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Theologe Magnus Striet
"Die Würde der Freiheit"

Die Kirchen dürfen nach Ansicht des Theologen Magnus Striet nicht hinter die Aufklärung zurückfallen. "Die Normsysteme, die in einer Gesellschaft wirken, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern menschengemacht," sagte Striet im Dlf. Es gelte, Gesellschaft und Kirchen aufzuklären. "Das befreit."

Magnus Striet im Gespräch mit Andreas Main |
    Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau.
    Magnus Striet ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Britt Schilling)
    Andreas Main: "Schleifung der Bastionen" - so lautet der Untertitel eines neuen Buches von Magnus Striet. "Schleifung der Bastionen" - das hört sich ein wenig an, als ginge es ums Militär, um Fronten, um Waffengänge. Nun ist Magnus Striet aber weder Militärhistoriker noch Politikwissenschaftler, sondern Theologe. Und vom Typus her, wenn ich das so sagen darf, alles Mögliche - aber eher kein Feldherr. Er ist 1964 im Münsterland geboren, hat wie so viele im ausgehenden 20. Jahrhundert seine ersten theologischen Schritte in Münster gemacht, bei all jenen großen katholischen Theologen, die heute sehr alt oder schon tot sind: etwa bei Herbert Vorgrimler. Heute ist Magnus Striet Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau. Und er ist streitbar - aber auch umstritten - zumindest bei seinem Kollegen, dem Bonner Dogmatik-Professor Karl-Heinz Menke. Der hat ihn frontal angegriffen - und Striet legt nun jenes Buch vor, in dem er sich auf 150 Seiten mit der Position seines Kollegen auseinandersetzt unter dem Titel "Ernstfall Freiheit".
    Nun fragen Sie sich: Was interessiert mich Theologengezänk? Und was interessiert mich ein Buch, bei dem die Fußnoten tatsächlich oft länger sind als der Text? Und, ja, zugegeben, auch ich habe nicht die ganze Tiefe des von Kant geprägten Denkens des Magnus Striet verstanden. Aber so viel schon: Es geht bei ihm ums Eingemachte - um Freiheit, um Theologie nach Kant, um Religion im säkularen Staat, um die Reflexion des Gottesbegriffs. Und deswegen machen wir den Versuch, eine akademische Debatte einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein mögliches Scheitern ist eingepreist. Magnus Striet, danke, dass Sie ins SWR-Studio in Freiburg zu dieser Aufzeichnung gekommen sind, um sich auf dieses Experiment einzulassen. Guten Morgen, Magnus Striet.
    Magnus Striet: Einen schönen guten Morgen.
    Main: Herr Striet, Ihr Buch ist ein Buch, das eher in die Fachwissenschaft hineinwirken will und sich an der Position eines Kollegen abarbeitet. Ohne in die Debatte einsteigen zu wollen: Wieso kann diese Debatte aus Ihrer Sicht über die katholische Kirche hinaus relevant und spannend sein?
    Striet: Ja, es geht um die sehr grundsätzliche Frage, wie sich Religionen in einem säkularen Staat Prinzipien stellen, die eben tatsächlich so etwas wie Freiheitsrechte gewährleisten. Freiheitsrechte werden in diesem Staat rechtsstaatlich abgesichert und jede Person, jeder Mensch darf das im Rahmen dessen, was rechtlich möglich ist, ausleben, wie er das möchte. Das bedeutet eben auch, dass Religion, die verfassten Kirchen damit konfrontiert werden, sich neu zu verhalten: Bleiben sie in den historisch aufgebauten Bastionen - oder aber können sie sich tatsächlich auf moderne Freiheitsprinzipien einlassen?
    "Es braucht Religionsintellektuelle"
    Main: Lassen Sie uns die Relevanzfrage vertiefen. Es gibt ein großes Interesse an Religionsfragen. Das merken wir an den Reaktionen auf diese Sendung. Andererseits wird ein Relevanzverlust von Theologie in der Öffentlichkeit beklagt. Wie passt das zusammen?
