"Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt."
Dieses "Natürliche", schreibt der alte Theodor Fontane 1895, habe es ihm seit langem "angetan". Der Schriftsteller, damals Mitte siebzig, macht auch klar, wo er "Echtheit und Natürlichkeit" – und deren Konflikt mit den "Kunstprodukten" der Sittlichkeit – hauptsächlich verkörpert sieht:
"… und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen."
Die unlauteren Motive von Effis Mutter
Fontane schreibt dies in einem Brief an einen Leser, die Rede ist, man ahnt es, von seinem Roman "Effi Briest": der Geschichte einer sehr jung verheirateten Frau, die sich tatsächlich eine "Sünde" zuschulden kommen lässt, nämlich die des Ehebruchs. In "Effi Briest" ergründet Fontane, was alles zusammenwirkt, um die Titelheldin ins Unglück zu stürzen: ihre eigene Unerfahrenheit, die Lieblosigkeit ihres Ehemanns, die restriktiven Konventionen der Zeit, die Langeweile eines bürgerlichen Ehelebens, wo der Mann in der Welt wirkt, während die junge Gattin zur Untätigkeit verdammt ist.
Nicht zuletzt – damit geht das ganze Unheil ja los – die nicht ganz sauberen Motive, die man Effis eigener Mutter bei der Verheiratung ihrer Tochter unterstellen muss. Die geißelte der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und bekennende Fontane-Fan Burkhard Spinnen kürzlich in einer Radio-Diskussion:
"Ich meine, mal die Sache wirklich zu Ende gedacht: Die holt ihr 17-jähriges Mädchen aus dem Garten, verheiratet das und darf sich ab sofort vorstellen, dass ihre 17-jährige Tochter mit dem Typen ins Bett geht, den sie mal hat abblitzen lassen, weil dessen Portemonnaie nicht dick genug war. Du liebe Güte!"
Effi Briest als dumme Opfergstalt?
Effi Briest und den anderen Fontane’schen Heldinnen – Haupt- wie Nebenfiguren - widmet Burkhard Spinnen, Jahrgang 1956, sein aktuelles Buch "Und alles ohne Liebe". Spinnen, als literarischer Chronist des gar nicht so unrepressiven bürgerlichen Alltags unserer Gegenwart durchaus in Fontanes Fußstapfen unterwegs, lässt diese Heldinnen in munter erzählter Reihe antreten: von den "Poggenpuhls" über die anständige "Stine", die Aufsteigerin "Frau Jenny Treibel" und die schöne "Cécile" mit der dunklen Vergangenheit bis zur Selfmadewoman "Mathilde Möhring".
Spinnen inspiziert und ordnet diese weiblichen Romanfiguren nach dem Grad ihrer Emanzipation. Bei der armen, kleinen Effi Briest, dem ewigen Wildfang mit Matrosenkragen, scheint es ihm damit nicht weit her zu sein. Gerade diese wohl berühmteste Fontane-Heldin deutet Spinnen ziemlich gegen den Strich einer hergebrachten und recht simplen Lesart. Bis heute wird Effi ja vielfach als Opfer der Umstände und ihres grausamen Ehemanns Geert von Instetten gedeutet, das es - außer dem einen Fehltritt – eigentlich nicht verdient habe, dermaßen gestraft zu werden. Burkhard Spinnen argumentiert dagegen:
"Für mich ist Effi eben auch eine von den dummen Opfergestalten, die in dem Moment, in dem sie eigentlich aktiv werden könnten, lieber darauf beharren zu sagen, ja aber ich bin doch arm und klein und ich bin missbraucht worden, und jetzt muss man also den Rest meines Lebens auf mich Rücksicht nehmen und mich machen lassen, wie ich will, und ich bin ganz unverantwortlich’… Wenn die gewollt hätte, hätte die diesen Instetten innerhalb von fünf Jahren vollkommen in die Tasche stecken können, vollkommen! Zehn Jahre später hätte die in Berlin einen Salon gehabt und fünf Liebhaber und was sie wollte!"
