Lesen Sie hier den Aufsatz "Gnade und Berufung ohne Reue" von Benedikt XVI. mit Geleitwort von Kurt Kardinal Koch.
Christiane Florin: Die Auseinandersetzung geht weiter. Der Ökumenechef des Vatikans, Kardial Kurt Koch, hält Benedikts Text für eine Vertiefung des christlich-jüdischen Dialogs. Die allgemeine Rabbinerkonferenz wiederum kritisiert Koch und den früheren Papst. Das Judentum werde als defizitär dargestellt, heißt es in der Erklärung.
Vor dieser Sendung habe ich mit dem Theologen Gregor Maria Hoff gesprochen. Er ist lehrt Fundamentaltheologe an der Universität Salzburg und ist päpstlicher Berater für das Verhältnis zum Judentum. Meine erste Frage an ihn: Was will der Autor denn nun klarstellen?
Gregor Maria Hoff: Der alte Papst versucht, eine ganz grundsätzliche theologische Frage noch einmal scharf zu machen. Das bedeutet, das Christusereignis und das Bekenntnis zu Jesus Christus für den jüdisch-christlichen Dialog. Ist es konstitutiv auch für das Verhältnis zum Judentum und für die Juden selber auch - gibt es also, hart gesprochen, so etwas wie ein theologisches Existenzrecht des Judentums, auch nach Jesus Christus? Das ist die entscheidende Frage, die letztlich dahintersteht.
Florin: Er stellt die Frage oder stellt er das in Frage, das theologische Existenzrecht?
Hoff: Der Anlass dieses Textes von Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., ist ein Dokument aus dem Vatikan selber, in dem unter anderem sehr deutlich gesagt wurde, es gibt keine Judenmission kirchlich gesehen, es gibt auch theologisch dafür keinen letztlichen Grund. Benedikt XVI. möchte die theologische Begründung dafür präzisieren, er möchte das sozusagen genauer haben. Er spricht in keinem Punkt von Judenmission, das heißt, er will damit auch eben den erreichten Stand im Dialog nicht zurücknehmen und er möchte damit eben auch nicht grundsätzlich in Frage stellen, dass das Judentum für das Christentum etwa eine Bedeutung hat. Aber in der Konsequenz seiner Gedankenführung fürchte ich fast, dass es genau darauf hinausläuft, dass er es in Frage stellt.
Anschlussfähigkeit für theologischen Antijudaismus
Florin: Das Wort Judenmission taucht an keiner Stelle auf in diesem Aufsatz, er schreibt auch nichts über Bekehrung der Juden. Warum dann der Vorwurf des Antijudaismus, den Sie ja auch erhoben haben?
Hoff: Ich unterstelle Benedikt XVI. nicht, dass er in irgendeiner Weise antijudaistisch denkt. Ich unterstelle ihm auch keinesfalls, dass er in diese Richtung hineinmöchte. Aber ich unterstelle dem Text, dass er für theologischen Antijudaismus anschlussfähig ist.
Florin: An welchen Stellen?
Hoff: Vor allen Dingen an dem Punkt, wo er das Motiv der Treue sehr, sehr scharf einspielt. Und das passiert am Ende des Textes. Und von diesem Ende her muss man meines Erachtens auch diesen gesamten Text verstehen und lesen. Da ist die Rede davon, dass in die Geschichte des Bundes zwischen Menschen und Gott - und das betrifft dann eben Israel und Gott, es betrifft genauso auch eben das Christentum und Gott - dass in diese Bundesgeschichte hinein auch die Geschichte des Versagens gehört, das nennt er Bundesbruch, und das ist das Motiv der Untreue.
Und jetzt wird es heiß, hier wird es wirklich prekär: Der Bruch des Bundes, sagt er dann, hat eben ganz konkrete Konsequenzen, innere Folgen. Und das ist dann die Tempelzerstörung und es wird die Zerstörung Israels genannt. Und in diesem Augenblick wird der Bundesbruch von der Seite der allgemeinen Beziehung der Menschheit zu Gott eben ganz auf die Seite Israels geschoben. Das heißt, Israel selber kommt für diesen Bundesbruch auf und muss dann auch für die Konsequenzen geradestehen. Und das ist etwas, was anschlussfähig ist für religiösen, theologischen Antijudaismus.
Anschlussfähig ist es auch dort, wo auf der einen Seite zwar jetzt nicht von Judenmission die Rede ist, auf der anderen Seite aber doch sehr, sehr deutlich wird, dass sich mit der Umstiftung des Sinai-Bundes Joseph Ratzinger dann eben sagt, der Bund eben eine neue und endgültige Gestalt bekommt, und zwar ausschließlich im Christentum. Das würde dann in der letzten Konsequenz bedeuten, müssten dann Juden heute sich genau dem anschließen, um sozusagen die eigene, die innere Konsequenz aus dem Bundesglauben zu ziehen. Das wird anschlussfähig, zum Beispiel für evangelikale Gruppen, die Judenmission proklamieren. Und das ist bereits auch geschehen.