    Striet: Es gibt einen Relevanzverlust von Theologie, die sehr stark binnenkirchlich argumentiert. Ich kann allerdings nicht sehen, dass eine Theologie, die beansprucht, tatsächlich intellektuell in die gegenwärtigen Debatten einzugreifen, ohne Relevanz wäre. Die wird schon gehört. Vielleicht muss man eine Differenzierung von Friedrich Wilhelm Graf aufnehmen, der von Theologen, Theologinnen spricht als von Religionsintellektuellen. Religionsintellektuelle sind sehr gefragt, weil es braucht - gerade angesichts der Pluralität von Religionen in diesem säkularen Staat - Kompetenz, um dies ausdeuten zu können.
    "Öffentlichkeit braucht Namen, an denen sie sich reiben kann"
    Main: Der jüngst verstorbene Kardinal Lehmann, der war womöglich so ein Religionsintellektueller, wie Sie es formuliert haben, ein öffentlich ausstrahlender Theologe. Das große Interesse an ihm und an einem Gespräch, das wir beide geführt haben, um ihn zu würdigen an seinem Todestag, das erscheint mir symptomatisch. Die Menschen brauchen und wollen solche Denker, aber wo sind die geblieben?
    Striet: Es ist deutlich schwieriger geworden für professionelle Theologinnen und Theologen, in der Öffentlichkeit wirksam zu werden, aber das hängt damit zusammen, dass Theologie sehr stark mit den kirchlichen Institutionen identifiziert wird - und die stecken bekanntlich seit einigen Jahrzehnten und zunehmend in einer großen Krise.
    Kardinal Karl Lehmann unterhält sich am 26.06.2014 im Bischöflichen Ordinariat in Mainz (Rheinland-Pfalz) bei einer Buchpräsentation mit Verlegern und Journalisten.
    Der verstorbene Kardinal Lehmann gilt als bedeutender Religionsintellektueller (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
    Manchmal habe ich auch den Verdacht, dass die Kirchen selber den intellektuell anspruchsvollen Debatten nicht mehr nachkommen - und das muss dringend bearbeitet werden. Aber natürlich ist es so: Eine Öffentlichkeit braucht Namen, an denen sie sich reiben kann - und gleichzeitig produziert sie aber auch diese Namen. Das macht es für Theologen, Theologinnen heute deutlich schwieriger, als es noch vor einigen Jahrzehnten der Fall gewesen ist.
    Main: Wie lässt sich gegensteuern?
    Striet: Es lässt sich nur damit gegensteuern, dass Theologie in die Öffentlichkeit hineingeht und tatsächlich auch dort die Debatten führt, die Relevanz haben. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie ihre historische Tiefendimension vergisst. Theologie muss historisch arbeiten, um sich selbst in ihrem Geworden-Sein verstehen zu können, aber sie muss in die großen öffentlichen Debatten eingreifen. Nur ein Beispiel: Wie gehen wir mit der Pluralität um? Was bedeutet das für die Wahrheitsansprüche religiöser Überzeugungen? Und es ließen sich viele, viele andere Beispiele nennen.
    Main: Herr Striet, Sie sind Modernisierungsverfechter. Es geht Ihnen aber nicht um ein paar Reförmchen von Kirchenstrukturen, wenn ich Sie richtig verstehe. Es geht Ihnen darum, dass Gottesglauben nicht zurück kann hinter den Freiheitsgedanken der Moderne. Ist das der Kernpunkt?
    Striet: Ja, das ist tatsächlich der Kernpunkt. Es geht mir darum, auszusöhnen mit einem Freiheitsdenken, das tatsächlich Autonomiefreiheit will. Das heißt, dass der Mensch sich selbst gesetzt ist und in der eigenen Instanz darüber entscheidet und auch entscheiden muss, was gut und was richtig ist. Alles andere widerspricht diesem neuzeitlichen Freiheitsbegriff.
