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Theologie und Corona
Besonnen durch die Glaubenskrise

Das geistige Leben verändert sich, wenn Gottesdienste und Gemeindearbeit wegfallen. Moderne Theologie müsse sich zwar naturwissenschaftlichen Erkenntnissen unterordnen. Dennoch sagte der katholische Theologe Magnus Striet im Dlf: "Ich glaube schon, dass es hilft, sich am Ende in Gott festzumachen."

Magnus Striet im Gespräch mit Christiane Florin |
Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau.
Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg. (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Britt Schilling)
Christiane Florin: Wir haben zu normalen Zeiten oft genug darüber berichtet, dass die Gottesdienstbesucherzahlen zurückgehen. Jetzt gibt es Corona-bedingt fast keine Gottesdienste mehr, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sich Gläubige zur gemeinsamen Feier in einer Kirche versammeln. Die Bistümer und Landeskirchen folgen weitgehend den Geboten von Politik und Wissenschaft.
Das war und ist aber nicht immer so. Die Akzeptanz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse durch religiöse Autoritäten kann schon mal etwas länger dauern, wie das Beispiel Galilei zeigte.
Wie es die Theologie mit der Virologie hält, was nun für das christliche Glaubensleben heilsnotwendig ist und wie systemrelevant Kirchen sind - über so grundsätzliche Fragen möchte ich nun mit dem Freiburger katholischen Theologen Magnus Striet sprechen. Er hat das Grundsätzliche schon im Titel, denn er ist Professor für Fundamentaltheologie. Guten Morgen, Herr Striet!
Magnus Striet: Einen schönen guten Morgen, Frau Florin.
"Eine Ansprache aus einem säkularen Bewusstsein heraus"
Florin: Die Ansprache der Kanzlerin haben Sie gestern Abend gesehen. Es war ein Appell an die Vernunft, eine Bitte um Rücksichtnahme, eine Bitte um Verständnis für Einschränkungen der persönlichen Freiheit. War es auch eine Predigt?
Striet: Ja, man kann sagen, von der Rhetorik her hatte die Ansprache Ähnlichkeiten mit einer Predigt. Aber ich würde es trotzdem anders bewerten. Es war eine Ansprache aus einem säkularen Bewusstsein heraus, ein Appell an Solidarität und Mitmenschlichkeit, ein Appell und ein Bewusstsein, das bei allen Menschen guten Willens möglich sein sollte. Wir leben in einem säkularen Staat und die Bundeskanzlerin ist sich natürlich sehr bewusst darüber, dass sie sozusagen dieses Prinzip gewährleisten muss.
Auf einem Smartphone läuft die Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Coronakrise.
Die Kanzlerin mahnte in ihrer Ansprache zur Besonnenheit (picture alliance/Xinhua / Shan Yuqi)
Florin: Das religiöse Leben in Deutschland hat Angela Merkel nicht erwähnt, weder die Kirchen noch die Synagogen noch die Moscheen - was für die Tochter eines Pfarrers schon erstaunlich ist. Jedenfalls bekam ich heute morgen in meiner Facebook-Blase schon mit, dass Gläubige das als kränkend empfunden haben. Nun kann ich die Kanzlerin nicht fragen, warum sie das nicht erwähnt hat. Deshalb frage ich jetzt Sie: Was denken Sie, warum hat sie nicht darüber gesprochen, was es für die Religionsgemeinschaften, aber auch für eine Gesellschaft bedeutet, wenn Gottesdienste, Freitagsgebete, Schabbatfeiern und auch Gemeindeleben nicht mehr stattfindet?
Striet: Ja, das war sehr auffällig, dass sie religiöse Versammlungen nicht erwähnt hat. Natürlich gibt es im Moment eine Einschränkung der Freiheitsrechte, auch der kollektiven Freiheitsrechte; und darunter fallen dann auch Gottesdienste. Und ich bin auch der Ansicht, dass das völlig legitim ist, diese Rechte mit einzuschränken, schließlich ist die Gesundheit ein sehr, sehr hohes Gut. Religionsfreiheit ist auch ein hohes Gut, aber im Moment gilt eine andere Priorisierung. Deshalb wird eingeschränkt.