Sozialkritik anhand von Frauenschicksalen
Theodor Fontane, dem unbestechlichen Kenner des menschlichen Herzens hätte Burkhard Spinnens kritische Sicht auf die ach-so-bedauernswerte Effi Briest vielleicht gar nicht schlecht gefallen. In seinem handlichen Bändchen "Und alles ohne Liebe" möchte Spinnen ausdrücklich einen "Fontane für Leser" bieten, also für die Lektüre werben, ohne die akademischen Hürden germanistischer Zergliederungskunst aufzubauen. Der Untertitel "Fontanes zeitlose Heldinnen" sagt es bereits: Spinnen liest Fontanes Romane, wie er schreibt, "aufs Gegenwärtige und nicht aufs Überkommene hin" - ihm geht es nicht um "Distanzierung", sondern um "Aneignung".
Dass Burkhard Spinnen ehedem selbst eine germanistische Habilitationsschrift über den 1898 gestorbenen Realisten plante, kann er in seinem neuen Fontanebuch allerdings auch nicht ganz verbergen. Mit Recht betont er die Tatsache, dass Fontane gerade am Beispiel seiner Frauenfiguren den sozialkritischen Finger in die Wunden des wilhelminischen Zeitalters legte:
"Die Frauen zu zeigen zum damaligen Zeitpunkt heißt ja nicht nur, losgelöst Frauenschicksale zu zeigen, sondern es zeigt die Gesellschaft an dem Punkt, an dem sie das meiste Unheil anrichtet. Und das ist der literarisch viel interessantere Punkt, weil in der Rezeption der Frauen haben Sie das Ganze."
Spinnens These, in Fontanes Romanen seien vor allem die weiblichen Charaktere die Träger der Gesellschaftskritik, ist nicht neu, sondern wurde vom Historiker, Preußenexperten und Fontane-Biografen Gordon Craig bereits 1997 formuliert. Auf Craig bezieht sich auch die Journalistin Christine von Brühl, Jahrgang 1962, in ihrem Sachbuch über Theodor Fontanes Frauen. Dessen Titel "Gerade dadurch sind sie mir lieb" zitiert just den Brief, in dem Fontane über seine allesamt angeknacksten Frauenfiguren schwärmt. Wer wissen will, woher der literarische Frauenversteher Fontane überhaupt seine Kenntnisse hatte über das, was er gern "das Evatum" nannte, darüber also, wie die Frauen seiner Zeit lebten, liebten und litten, der wird hier fündig. Christine von Brühls Buch ist tatsächlich das, was die Verfasserin auch in Fontanes Prosawerk sieht, nämlich ein "wesentlicher Beitrag zur Kulturgeschichte der Frau".
Die prägenden Frauen in Fontanes Leben
Bevor das Buch sich nämlich mit den Romanfiguren beschäftigt, macht es die Leser ausführlich mit den realen Frauen in seinem Leben bekannt: Von der Mutter, die sich vom spielsüchtigen Vater trennte, als sie schon über fünfzig war – über die Schwestern Elisabeth und Jenny, sowie die Familienfreundin Henriette von Merckel und die Diakonissen-Schülerinnen, die der junge Apotheker Fontane pharmazeutisch unterrichtete – bis hin zu seiner einzigen Tochter, dem geliebten "Angstkind" Martha.
Darüber hinaus gibt Christine von Brühl einen instruktiven Überblick über die Frauenbewegung zu Fontanes Lebzeiten, mit der er durchaus in Berührung kam, ohne dass er sich deren Forderungen zu eigen gemacht hätte. Nicht zuletzt würdigt sie die Rolle der Stiftsdame Mathilde von Rohr. Dieser adeligen Korrespondenz-Partnerin verdankte der Autor nicht nur viele Skandälchen und Ortslegenden seiner ab 1862 erschienenen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", sondern auch mancherlei Lebensmittelpakete für seinen lange Zeit finanziell klammen Hausstand.
Zu Unrecht geschmäht: Ehefrau Emilie
Allerdings hatte ausgerechnet die wohltätige Stiftsdame Mathilde von Rohr indirekt Anteil daran, die wichtigste Frau in Fontanes Leben nachhaltig in Verruf zu bringen: seine Ehefrau Emilie, mit der er fast fünfzig Jahre verheiratet war.