    Wenn man historisch sich das einmal anschaut, wird man auch sofort sehen, dass auch andere Denkformen am Ende immer Denkformen waren, die in der Instanz von Subjekten begründet wurden, die sich dann teils auch als fatal erwiesen haben. Das heißt, es kann heute nicht mehr angehen, Theonomie und Autonomie gegeneinander auszuspielen. Das heißt Theonomie würde sozusagen immer bereits wissen, was das Gesetz Gottes ist - und in der Instanz der Autonomie wird selbst entschieden darüber, was das Gesetz Gottes für die Menschen sein darf. Und spätestens dann, wenn es um individuelle Freiheitsrechte geht, kommt es zum Stechen.
    "Gottesbilder müssen korrigiert werden"
    Main: Bedeutet das letzten Endes auch, dass für Sie nicht genau feststeht, wer oder was Gott ist?
    Striet: Ja, da kommen zwei Punkte zusammen. Zunächst einmal hat die kritische Besinnung auf das Vermögen, das gemeinhin Vernunft genannt wird, gezeigt, dass Menschen zwar notwendig gezwungen sind, wenn sie tatsächlich über das Einzelne hinaus denken, einen Grund von allem zu denken. Aber die menschliche Vernunft erkennt darin gerade ihre eigene Abgründigkeit. Sie kann das Sehnsuchtswort des freien Gottes bilden, aber sie kann nicht die Existenz dieses in diesem Begriff gedachten Gottes absichern.
    Und das ist Moderne: nicht mehr zu wissen, ob tatsächlich der Gott, den man wohl glauben möchte, existiert. Das ist der erste Punkt und der zweite Punkt liegt darin: Wenn ich erst einmal entschieden auf Freiheit setze, auf die Würde der Freiheit setze, dann darf auch nur noch ein Gott akzeptiert werden, der tatsächlich so unbedingt die Würde der menschlichen Freiheit akzeptiert, wie Menschen das zumindest tun sollten. Das führt dann notwendig auch dazu, dass historisch aufgebaute Gottesbilder korrigiert werden müssen.
    Main: Wären Sie Dogmatiker, würde ich jetzt provozierend formulieren, Sie verweigern sich dem Dogma.
    Striet: Nein, ich verweigere mich nicht dem Dogma, aber was ist ein Dogma? Der große Karl Rahner hat einmal formuliert, ein Dogma sei so wie eine Ampel, an der man sich nachts mal anlehnt, wenn man müde wird. Tatsächlich: Die dogmatischen Entscheidungen wollten Richtungen festlegen, aber das bedeutet ja nicht, dass man in dem Moment, wo man erkennt, dass die Argumente nicht mehr hinreichen, nicht auch hier zu Korrekturen in der Lage ist.
    Das Lehramt, das katholische Lehramt hat hier bereits korrigiert. Die Vorstellung der Abstammung der gesamten Menschheit von einem einzigen Elternpaar ist über viele, viele Jahrhunderte vertreten worden und dann schließlich einfach dem Vergessen anheimgegeben worden, weil man erkannt hatte, dass das nicht zu halten ist.
    "Augustinus' Erbsündenlehre ist nicht zu halten"
    Main: Welche Korrektur in der Lehre darüber hinaus halten Sie für dringend nötig?
    Striet: Eine christliche Theologie wird nie von den christlichen Grunddogmen abgehen können, die sich in der Aussage zusammenfassen, Gott ist tatsächlich realiter Mensch geworden als dieser Jude aus Nazareth. Aber es gibt andere, ich weiß gar nicht genau, ob ich sagen würde dogmatische Entscheidungen, aber Lehrstücke, die der Korrektur bedürfen. Da fasse ich vor allem die klassische im vierten, fünften Jahrhundert aufgebaute Erbsündenlehre zusammen, die Vorstellung, dass die gesamte Menschheit sündig geworden ist in der einen Tat Adams und dass diese Sünde durch den Geschlechtsakt weitergegeben wird. Das ist eine unter modernen Voraussetzungen nicht zu haltende Lehre, die auch tatsächlich theologisch fatal sich ausgewirkt hat.