Sehr auffällig ist, dass sowohl der Zentralrat der Muslime als auch die Kirchen sich derzeit nicht zur Wehr setzen dagegen, dass zentrale Gottesdienstfeiern eingeschränkt werden. Ich gehe schon fast davon aus, dass es hier auch einen Lernprozess gibt, einen Lernprozess, dass ein säkulares Staatssystem, Gesellschaftssystem andere Priorisierungen verlangen darf.
Die Kirche traut sich nicht, die Stimme zu erheben
Florin: Warum ist das auffällig, dass die Kirchen das Robert-Koch-Institut akzeptieren?
Striet: Ja, es ist sehr auffällig. Und ich gehe fast davon aus, dass sie einen Lernprozess durchmachen, möglicherweise ist es auch so – das beziehe ich aber nur auf die katholische Kirche -, dass man aufgrund starker Krisen, die man in den letzten Jahren erlebt hat, sich im Moment auch nicht traut, sehr wortgewaltig die Stimme zu erheben. Aber ich gehe mal positiv davon aus, dass man einen Lernprozess durchgemacht hat und naturwissenschaftliche Kenntnisse, Wissenskomplexe schlicht und einfach akzeptiert. Deshalb unterwirft man sich jetzt diesen Maßnahmen.
Florin: Sie sagen "unterwerfen" - das ist ja ein starkes Wort. Ist das eine Unterwerfung oder, um es jetzt auf andere Weise pathetisch auszudrücken, ein Sieg der Vernunft?
Striet: Ich hoffe, dass sich hier ein Sieg der Vernunft andeutet. Weihbischof Schwaderlapp aus Köln hat immerhin gesagt, es gelte, das Expertenwissen zu akzeptieren. Ich hoffe nur, dass sich dieses Akzeptanzverhältnis nicht nur auf Viren bezieht, sondern auch auf andere wissenschaftliche Erkenntnisse, unter anderem aus dem humanwissenschaftlichen Bereich. Aber das bleibt abzuwarten.
Florin: Sie meinen jetzt mit Humanwissenschaften vor allem dann auch, was die katholischen lehramtlichen Aussagen über Homosexualität anbetrifft? Dass man da die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kenntnis nimmt?
Striet: Genau.
"Wir haben von einem Fortschritt zu reden"
Florin: Das sind natürlich Debatten, die bis vor wenigen Wochen – oder auch noch vor wenigen Tagen – den katholischen Weltenkreis erregt haben, die aber jetzt Corona-bedingt weg sind. Das ist ja auch auffällig.
Um es noch mal so etwas auf diese philosophische Ebene oder theologische Ebene zu heben: Man sieht ja jetzt auch deutlicher als sonst, dass der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt zwar unser Leben verbessert hat, dass vieles, was früher als Schicksal galt man jetzt nicht mehr akzeptieren muss – Krankheiten wurden besiegt. Aber man sieht doch auch die Begrenztheit der Wissenschaft. Sie kann ja auch nicht alles. Wir haben vorhin kurz die Kirchen kritisiert und ihr Verhältnis zur Wissenschaft. Nehmen Sie denn die Wissenschaft als selbstkritischer wahr als die Kirchen?
Striet: Ich weiß nicht, ob ich mich als wissenschaftsgläubig bezeichnen möchte, aber ich würde zunächst einmal doch ein starkes Pathos für die Wissenschaften vertreten wollen. Also, wenn wir in die vergangenen Jahrhunderte zurückschauen, ins 14. Jahrhundert, Giovianni Boccaccio zum Beispiel, der erschüttert ist von der Pestkatastrophe in Florenz - man schätzt, 100 000 Menschen fallen der Pest zum Opfer. Er spricht in diesem Kontext von einer Grausamkeit des Himmels, die ungeheuerlich groß gewesen sei. Man sieht also, wie die Erschütterungen stattgefunden haben. Und jetzt beginnt man, langsam aber sicher umzudenken, versucht, Welt zu theoretisieren, zu beschreiben, um so effektive Mittel gegen solche Katastrophen zu bekommen.
Ärzte im Mittelalter trugen damals Schnabelmasken. Sie glaubten, das schütze sie vor der Pest.