"Das Papier wird antijudaistisch rezitierbar"
Florin: Aber ist es dann nicht das Problem dieser Gruppen? Oder ist das wirklich das Problem von Joseph Ratzinger, Benedikt XVI.?
Hoff: Von beiden. Ein so traditionsbewusster Theologe wie Joseph Ratzinger, der tatsächlich vor allen Dingen immer auch aus den Traditionsbeständen seiner eigenen Kirche heraus argumentiert, muss wissen, mit welchen Traditionen diese Kirche eben auch gearbeitet hat, wie sie sich ausgewirkt haben, wo sie produktiv waren, aber wo sie eben auch durchaus ein Teil, eine Verantwortung, eine Schuldgeschichte auf sich geladen haben im Blick auf das Judentum. Wenn ich ohne weitere Differenzierung immer noch ohne weitere Differenzierungen immer noch das Schema von Verheißung und Erfüllung als eine Grammatik zur Bestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses ansetze, muss ich auch damit rechnen, dass dieser Text dann so gebraucht wird und verstanden wird, wie er faktisch eben auch eingesetzt wird.
Florin: Also der Antijudaismus ist erhoben worden, auch der Antisemitismusvorwurf. Aber kann es nicht sein, dass der ehemalige Papst gar nicht gegen etwas schreibt, sondern für seine Christologie wirbt?
Hoff: Durchaus. Ich glaube, das ist tatsächlich das Drehmoment. Im Übrigen ist das eine ziemlich schwierige Geschichte, weil hier tatsächlich eben auch eine ganz bestimmte Form einer Christologie betrieben wird, mit der nicht zuletzt innerkirchliche, innertheologische Fragen noch einmal angegangen werden, das hat etwas damit zu tun, Benedikt XVI. und vorher auch Joseph Ratzinger, sein theologisches Leben, gegen das, was er Relativismus nennt, angetreten ist. Und dafür bietet die Christologie ein ganz, ganz entscheidendes Modul an.
Er sagt, er wendet sich damit tatsächlich eben nicht gegen etwas primär, das ist nicht seine Absicht, aber das Drehmoment der Argumentation lässt sich genau auf diese Art und Weise abbilden. Und man muss eben auch sagen: Es ist ja nun nach dem Horizont des jüdisch-christlichen Dialogs geschrieben. Dieses Papier antwortet ja letztlich auf eine Vorlage aus dem Vatikan selber. Das heißt, das innerkirchliche ist eingelassen in das jüdisch-christliche Verhältnis. Und deshalb wird es auf diese Art und Weise dann zum Teil auch antijudaistisch rezipierbar.
Die Duplizität Ratzingers
Florin: Der Duktus des Textes ist sehr belehrend, ablesbar an diesem vereinnahmenden Wir, was da sehr häufig auftaucht - also "wir halten fest", "wir haben Stellung genommen". Ehrlicherweise müsste er schreiben: "Ich habe Stellung genommen". Es geht auch in unserem Gespräch etwas durcheinander. Wer spricht denn da eigentlich? Der emeritierte Papst, Benedikt XVI., der emeritierte Professor Ratzinger, die katholische Kirche?
Hoff: Die katholische Kirche definitiv nicht. Und das hat ja Kardinal Koch jetzt in seiner jüngsten Stellungnahme noch einmal deutlich gemacht, das ist sehr selbstverständlich. Das ist nicht eine Position des Lehramtes. Die kann Joseph Ratzinger als emeritierter Papst Benedikt XVI. nicht beanspruchen, das tut er auch nicht. Tatsächlich ist dieser ständige Namenswechsel allerdings etwas, was nicht nur schillernd ist, sondern auch eine ernsthafte Schwierigkeit darstellt. Der Übergang zwischen den ehemaligen Funktionen, muss man fast sagen, und der gegenwärtigen Person wird mehrfach greifbar seitdem er zurückgetreten ist. Einfach deshalb, weil er immer wieder noch einmal gebraucht wird, auch nicht für zuletzt für restaurative, manchmal auch einfach konservative Kreise. Nicht nur, weil seine Positionen dann eben für ihn selber stehen, sondern manchmal eben auch eingesetzt werden, zum Beispiel im Gegenüber zu Papst Franziskus.
Hier spricht faktisch Joseph Ratzinger, niemand anderes. Aber die Zuschreibung bleibt eine, über die er wiederum selber auch nicht einfach verfügt, sondern die freigelassen ist, in die entsprechenden Anwendungsinteressen von solchen Texten. Das ist schwierig, das ist grundschwierig, ein Problem, dass er, als er zurückgetreten ist, nicht einfach dann wieder Kardinal Ratzinger wurde und eine neue Position, muss man fast sagen, jedenfalls eine neue Titulatur innerhalb der Kirchengeschichte gefunden hat. Das ist ganz witzig, jemand der so anti-relativistisch argumentiert, bietet eine Performance, die ein relativistisches Drehmoment hat.