    Skulptur des Heiligen Augustinus am evangelischen Augustinerkloster in Erfurt in Thüringen
    Das Konzept der Erbsünde geht auf den Kirchenvater Augustinus zurück (dpa / picture alliance / Rainer Oettel)
    Main: Stichwort Augustinus.
    Striet: Stichwort Augustinus! Augustinus hat tatsächlich diesen Gedanken entwickelt. Das, was dann als Erbsündenlehre in die Geschichte der Theologie eingegangen ist und zumindest den europäischen Westen, die europäische Christenheit zutiefst geprägt hat, gab es biblisch nicht. Paulus hält nur an dieser Bestimmung fest, dass alle Menschen Sünder vor Gott geworden seien. Er probiert halt, so die Universalität der Heilsbedeutung Jesu klarzumachen, aber Augustinus geht deutlich weiter, sodass Theologiehistoriker wie Kurt Flasch sagen, er habe erst das Erbsündenkonstrukt erfunden. Ich stimme ihm zu, was gleichzeitig dazu geführt hat, dass ganze Menschenteile neurotisiert, das heißt krank gemacht worden sind durch diese Vorstellung, jetzt möglicherweise zu einer ewigen Verdammnis verurteilt zu sein.
    "Ich lege keine christliche Light-Version vor"
    Main: Dann nehmen Sie es natürlich erstens mit einem Großen auf, mit Augustinus, und zweitens könnte man Ihnen vorwerfen, dass Sie so etwas wie eine Light-Version oder eine Diätversion des Christentums, befreit von Schuld, befreit von Sünde, vorlegen.
    Striet: Zunächst einmal, man soll es nur mit den Großen aufnehmen, weil das einzig und allein die Theologie vorantreibt. Nein, ich lege keine Light-Version vor, sondern halte sehr hart daran fest, dass der Mensch, das "nicht festgestellte Tier, der Mensch", tatsächlich Schuld auf sich lädt. Das ist eine allgemeinmenschliche Erfahrung, die auch nicht bestritten wird, die vermutlich niemand auch im öffentlichen Raum bestreiten würde, dass Menschen aktiv schuldig geworden sind und vor allem dass Menschen nicht das getan haben, was sie doch hätten tun können.
    Aber die Frage ist natürlich, ob diese Erfahrung des Schuldig-geworden-Seins auch bereits gleichzusetzen ist mit dem, was die Theologie als Sünde denkt. An der Stelle würde ich unterscheiden: Nein, sündig werden kann man nur vor Gott. Das heißt, man braucht bereits ein entwickeltes Gottesbewusstsein, damit die Schuld zur Sünde wird, und wenn wir das nochmals historisch uns anschauen, historisch dimensionieren, wird man sagen müssen, dass die Vorstellung von Gott, die wir heute vertreten, nicht identisch ist mit Religionsmustern, Gottesvorstellungen vergangener Generationen.
    "Der Name Gottes ist ein Sehnsuchtswort"
    Main: Sie schreiben an mehreren Stellen, Ihnen geht es nicht um Gottesgewissheit, sondern um Gotteshoffnung. Darauf setzen Sie, wenn ich Sie richtig verstehe. Was ist damit gewonnen?