Die Pestkatastrophen des ausgehenden Mittelalters waren auch ein Motor für die Wissenschaft (picture alliance /Jens Wolf)
Unterm Strich würde ich sagen: Natürlich kämpfen wir immer auch mit Technikfolgen, sozusagen Folgen auch im medizinischen Fortschritt, aber die allermeisten Menschen würden im 21. Jahrhundert nicht so alt werden können, wenn es nicht diese immense Erfolgsgeschichte gegeben hätte. Von daher, natürlich haben Wissenschaften immer auch Grenzen, sie sind limitiert, sie gehen auch ins Offene hinein, sie gehen auch Risiken ein; und trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass wir von einem Fortschritt zu reden haben. Die jetzige Epidemie wäre nicht zu bekämpfen ohne diesen Fortschritt.
Die Theologie hält sich zurück
Florin: Theologinnen und Theologen, Ihre Kolleginnen und Kollegen, sitzen in Ethikräten und viele von Ihnen – gerade die katholischen - sehen Biotechnologie kritisch. Jetzt ist aber die Stimmung so, dass auf jeden Fall ein Impfstoff gefunden werden muss. In meiner Wahrnehmung eigentlich: Egal, was da an vielleicht auch fragwürdigen Technologien strapaziert, benutzt werden muss. Glauben Sie, dass die jetzige Situation auch die moraltheologische Bewertung ändern wird?
Striet: Das ist eine sehr grundsätzliche Frage. Ich bin der Ansicht, dass man tatsächlich die Felder dann auch genau bestimmen muss, auf denen bioethische Fragen zu entscheiden sind. Wenn es um Eingriffe in die menschliche Keimbahn geht, ist es sicherlich viel, viel heikler als wenn es jetzt darum geht, einen entsprechenden Impfstoff, beziehungsweise Medikamente zu finden. Aber das wird man sozusagen genau auf diesen Feldern entscheiden müssen, was zu geschehen hat. Da lassen sich keine pauschalen Antworten geben.
Grundsätzlich bin ich der Ansicht, es gibt überhaupt keine primärtheologischen Zugänge zu diesen Fragen, sondern das sind zunächst alles Fragen, die philosophisch, ethisch entschieden werden müssen. Und Theologinnen und Theologen haben dann vielleicht noch mal eine andere Perspektive auf diese Thematik, aber manchmal ist auch etwas mehr Zurückhaltung geboten als sofort sozusagen mit schöpfungstheologischen oder moraltheologischen Argumenten zu kommen.
Es ist eine sehr, sehr schwierige Situation – und es werden auch Entscheidungen ins Dunkle, ins Ungewisse hinein gefällt werden. Und dann sind die entsprechenden Folgen auch wieder zu bewerten.
"Corona als Strafe Gottes zu bezeichnen ist zynisch"
Florin: Sie haben vorhin das Wort "primärtheologisch" benutzt. Es wird ja jetzt auch häufig die Frage gestellt: Was hat die Theologie oder was haben Kirchen zu sagen, was nicht auch die Kanzlerin oder das Robert-Koch-Institut zu sagen hätte? Mir sind in den kirchlichen Wortmeldungen verschiedene Varianten aufgefallen. Einmal so eine Kinderglaubenvariante, nach dem Motto: Gott beschütze uns vor dem Virus. Eine Coaching-Variante, nach dem Muster: Was können wir aus dieser Krise lernen? Und immer noch, oder jetzt auch noch lauter – die Strafpredigt: Für welche Sünden schickt Gott diese Plage? Deckt sich das mit Ihren Hörerfahrungen? Oder haben Sie noch weitere theologische Deutungsmuster erkannt, herausgehört?
Striet: Nein, das sind die Deutungsmuster, die im Moment wieder gebracht werden. Ich fange mal mit dem letzten Deutungsmuster an.

Im 21. Jahrhundert immer noch solche sozusagen physischen Übel, Naturkatastrophen, als Strafe Gottes zu bezeichnen ist zynisch und zeugt nicht gerade von einer intellektuellen Anstrengung. Das sind schlicht und einfach Prozess, die in der Evolution stattfinden und die haben nichts, aber auch gar nichts mit einem Wirken Gottes zu tun.
