiert sich das Markthandeln von Produzenten und Konsumenten heutzutage in weit stärkerem Maße an ökologischen, sozialen und politischen Bewertungsmaßstäben als noch vor zwei Jahrzehnten.
    Die hier vorgenommene Kategorisierung von Märkten verdeutlicht, dass zwischen moralischen und wirtschaftlichen Veränderungen ein systematischer Zusammenhang besteht. Ökonomisierung entspricht in moralischer Hinsicht einer Aufhebung gesetzlich festgeschriebener oder informeller Austausch- und Handlungsverbote. Ökonomisierung lässt sich als ein Prozess der moralischen Neubewertung von Gütern beschreiben, in dessen Verlauf die Grenzen der Markttauglichkeit der entsprechenden Produkte verhandelt und festgelegt werden.
    Der derzeitige Trend zur Ökonomisierung ist somit keineswegs das Ergebnis einer natürlichen Entwicklungstendenz, sondern beruht auch auf veränderten gesellschaftlichen Wert- und Zielvorstellungen. Denn die notwendigen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume für ökonomischen Wandel bilden sich oftmals erst durch soziale Veränderungen, zum Beispiel die Herauslösung der Menschen aus bislang bestehenden sozialen und kulturellen Pflichten, heraus.
    Individualisierungsprozesse tragen dadurch zur Ökonomisierung bei, indem sie das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Anforderungen und moralischen Vorstellungen abschwächen. Dies ist zumeist mit einer Legitimierung der Ausweitung von Marktbeziehungen verbunden. Häufig kommt es dabei allerdings zu moralischen Konflikten. In ambivalenten Wirtschaftsbereichen bilden sich oft Protestbewegungen heraus, die sich mal grundsätzlich, mal mit Blick auf einzelne Aspekte gegen eine Ausweitung von Marktbeziehungen einsetzen. Jüngstes Beispiel für diese Tendenz ist der weltweite Protest der Occupy-Bewegungen gegen Spekulationsgeschäfte auf den Finanzmärkten und das Eindringen ökonomischer Prinzipien in die Politik.
    Keine Abkehr vom Primat neoliberaler Wirtschaftspolitik in Sicht
    Trotz dieser Gegenbewegungen scheint eine politische Abkehr vom Primat neoliberaler Wirtschaftspolitik nicht in Sicht zu sein. Das liegt einerseits daran, dass der politische Wille fehlt, Forderungen nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit einen größeren Stellenwert einzuräumen. Andererseits sind die negativen Folgen der Ökonomisierung nicht immer sofort als solche zu erkennen.
    Dass die Verabsolutierung wirtschaftlicher Prinzipien unerwünschte Konsequenzen hat, ist dabei unbestritten. Ökonomisierung führt nicht nur zu einem Mehr an sozialer Ungleichheit, was sich beispielsweise in zunehmenden Einkommensunterschieden bemerkbar macht. Sie sorgt auch dafür, dass soziale Werte wie Fairness, Verantwortlichkeit und Nachhaltigkeit aus dem Wirtschaftsleben ausgesperrt werden.
    Die Debatte um die Ökonomisierung berührt somit elementare Fragen nach den Grundprinzipien unseres sozialen Zusammenlebens. Um sicherzustellen, dass Politik, Wissenschaft und Kultur auch in Zukunft ihre eigentlichen Funktionen erfüllen können, scheint es sinnvoll, den Geltungsbereich der Marktkräfte zu begrenzen. Sonst könnte an die Stelle einer solidarischen Gesellschaft irgendwann ein allumfassender Markt treten, auf dem sich die Menschen nur noch als Vertragspartner in einem Tausch von Gütern und Leistungen begegnen.