    Striet: Ja, damit ist zunächst einmal intellektuelle Redlichkeit gewonnen, womit ich meine: Da wir nicht wissen, ob tatsächlich Gott existiert, und ich rede immer vom freien Gott, der retten kann, der noch etwas über den Tod hinaus zu tun vermag - da wir nicht wissen, ob dieser freie Gott tatsächlich existiert, gehört es auch zur Redlichkeit dazu zu sagen, dass der Glaube Hoffnung ist, aber kein Wissen. Von daher ist tatsächlich der Name Gottes ein Sehnsuchtswort, an dem sich Menschen orientieren können, aber auch nicht mehr.
    "Das ist kein Relativismus, das ist Kant"
    Main: Ist das blanker Relativismus, wie Ihnen auch ein Berufskollege von Ihnen, der Theologe Josef Ratzinger, immer gegeißelt hat als Papst Benedikt XVI.?
    Striet: Nein, das ist das Gegenteil von Relativismus, weil man ja in dem Moment, wo man tatsächlich auf die eigene Instanz, die Instanz von Freiheit zurückgeht, sich Fragen vorstellen kann: Will ich tatsächlich, dass dieses Leben alles ist? Will ich, dass die ungerecht Gemordeten der Geschichte ungerecht Gemordete bleiben? In dem Moment, wo ich diese Fragen aufnehme und mich in ein Selbstverhältnis zu ihnen stelle und den Satz riskiere, "nein, ich will das nicht", bin ich genötigt, die Gottesfrage zu stellen.
    Von daher findet die Gottesfrage gerade dann, wenn ich sie in der Instanz der Freiheit so formuliere, sozusagen einen Unbedingtheitscharakter, den diese ansonsten gar nicht finden würde. Das ist ganz klassische neuzeitliche Philosophie. Sie hatten den Namen Kant bereits erwähnt. Das ist Kant.
    "Der Zweifel muss zugelassen werden"
    Main: Herr Striet, nun sind wir Menschen des 21. Jahrhunderts mit allen Wassern des Zweifels gewaschen, zumindest jene, die sich nicht von religiösen Fundamentalisten verführen lassen. Erwarten wir aber dann nicht wenigstens vom Theologen, dass er angesichts unserer Zweifel uns Halt gibt und unsere Zweifel anzweifelt?
    Striet: Also meine Erfahrung ist die, dass man in dem Moment, wo man den Zweifel zulässt, und zwar auch intellektuell gerechtfertigt zulässt, mehr Resonanz erfährt, als wenn man sehr vollmundig von Gott spricht. Ich gehe immer wieder auf die Gegenwartskultur zurück.
    Einer der erfolgreichsten Romane aus dem Jahre 2017, bis heute extrem erfolgreich, ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis, ist von Robert Menasse: "Die Hauptstadt". Man muss ja erklären, warum der Zweifel, der in diesem Buch omnipräsent ist, ein Auschwitz-Überlebender, der einen Gekreuzigten betrachtet, und hier ganz explizit das Schweigen Gottes thematisiert, man muss erklären, warum diese Literatur diese Resonanz findet und andere religiöse Gebrauchsliteratur, zumindest im öffentlichen Raum, nicht.
    Gleise zum ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen
    Angesichts von Auschwitz ist die Theodizee-Frage unvermeidlich (imago stock&people)
    Nein, ich meine, es gehört tatsächlich dazu, dass der Zweifel zugelassen wird. Der Mensch, der im Zentrum des christlichen Glaubens steht, endet mit einem Verlassenheitsschrei am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?" Das heißt, der Zweifel gehört sozusagen in den Vernunftgrund, in den Logos des Glaubens selbst hinein.
    Main: Und ist biblisch.
    Striet: Und ist zutiefst biblisch! Erst die nachbiblischen Theologen haben dann den Zweifel denunziert als Ausdruck der Sünde. Biblisch ist zu zweifeln, zu klagen. Natürlich ermutigt man auch zum Glauben, aber die Fragen werden nicht gelöst, während in der antiken Theologie tatsächlich man zu einem Systemdenken übergeht, in dem der Zweifel dann dauerhaft keinen Platz mehr haben konnte.