Zur ersten Frage – oder zur ersten Deutungsmöglichkeit – würde ich sagen: Was im Moment zu beobachten ist, dass die Kirchen, die Theologien vielleicht auch akzeptieren, dass die Systeme, innerhalb derer sie leben, ihre eigenen Rationalität verfolgen. Das Medizinsystem hat seine eigene Rationalität und die Theologie kann zunächst einmal überhaupt nichts zu dem sagen, was dort passiert. Theologie wird erst dann wieder relevant – oder kommt erst dann zum Vorschein – wenn es darum geht, das Gesamte auszudeuten, also wenn die Frage auftaucht: Wie kann überhaupt so etwas geschehen, wie wir es im Moment beobachten können? Da wird das berühmte Theodizee-Problem angesprochen. Aber vorher, würde ich sagen, sind das alles Logiken, die innerhalb des jeweiligen Systems betrachtet werden müssen – und dafür ist für mich die Theologie nicht zuständig.
Der Schöpfer des Himmels und aller Verderbnis
Florin: Ihr Kollege Günter Thomas, evangelischer Theologe, stellt in einem aktuellen Online-Artikel der Zeitschrift "Zeitzeichen" aber schon Fragen an seine Disziplin, an die Theologie. Unter anderem auch die Frage nach dem Gottesbild. Auch da wieder etwas vereinfacht: Gott der Allmächtige, Gott, der Gütige, Gott an der Seite der Ohnmächtigen, Gott, der - wie es in einem Kirchenlied heißt, - "alles so herrlich regieret". Ich meine, das ist doch alles ziemlich hohl, selbst für gläubige Menschen, die davon ausgehen, dass es Gott gibt. Was wäre da jetzt eine moderne Theologie, die die Zeichen der Zeit aufgreift?
Ernst Jandl bei einer Lesung im Jahr 1992.
Der Dichter Ernst Jandl nahm Gott in die Verantwortung (imago/gezett Deutsches Theater / Kammerspiele Ernst JANDL)
Striet: Da würde ich dem Kollegen auch zustimmen. Es gibt einen wunderbaren Vers von dem inzwischen verstorbenen österreichischen Dichter Ernst Jandl, der spricht von "Gott, dem Schöpfer des Himmels und aller Verderbnis".
Wenn man Ernst macht mit der Vorstellung eines Schöpfergottes, dann wird man sagen müssen, dass alles das, was Menschen widerfährt in der Evolution, tatsächlich auch am Ende von ihm verantwortet werden muss. Damit ist ein Kinderglaube, ein reiner Lobpreis-Glaube am Ende. Das bedeutet nämlich, dass das Gebet immer durchzogen ist auch von Klage, ja von Anklage.
Man kann natürlich auch die Gegenfrage stellen, ob Menschen wollten, dass sie angesichts solcher Epidemien, anderer Katastrophen, Schicksalsschläge, nicht leben wollten. Auch die Frage kann man stellen. Aber man wird auch Gottgläubige nicht von der Frage entlasten können: Warum überhaupt dieses Elend?
"Es hat längst theologische Aufbrüche gegeben"
Florin: Dass jetzt die Theologie nicht sofort Antworten parat hat, dass wir jetzt nicht eine Schublade aufmachen können und sagen können: So, da liegt was. Empfinden Sie das als Missstand?
Striet: Ich bin da nicht so ganz sicher, ob nicht seit Jahrzehnten an einer Theologie gearbeitet wird, die tatsächlich Ernst macht mit solchen Fragen. Ich empfehle Theologie-Studierenden immer als Grundlektüre von Albert Camus - "Die Pest".
In diesem Buch, 1947 erschienen, werden ja bereits alle Fragen durchgespielt. Camus verabschiedet einen Kinderglauben, einen Glauben daran, dass Gott straft – und vor allem bricht er mit der Vorstellung, dass das physische Übel eine Straffolge, bezogen auf eine ursprüngliche Sünde des Menschen, sei. Eigentlich sind sozusagen theologische Konzepte da, um mit diesen Fragen umzugehen. Die Frage ist, ob sie tatsächlich auch in den öffentlichen Raum hineinkommen. Und wer es verantwortet, dass sie nicht hineinkommen.
Florin: Aber Camus ist ein Schriftsteller, er ist ja jedenfalls kein hauptberuflicher Theologe? Das meinte ich eben mit dem Missstand, dass man nicht eine Schublade aufmachen kann und zieht auch ein theologisches Buch raus, das es mit der "Pest" aufnehmen kann. Über die Pest wird ja tatsächlich jetzt sehr, sehr viel – also auch über dieses Buch von Camus – wird ja tatsächlich jetzt sehr viel gesprochen.