Florin: Und auch das weiße Gewand trägt. Also nicht einfach wieder nur zurückverwandelt wurde in den schwarzen Kardinal.
Hoff: Nein, das ist die Duplizität. Ich bin eine Antwort noch schuldig geblieben. Nach dem "Wir", nach dem Belehrenden – gut, das ist natürlich einfach, das ist ein ganz bestimmter Stil – auch das zeigt genau diese Übergängigkeit an. Der Übergang zwischen Wissenschaft und eben also auch dem belehrenden Moment, das er sein Leben lang auch in seinen Texten drin gehabt hat, auch das macht es nicht gerade leichter. Und zwar aus einem Grund nicht: Natürlich ist das selber kein Dialogtext. Aber dieser Text macht auch deutlich, dass er nicht unmittelbar aus Dialog, aus aktuellem, aus wirklich gelebten Dialog mit einem jüdischen Gesprächspartner entstanden ist, der eben auch ein klares Nein entgegensetzt, die Verletzungen, die man jetzt ja gerade sehr deutlich eben auch in den jüdischen Reaktionen spürt, sind nicht bereits eingegangen in die Textproduktion. Das ist sicherlich auch nochmal, nicht nur ein stilistischer, sondern ein theologischer Mangel an diesem Text.
"Die gegenseitige Bereitschaft zu lernen wäre wünschenswert"
Florin: Der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs, der Rabbiner Walter Homolka hat in der Wochenzeitung Die ZEIT diesen Aufsatz scharf kritisiert. Und er schreibt unter anderem: "Nirgends versucht Benedikt die die Juden als Glaubensgemeinschaft zu verstehen oder gar aus der jüdischen Tradition zu lernen, etwa, dass eine hoffnungslos zerrüttete Ehe geschieden werden sollte, dass auch Frauen das geistlichen Amt ausüben können, dass kein Mensch allein bleiben soll, selbst wenn er Priester ist." Da steckt auch der Vorwurf drin, dass es Benedikt eigentlich um den Kurs der katholischen Kirche geht, um diese innerkatholischen Streitthemen und vielleicht auch um sein Vermächtnis, dass er in Gefahr sieht, dass er sozusagen das jetzt am Beispiel Judentum mal ausprobiert.
Hoff: Tatsächlich würde ich auch sagen, dieser Text ist ein Text auch des Vermächtnisses, in dem Joseph Ratzinger noch einmal klar die christologische Regie schon seit seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation stramm anzieht und versucht, an einem ganz wesentlichen Problem fällt, nämlich dem jüdischen-christlichen Dialog noch einmal deutlich zu machen. Das passt eben zu diesem Motiv des eigentlichen Antirelativismus, was er versucht.
Nur glaube ich, dass der Antirelativismus übersieht - und damit hat Walter Homolka Recht –, dass das wirkliche Lernen im gemeinsamen und geteilten Glauben, im gemeinsamen aber auch unterschiedlich bestimmten Glauben, im gemeinsamen Hoffen zwischen Juden und Christen Lernfähigkeit, und das heißt auch, eine Relativierung voraussetzt, die Bereitschaft, sich relativieren zu lassen und nicht vorab bereits alles zu Wissen. Das Bewusstsein, das man gerade den Glauben an die Geheimnishaftigkeit Gottes mit Juden nicht nur teilt, sondern auch aus dem Judentum gelernt hat, die hat das Konzil, das Zweite Vatikanische Konzil mit "Nostra aetate" sehr, sehr deutlich gemacht. Und etwas mehr von diesem Stil, von diesem Geist, von dieser – auf Walter Homolka hin – Bereitschaft, auch nochmal vom anderen Ende etwas zu lernen. Das wäre sicherlich etwas, das wünschenswert wäre.
Florin: Joseph Ratzinger hat die deutschen Medien immer mal wieder der "sprungbereiten Feindseligkeit" ihm gegenüber verdächtigt. Was erwarten Sie, wenn der Text "Gnade und Berufung ohne Reue" auf Englisch erscheint: Mehr Gnade für Joseph Ratzinger?
Hoff: Es geht nicht um Gnade, es geht um Gerechtigkeit an diesem Punkt. Und zwar um die philologische und die analytisch argumentierende Gerechtigkeit der Positionen gegenüber, die Joseph Ratzinger vertritt, wie er sie entwickelt. Es geht nicht um die Gnade der Person diesem Augenblick gegenüber, sondern um das, was er selber möchte, an Debattenbeitrag zu bringen. Und er muss in aller Nüchternheit und aller Schärfe genau analytisch zur Diskussion stehen, nichts Anderes ist zu erwarten. Und das ist die Form, wie man Joseph Ratzinger als einen hervorragenden Theologen ernst nimmt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.