    "Das Wissen, dass alles geworden ist"
    Main: Allerdings, für Religionskritiker ist es ja selbstverständlich zu zweifeln. Bei denen rennen Sie offene Türen ein. Wen wollen Sie überzeugen?
    Striet: Ich weiß gar nicht, ob ich bei denen offene Türen einrenne. Ich habe in meinen Gesprächskontakten eher den Eindruck, dass man gerade deshalb neugierig wird, weil eben nicht vollmundig von Gott, von einer Gottesgewissheit geredet wird, sondern weil man Zweifel hegt. Also ich nenne einmal einen Philosophen wie Herbert Schnädelbach, Jürgen Habermas, Holm Tetens, die allesamt an der Gottesfrage arbeiten, aber natürlich auf dem entsprechenden intellektuellen Niveau.
    Vielleicht muss man auch sozusagen die These einmal riskieren, dass das Religionsfeld sich sehr, sehr stark ausdifferenziert hat. Es gibt natürlich Religionssegmente, Religionsfelder, wo der Zweifel nicht da sein darf, auch nicht gesucht wird. In großen freikirchlichen evangelikalen Milieus ist das der Fall, aber auch in der Gebetshauskultur, die sich im katholischen Bereich ausbaut, aber das sind dann halt Milieus, die gerade nicht den Zweifel der Moderne wollen, die darum weiß, dass alles geworden ist, aber da wird man sich entscheiden müssen, was man will, als Theologe, aber auch als Kirche, wen man primär bedienen will.
    "Gerade dann fehlt Gott…"
    Main: Jetzt noch einmal jenseits von Habermas - zum Punkt Zweifel. Formulieren Sie doch Ihre Argumente für den Zweifel noch einmal so, dass auch unsere Mütter das Argument verstehen.
    Striet: Niemand, die oder der glaubt, wird angesichts von katastrophalen Erfahrungen, von Schicksalsschlägen nicht dann doch einmal auf die Idee kommen zu sagen: Stimmt das eigentlich, was ich da biografisch eingeübt habe, was ich bisher immer geglaubt habe? Das sind Schläge, die ins Leben hineingehen, die Menschen zutiefst erschüttern. Und gerade dann, wenn Gott am dringendsten gebraucht würde, gerade dann fehlt er und das löst den Zweifel aus.
    "Freiheit zu etwas"
    Main: Freiheit, Herr Striet, ist ein ganz zentraler Punkt in Ihrem ganzen Werk. Zum ersten Mal fiel mir das auf in einem grandiosen Aufsatz von Ihnen, in einem Buch, herausgegeben vom Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz. Freiheit - man könnte allerdings einwenden und sagen, alle reden von Freiheit, von FDP-Chef Lindner bis zu Kardinal Marx. Was ist Ihr Freiheitsbegriff?
    Striet: Ja, zunächst einmal wird man den Freiheitsbegriff philosophisch erörtern müssen. Wenn wir über menschliche Freiheit sprechen, dann reden wir natürlich von einer zutiefst relativen, bedingten Freiheit. Niemand hat sich sein Geschlecht ausgesucht. Niemand hat sich die Biologie ausgesucht, als die er existiert. Niemand hat sich auch die sozialen Verhältnisse ausgesucht, in denen er groß wird, die ihn zutiefst prägen werden bis an sein Lebensende. Von daher ist philosophisch betrachtet Freiheit das, was sich in diesem Raum ergibt; und ich würde an der Stelle gerne nochmals einen Begriff aufnehmen. Dieses Sich-zu-sich-selbst-verhalten-Können in den Möglichkeiten, die der Mensch hat, entdeckt tatsächlich, sich selbst zu bestimmen: das ist Freiheit, aber – und jetzt mache ich zugleich eine andere Abgrenzung – diese Freiheit kann auch ethische Verpflichtungen entdecken.