Striet: Ja, aber Camus war theologisch sehr gut informiert. Er hat seine Zulassungsarbeit über keinen anderen als Augustinus geschrieben. Und er hat sozusagen bei Augustinus alle Aporien studieren können und die auch tatsächlich studiert, die das theologische Denken verfangen hatte. Und Aporien, in denen das theologische Denken – teilweise bis heute – drinnen steckt. Dennoch meine ich, hat es in den 70er-, 80-er, auch in den 90er-Jahren längst Aufbrüche gegeben, - ich erinnere an den kürzlich verstorbenen Johann Baptist Metz, der davor gewarnt hat, alle diese Übel tatsächlich einseitig dem Menschen zuzuschreiben oder anzulasten.
"Gottesdienst ist zunächst einmal ethische Praxis"
Florin: Ich möchte im letzten Teil unseres Gesprächs noch mal an den Anfang zurückkehren, nämlich auf die gesellschaftliche und politische Bedeutung dieser Tatsache, dass jetzt das, was wir unter kirchlichem Leben, unter Gemeindeleben kennen, in der gewohnten Form nicht stattfinden kann. Der Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz hat vorgestern, also noch vor diesem Appell der Bundeskanzlerin, erklärt in einem Interview: Gottesdienste seien für ihn lebenswichtig, er fühle sich in seiner Religionsfreiheit eingeschränkt, wenn er die nicht feiern könne. Was halten Sie von dieser Kritik?
Striet: Ja, davon halte ich sehr wenig. Natürlich ist es gläubigen Menschen sehr wichtig, ihre Gottesdienste feiern zu können. Aber wir sind im Moment an einem anderen Punkt. Es gibt eine riesige Gesundheitskrise, ein Gefährdungspotenzial; und deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass es auch von staatlicher Seite legitim ist, solche Freiheitsrechte derzeitig einzugrenzen – und zwar auch in dieser kollektivierten Form, das heißt, in der Form von gemeinschaftlichen Gottesdienstfeiern.
Wenn man in die jüdische Religionsphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts blickt, und das wird bis heute fortgesetzt, kann man auch sozusagen den Gottesdienst ganz anders definieren: Gottesdienst ist zunächst einmal ethische Praxis. Und es gibt ein berühmtes Jesus-Logion, das lautet: "Wenn du beten willst, geh in deine Kammer." Das heißt, gerade in diesen Krisenzeiten gibt es meines Erachtens nach sehr, sehr gute Möglichkeiten, Gottesdienst zu feiern: Das kann nachbarschaftliche Hilfe sein, das stille Gebet sein. Und es werden auch Zeiten kommen, wo wieder anders Gottesdienst gefeiert werden kann.
Eine religiöse Ermächtigung
Florin: Noch ist ja nicht klar, wie sich diese Pandemie entwickeln wird und wann so etwas wie Normalität einkehren wird. Wie, glauben Sie, verändert sich eine immer noch so große Institution wie die beiden Kirchen durch diese Zeit?
Striet: Das ist eine spannende Frage, ob die sich überhaupt durch diese Zeit verändern – oder ob die Prozesse nicht schon längst auf einer ganz anderen Ebene laufen.
In meiner Beobachtung ist erstens das christlich-religiöse Feld sehr, sehr stark pluralisiert – das heißt, teilweise sogar auseinandergebrochen.
Und zweitens sind sehr, sehr viele Menschen längst dabei, sich – um es mit einem soziologischen Begriff zu sagen – sich religiös zu ermächtigen. Das heißt, sie suchen sich ihre eigenen Gottesdienstformen. Das kann sehr still sein, dass kann sehr skurril auch sein, aber das pluralisiert sich.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich tatsächlich die Kirchen hierdurch sehr stark verändern. Aber natürlich wird es jetzt in den kommenden Wochen auffällig sein, die Kar- und Ostertage kommen, dass keine großen öffentlichen Gottesdienste stattfinden werden, und ich bin jetzt schon gespannt, wie die Menschen reagieren werden.
