"Es gibt ja diesen alten Streit zwischen den Dichtern und den Denkern, das kann man bis in die Antike zurückverfolgen. Und ich denke, dass der Gedichtband seit der Romantik für Jugendbewegungen häufig eine Rolle gespielt, hat junge Männer mit Gedichtbänden in der Manteltasche. Und ich glaube, dass man die These aufstellen kann, dass nach dem Krieg in den 50er- /60er-Jahren der Gedichtband ersetzt wird durch den Theorieband. Wir alle kennen das berühmte Diktum von Adorno, nach Ausschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben."
"Grau teurer Freund, ist alle Theorie", heißt es schon bei Goethe. Weniger poetische Geister halten Theorie einfach für "abgehoben", für "trocken", für "lebensfern". Doch es gab eine Zeit, da hatte Theorie geradezu Sexappeal, schreibt Philipp Felsch, Professor für die Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität. Da verband sich mit ihr ein "Wahrheitsanspruch", sie war ein "Glaubensartikel" und ein "Lifestyle-Accessoire". In ihrem Licht, so der Berliner Kulturwissenschaftler, bekamen "selbst die alltäglichsten Vorgänge gesellschaftliche Relevanz".
"Es geht um Texte, die schwierig sind, die aber von sich selbst behaupten, dass sie nicht zur Philosophie gehören. Ich glaube, zu diesem neuen Genre sagt man dann Theorie. Was ist Theorie? Theorie ist zum Beispiel insofern nicht akademisch, als dass nicht über den Sinn von Sein nachgedacht wird ... das wäre dann Heidegger, also Adornos Lieblingsgegner ... Und bei Adorno und Walter Benjamin geht es auf einmal um Fragen der Aktualität. Es geht darum, die Gesellschaftsordnung kritisch zu befragen."
In seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie - Geschichte einer Revolte 1960 - 1990" rekonstruiert Philipp Felsch die hohe Zeit der Theorie. Zwar zeichnete sie sich oft durch "glamouröse Unverständlichkeit" aus. Doch je schwieriger die Texte, desto intensiver die Lektüre, desto erhellender die Erkenntnis, mit der man die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen hoffte.
"Ich glaube, dass Denken hat geholfen, um einen bestimmten Lebensstil auszubilden, um eine Idee von sich selbst zu kriegen und davon, was man tun will. Damals war Philosophie eine Ressource um das zu tun, was wir heute als Ratgeberliteratur bezeichnen."
Theodor W. Adornos Rückkehr nach Deutschland
Angefangen hatte alles mit Theodor W. Adorno. Der vor den Nazis in die USA geflohene Philosoph, der 1953 nach Deutschland zurückkehrte, brachte das existentialistisch grundierte Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration auf den Punkt. Düster malte er die moderne Gesellschaft im Zustand ihres "universellen Verblendungszusammenhangs" aus. Sätze wie "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen" oder "Die Welt ist das System des Grauens" passten in eine Zeit, in der das Grauen der Konzentrationslager erst langsam ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit drang.
"Adorno hat den deutschen Studierenden dieser Zeit das Neinsagen beigebracht. Man kann sich das aus heutiger Sicht gar nicht mehr so vorstellen, dass diese Denkmöglichkeit nicht immer schon gegeben ist, weil wir das ja als Gesellschaftskritik üben. Adorno hat das installiert in Deutschland, sicher in einem Klima, wo es das in den 50er-Jahren nicht gab."
Adorno wirkte weit über die Universität hinaus. Er füllte nicht nur Hörsäle. Er wurde zum Publikumsrenner der Kulturformate und Nachtprogramme des noch jungen Hörfunks. Mit Adorno lernte man im Radio, wie man richtig Hegel liest! Und Lebenshilfe leistete der Frankfurter Professor auch:
"Adorno ist sicher das, was man dann später den universellen Intellektuellen genannt hat, also ein Intellektueller, der sich als jemand gesehen hat, der zu allen gesellschaftlichen und auch existentiellen Fragen und persönlichen Fragen Stellung beziehen muss. Es gibt hier in Berlin ein Konvolut an unverlangt eingesandten Briefen, die ich mir auch angeschaut habe, wo wirklich quer durch die BRD, jung und alt, nicht nur Intellektuelle sich an ihn wenden mit Fragen. Und er hat sie alle beantwortet."
Theorie präsentierte sich vor allem bei Suhrkamp, jenem großen Frankfurter Verlag, der unglaubliche Auflagen mit kritischem Denken erzielte. Auch Adorno wurde in diversen Taschenbuchreihen von Suhrkamp verlegt. Dabei hatte der kritische Philosoph doch gerade im Taschenbuch den "Verfall eines Kulturgutes" gesehen. Eine Diagnose, die auch Hans Magnus Enzensberger teilte, da Bildung hinter "bunten Covern zur Ware" verkomme und "Leser zu Konsumenten" depraviert würden.
"Die Edition Suhrkamp in den 60er- und 70er-Jahren gehört diese bunte Regenbogenwand in jedes gebildete Wohnzimmer. Dass man 63, als die Edition eingeführt wurde, lang darüber stritt, eine philosophische Buchreihe als Taschenbuch zu bringen. Und in diese Popfarben zu kleiden, das war hoch umstritten. Und man hat damals zu einer Kompromisslösung gegriffen, die frühen Nummern der Edition, die haben diesen bunten regenbogenfarbenen Einband, den kann man aber abnehmen und darunter kam dann ernsthafter philosophischer grauer Karton zum Vorschein."