    In dem Moment hat sie dann nichts mehr damit zu tun, was auf dem allgemeinen Markt als Freiheit kursiert, dass Freiheit tun dürfe, was sie nur will. Nein, ganz im Gegenteil, gerade dann, wenn ich mich so als Freiheitswesen entdecke, kann ich mich auch selbst darauf verpflichten, andere Freiheit achten zu wollen, ihr gegenüber aufmerksam, sensibel und vielleicht sogar barmherzig zu sein.
    Main: Es geht also nicht nur um Freiheit von etwas, sondern auch um Freiheit für etwas?
    Striet: Ja, es geht sicherlich auch immer um Freiheit von etwas, um Freiheit von Zwängen und so weiter. Aber die eigentlich positive Bestimmung ist die Freiheit zu etwas. Was will ich, wie bestimme ich mein Leben bezogen auf mich selbst, aber dann natürlich auch bezogen auf andere Menschen, die sozialen Verhältnisse, engagiere ich mich politisch? Und so weiter und so fort.
    Main: Sind die Kirchen an diesem Punkt entsprechend aufgestellt?
    Striet: Das ist sehr die Frage. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie tatsächlich diesen Freiheitsbegriff verinnerlicht haben. Ich kann das auf jeden Fall für die katholische Kirche sagen, dass man sozusagen im politischen Raum tatsächlich auch für Freiheitsrechte anderer kämpft, aber nach innen hin scheint mir doch da immer noch ein Zwiespalt zu sein, sodass ich mich frage, ob da nicht tatsächlich noch Lernerfahrungen gemacht werden müssen, was Freiheit tatsächlich bedeutet.
    "Es braucht Gründe, Gründe und nochmals Gründe"
    Main: Sehen Sie sich in Ihrer Freiheit als akademischer Forscher und Lehrer eingeschränkt?
    Striet: Nein, ich persönlich sehe mich nicht eingeschränkt. Wer sich öffentlich äußert und auch tatsächlich entschieden äußert, muss damit rechnen, Kritik zu ernten, aber ich habe auch überhaupt kein Problem damit, sozusagen auf diese Kritik zu replizieren. Es gibt ein wunderbares Wort von Hannah Arendt, der großen Philosophin, das lautet: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen". Und dieses Wort gilt es zu lernen, auch im Raum der Kirche. Das heißt, es braucht Gründe, Gründe und nochmals Gründe, was anstrengend ist, keine Frage, aber nur durch Gründe kann man tatsächlich eine Gesellschaft, kann man die Kirche human weiterentwickeln, was dann allerdings auch voraussetzt bei denen, die sich in diese Diskurse einbringen, sich dann zu korrigieren, wenn sie tatsächlich von Gründen überzeugt werden.
    Adam und Eva in einem Gemälde von Bréviaire Grimani
    Adam und Eva essen vom Baum der Erkenntnis (Imago)
    Main: Ich zitiere einmal die beiden Schlusssätze Ihres Buches. Es könnte sozusagen so etwas sein wie der Merksatz für unser Gespräch. Ich bitte Sie dann um eine Deutung. "Vom Apfel der Aufklärung zu essen, schadet nicht. Das kann man wissen." Wie nützt uns das Essen vom Apfel der Aufklärung?
    Striet: Wer vom Apfel der Aufklärung isst, weiß, dass das, was Menschen bestimmt, was Gesellschaften bestimmt, geworden ist. Das heißt, die Normsysteme, die in einer Gesellschaft wirken, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie sind menschengemacht. Wer darum weiß, kann sich selbst und Gesellschaften aufklären, kann auch die Kirchen aufklären - und das befreit.
    Main: Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg im Breisgau. Danke Magnus Striet für Ihr Nachdenken über den Gottesbegriff im 21. Jahrhundert, danke.
    Striet: Ich habe zu danken, sehr gerne.
    Magnus Striet: "Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen"
    Herder Verlag, 157 Seiten, 18 Euro