"Magisches Eucharistieverständnis"
Florin: Man sieht jetzt ja auch Bilder im Netz von Gottesdiensten, bei denen Priester alleine feiern, ohne Kirchenvolk. Was sagt das? Dass es auch ohne Kirchenvolk geht und man sich auf die Zukunft vorbereitet, in der die Volkskirche wirklich am Ende ist?
Striet: Also nach meinem Dafürhalten steht da eher ein magisches Eucharistieverständnis dahinter. Es mag ja sein – das beziehe ich jetzt nur auf katholische Kirche -, dass die Eucharistiefeier Teil und Höhepunkt des kirchlichen Lebens ist. Aber ich kann mir nicht ernsthaft einen Gott vorstellen, der sich davon abhängig macht, dass Priester alleine Gottesdienst feiern. Andererseits muss man natürlich fairerweise auch sagen: Es gibt Menschen, die das Bedürfnis haben, in irgendeiner Weise zu kommunizieren, auch geistig zu kommunizieren, und die daraus Kraft schöpfen. Meine Form von Frömmigkeit ist dies nicht.
"Vor Gott" in einer Welt ohne Gott
Florin: Die Bundeskanzlerin, um noch mal auf sie zurückzukommen, hat zur Besonnenheit gemahnt. Sie hat gesagt, die Lage ist dramatisch, aber wir sollen eben trotzdem gerade nicht den Verstand verlieren vor Angst. Was helfen Appelle zur Besonnenheit? Was hilft das Appellative in einer solchen Situation?
Striet: Es macht in keiner Krisensituation Sinn, zu überdrehen. Und der Appell der Kanzlerin ging genau dahin, entschieden die Maßnahmen zu befolgen, die jetzt ergriffen worden sind, aber gleichzeitig nicht in Panik zu verfallen. Also beides wird sozusagen notwendig sein.
Und wenn ich hier zu als Theologe noch etwas sagen darf: Es gibt ein wunderbares Wort von Dietrich Bonhoeffer, den ich immer mehr verehre, und das Wort lautet: Das müssten wir lernen, dass wir in einer Welt leben müssen ohne Gott – und das Ganze vor Gott.
Der Theologe, NS-Widerstandskämpfer und Pazifist Dietrich Bonhoeffer (undatierte Aufnahme)
Dietrich Bonhoeffer: In einer Welt ohne Gott leben - vor Gott (dpa / Archiv)
Dieses "vor Gott" meint genau das, was die Kanzlerin vielleicht auch vor Augen hatte, mit einer gewissen Gelassenheit die Dinge kommen zu lassen, wie sie kommen, entschieden daran zu arbeiten, dass sie sich bessern, aber am Ende dann doch ein Gottvertrauen zu praktizieren.
Das hat nichts mit einer Frömmelei zu tun, sondern mit einem Ernstnehmen der Weltschrecklichkeiten, aber es hat auch damit zu tun, zu wissen, dass der Mensch endlich ist, begrenzt in seinen Möglichkeiten. Und wenn er es denn kann, ist es auch sinnvoll, sich in einer größeren Macht festzumachen, die die Menschen Gott nennen.
Florin: Hilft es Ihnen in dieser Situation, Theologe zu sein?
Striet: Ach, das ist eine schwere Frage. Ich weiß auch nicht, ob die Frage sich an einen Theologen oder an einen gläubigen Menschen richtet.
Florin: Das sollte ja eigentlich zusammengehen.
Striet: (lacht) Ja, das ist eine spannende Frage. Ich rede mal aus der Perspektive eines gläubigen Menschen, der aber auch immer wieder von Zweifeln überfallen wird.
Ich glaube schon, dass es hilft, sich am Ende in Gott festzumachen, weil sozusagen dieses Sich-fest-Machen auch noch mal aufmerksam dafür macht, dass die eigenen Möglichkeiten immer begrenzt sind.
Aber ich weiß natürlich auch nicht, wie es sich anfühlt für Menschen, die sagen, mit dem Erlöschen des Bewusstseins ist definitiv alles zu Ende. Das sind sehr komplexe biografische Prozesse, auf die Sie da anspielen.
Florin: Vielen Dank, das sagt Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Uni Freiburg. Und er empfiehlt als Lektüre "Die Pest" von Albert Camus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.