In den Kirchenleitungen dominiere eine "verzweifelte Hoffnung". Mit dieser Haltung wolle man auch das öffentliche Bild der Kirche prägen, so der Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Als Beispiel dieser "Unheilshoffnung" nannte er die Umweltproblematik, wobei viele davon ausgingen, dass die Zeit nicht mehr ausreiche, um die Ziele zu erreichen. Auf der kirchlichen Gemeindeebene befassten sich die Menschen allerdings oft mit ganz anderen Fragen.
Thomas bezieht sich auf das Konzept der "Kirche als Moralagentur", das durch den Theologen Johannes Fischer und den Sozialphilosophen Hans Joas geprägt worden sei. Die Kirche trete auf "als Akteur, der ganz bestimmte politische Ziele verfolgt". Das sei jedoch "zweischneidig", so Thomas: "Ein richtiges Problem wird gesehen, aber in der Lösung wird ein neues Problem erzeugt." Denn durch das kirchliche "Moralisieren" werden Kompromisse erschwert oder unmöglich gemacht, fürchtet Thomas, da man "Werte nicht teilen" könne. Kompromisse seien in der Politik jedoch wesentlich:
"Dann verschärft sich der Konflikt noch mehr, weil demjenigen, der die Werte vertritt, die man selber nicht vertritt, wird dann Missachtung der Menschenrechte und so weiter vorgeworfen. Werteorientierung hat den paradoxen Effekt, dass sie eine am gemeinsamen Gut orientierte Politik eher verunmöglicht als ermöglicht."
"In einer falschen Gestalt politisch"
Dabei sei es nicht generell abzulehnen, dass die Kirche politische agiere, sagte Thomas. Aber: "Sie ist an einem falschen Punkt und in einer falschen Gestalt politisch." Die politischen Impulse und Richtungsentscheidungen sollten nicht von der Kirchenleitung vorgegeben werden, fordert er:
"Die politische Existenz der Kirche lebt wesentlich darin, dass Millionen Christen und Christinnen tagtäglich in ihren Verantwortungsräumen Verantwortung übernehmen und dieses Leben gestalten und versuchen, es zu verbessern. Zu meinen, dass die Institution erst die Kirche politisch macht, ist eine Fehloptimierung."
Aus der politischen Aktivität der Kirche entstehe zudem ein weiteres Problem, so der Theologe. Es führe zu der Frage: "Warum soll ich eigentlich noch in der Kirche sein, wenn es reicht, bei Amnesty International zu sein, mich in einer Partei zu engagieren und in der Nachbarschaftshilfe dabei zu sein?"
Diese Frage lasse sich nicht beantworten, indem man einer Marktlogik folge, sondern einer Logik des Neuen Testaments: "Wir sollen in der Kirche sein, nicht weil wir das wollen und brauchen, sondern weil Gott es will, weil wir von Gott berufen sind." Dies gelte es "ohne Scham zu vertreten". Die Folge: "Dann müssen Sie auch riskieren, von Gott zu reden - und nicht nur von uns und unseren Händen."
Günter Thomas: "Im Weltabenteuer Gottes leben - Impulse zur Verantwortung für die Kirche" Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2020, 368 Seiten, 16 Euro
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