Die Zumutungen eines Lebens an seiner Seite krönte Fontane nämlich 1876, indem er, ohne Emilie auch nur zu fragen, eine vergleichsweise lukrative Anstellung als Erster Sekretär der Preußischen Kunstakademie nach wenigen Wochen kündigte – und damit endlich eine Stelle in Berlin, die Aussicht auf finanzielle Absicherung der Familie bot. Bis dahin hatte Emilie Fontane alles mitgemacht: ständige Geldnot, häufige Wohnungswechsel, sieben schwere Geburten, oft während seiner Abwesenheit.
Dieses Mal aber ist ihre lebenslange Haltung kritischer Solidarität mit ihrem Dichter-Gatten erschüttert, und sie reagiert zunächst unversöhnlich. Fontane weint sich in einem Brief an seine Vertraute Mathilde von Rohr über Emilies Mangel an Verständnis aus – in Zeilen, aus denen die Nachwelt sich das Zerrbild einer geldgierigen, ewig nörgelnden Ehefrau bastelte:
"Meine Frau hat nicht die Gabe des stillen Tragens, des Trostes, der Hoffnung. (…) Sie wäre eine vorzügliche Predigers- oder Beamten-Frau, in einer gut und sicher dotierten Stelle, geworden; auf eine Schriftsteller-Existenz, die, wie ich einräume, sich immer am Abgrund hinbewegt, ist sie nicht eingerichtet."
Emilie als ebenbürtige Partnerin
Heute, da der Wunsch nach einer gesicherten Existenz vielleicht nicht mehr als Charakterfehler gilt – und die "Gabe stillen Tragens" nicht mehr als weibliche Primärtugend, liest man dieses Lamento mit anderen Augen. Zudem ist es nur eine Momentaufnahme. Tatsächlich schätzte Fontane seine lebhafte Emilie als ebenbürtige Gesprächspartnerin wie als engagierte Mitarbeiterin in seinem "kleinen Romanschriftstellerladen".
Wie innig das Verhältnis der beiden trotz vieler Konflikte bis ins hohe Alter blieb, kann man im Ehebriefwechsel lesen, erstmals erschienen zum letzten Fontane-Gedenkjahr 1998. Eine Auswahl aus diesen mehr als 700 Briefen zwischen Theodor und Emilie Fontane, vom Herausgeber Gotthard Erler ergänzt um biografische Skizzen, liegt nun unter dem Titel "Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles" vor.
Wenige Wochen vor seinem Tod am 20. September 1898 zieht Theodor Fontane in einem Brief an Emilie Bilanz – und er zieht seinen Hut vor starken Frauen wie ihr, die sich auf schreibende Männer wie ihn einlassen:
"Personen, von solcher Ausrüstung wie die meine war, kein Vermögen, kein Wissen, keine Stellung, keine starken Nerven, das Leben zu zwingen, (…) sollten (…) sich wenigstens nicht verheirathen. Sie ziehen dadurch Unschuldige in ihr eigenes fragwürdiges Dasein hinein (…), denn ein Apotheker, der statt von einer Apotheke von der Dichtkunst leben will, ist so ziemlich das Tollste, was es giebt."
Burkard Spinnen: "Und alles ohne Liebe. Theodor Fontanes zeitlose Heldinnen."
Verlag Schöffling und Co, Frankfurt a. Main. 112 Seiten, 12 Euro.
Christine von Brühl: "Gerade dadurch sind sie mir lieb. Theodor Fontanes Frauen"
Aufbau Verlag, Berlin. 368 Seiten, 22 Euro.
Emilie und Theodor Fontane: "Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Eine Ehe in Briefen"
Herausgegeben von Gotthard Erler
Aufbau Verlag, Berlin. 320 Seiten, 18 Euro.
Verlag Schöffling und Co, Frankfurt a. Main. 112 Seiten, 12 Euro.
Christine von Brühl: "Gerade dadurch sind sie mir lieb. Theodor Fontanes Frauen"
Aufbau Verlag, Berlin. 368 Seiten, 22 Euro.
Emilie und Theodor Fontane: "Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Eine Ehe in Briefen"
Herausgegeben von Gotthard Erler
Aufbau Verlag, Berlin. 320 Seiten, 18 Euro.