Keine Revolution ohne eine Theorie der Revolution
Keine Revolution allerdings, so war das Credo der 68er, ohne eine Theorie der Revolution. Bevor die Welt verändert werden könne, müsse sie erst durchdacht werden. Und so schossen linke Theorie-Zeitschriften, Theorie-Reihen und Theorie-Verlage wie Pilze aus dem Boden. Einer dieser Verlage war der Westberliner "Merve-Verlag", dessen Entwicklung auch im Zentrum von Philipp Felschs Buch steht. Merve verstand sich als "sozialistisches Kollektiv", in dem Leben und Arbeit nicht voneinander getrennt und "theoretische Praxis" betrieben werden sollte.
"Man war keine Kommune, aber man hat zusammen Bücher produziert, man hat diskutiert, man hat diese Reflexionsschleife, dass man, was man druckt, ständig auch auf das eigene Leben anwendet, bis zum Exzess getrieben. Und das ist typisch für diese Zeit. Und dann erfinden die deutschen 68er diesen schönen Neologismus des ‚Ausdiskutierens'. Und das hat bei vielen dann in die Krise geführt, das kann man bei Merve sehen, die Leute haben keine Lust mehr drauf."
Allmählich entwickelte sich aus der "internationalen marxistischen Diskussion", wie Merve sein Buchprogramm nannte, etwas Neues. Zunehmend veröffentlichte der Verlag Theoretiker aus Frankreich. Michel Foucault, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Jean Francois Lyotard, Luce Irigaray; neue Namen, die mit dem alten "Sound der Dialektik" und Adornos Vergeblichkeitsmelancholie brachen. Mit "den Franzosen" konnte man die eingefahrenen Denk- und Diskutierspiralen der kritischen Theorie verlassen.
"Die 70er-Jahre sind die Zeit, in der der Tod des Autors verkündet wird, der Grabstein des Intellektuellen wird aufgepflanzt das Ende des Proletariats, wenig später das Ende der Geschichte. Die Franzosen haben eigentlich mit diesem bei Marx und Hegel vorfindlichen Denkstil der großen Geschichtsphilosophie, die die Geschichte auf ein vernünftiges Ziel hinsteuern sah und dieser kleinen Klasse von Intellektuellen auch eine privilegierte Position einräumen, insofern die das sehen und vielleicht ein klein bisschen steuern können, die haben mit dieser großen Matrix radikal aufgeräumt."
"Die Franzosen" verkündeten das "Ende der großen Erzählungen". Zurück blieb - frei nach Nietzsche - die Erkenntnis der Sinn- und Wahrheitslosigkeit der Welt. Und dieser Nihilismus wurde begleitet von einem abgründigen Gelächter. Im Theorie-Diskurs, schreibt Philipp Felsch, breitete sich eine "eruptive Heiterkeit" aus, schließlich eine "gepflegte Ironie". Und alltagskulturell übrigens auch das Zulassen von guter Laune, die doch in den Kneipen der Linken lange "als Affront" gegolten hatte. Die asketische Strenge der 68er für ‚reine' Theorie zersetzte sich überall. Übrigens auch in der Kunst, in der nicht länger nur Ideen entwickelt, sondern endlich wieder Bilder gemalt wurden.
"In den späten 70ern hört das auf. Und die Maler beginnen wieder, expressiv zu malen. In der Bundesrepublik sind das die neuen Wilden und das ist der Punkt wo der neue nietzeanisch eingefärbte Denkstil sich mit den Künsten versteht."
Geschichte der alten Bundesrepublik
Die Geschichte der Theorie, die Philip Felsch erzählt, ist auch eine Geschichte der alten Bundesrepublik, es ist die Geschichte Westberlins mit seinen intellektuellen Szenen, mit seinen Discos, in denen sich Denker und ihre Verleger trafen. Und eben auch die Geschichte des Merve-Verlags in einer Fabriketage in Berlin Schöneberg. Die Geschichte einer Epoche, in der Denker die Popstars der Intellektuellen waren. Meisterdenker, über die man diskutierte und zu denen man sich bekannte. Derrida oder Habermas? Foucault oder doch Adorno? Das waren Entscheidungen von existentiellem Gewicht. Und heute? Philipp Felsch über seine Erfahrungen mit den heutigen Studenten:
"Es hat sich verändert. Die Franzosen sind immer noch präsent. Die sind inzwischen als Klassiker kanonisiert und werden gelesen und Foucault-Seminare sind immer noch gut besucht Zugleich gibt es eine größere Coolheit der Studenten gegenüber diesen Texten, es bietet auch kein Material mehr für Party-Gespräche."
Sind wir ins Zeitalter "After theory" - nach der Theorie - eingetreten, wie ein Buch des britischen Literaturtheoretikers Terry Eagleton lautet? Gut, es gab Toni Negris "Empire", einen Theorie-Bestseller des Jahres 2000. Der slowenische Philosoph Slavo Zizek gilt als einer der wortgewaltigsten Kapitalismuskritiker der Gegenwart. Der Merve-Verlag brachte 2013 ein Manifest des "Akzelerationismus" heraus, demzufolge Beschleunigung den Kapitalismus zu Fall bringen wird. Alles vielleicht ganz spannend, aber neue wegweisende Gedanken scheinen nicht daraus zu entstehen.
"Ich hab das Gefühl, das Zeitalter der Theorie ist vorbei. Auf der anderen Seite hab ich das Gefühl, es müsste gerade jetzt neu beginnen, denn im Grunde haben wir das Vertrauen in den Staat und den Markt verloren. Und insofern ist die Zeit ideal, neue Gedanken zu entwickeln. Bloß sehe ich sie nicht."