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Theorie der Gerechtigkeit

Der Aufstand in der arabischen Welt passe bestens zur Freiheitsphilosophie Friedrich Helgels. Das sagt zumindest der Philosoph Axel Honneth. Mit seinem Werk "Das Recht der Freiheit" hat er eine gelungene Theorie der Gerechtigkeit verfasst.

Von Christoph Fleischmann | 04.07.2011
    Der berühmteste Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts, der amerikanische Philosoph John Rawls, beginnt seine Theorie der Gerechtigkeit in einem imaginierten Naturzustand: Dort – also noch vor dem Wissen um eine konkrete Gesellschaft – dort könnten sich die Menschen entscheiden, wie eine vollkommen gerechte Gesellschaft aussehen solle. Für Axel Honneth ist das der falsche Ansatz:

    "Ich habe einen bestimmten Vorbehalt gegen allzu abstrakt ansetzende Gerechtigkeitstheorien, die Gerechtigkeitsnormen gewissermaßen unabhängig von den institutionellen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft irgendwie zu konstruieren versuchen."

    Honneth sieht in den Institutionen der modernen Gesellschaften überhaupt erst eine Möglichkeit, sinnvoll über Gerechtigkeit zu reden. Er will politische Philosophie mit Gesellschaftsanalyse verbinden und zeigen, wie die europäische Moderne Institutionen hervorgebracht hat, die bestimmte Werte verkörpern, die uns noch heute in die Pflicht nehmen. Werte fallen bei Honneth also nicht vom Himmel der Ideen, sondern werden in der Geschichte wirksam, zum Teil auch nur als uneingelöste Versprechen. Dabei sei der zentrale Wert der modernen Gesellschaften nicht die Gerechtigkeit, sondern die Freiheit. Honneth ist überzeugt,

    "dass die [ ... ] Kernsphären unserer gegenwärtigen differenzierten Gesellschaft von der Idee der Freiheit leben und zwar spezifischen Ideen der Freiheit, so dass wir die Gerechtigkeit in diesen Sphären als Ermöglichung der Freiheit für alle an den Sphären teilnehmenden Subjekte verstehen müssen."

    In verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, so der Autor, gebe es verschiedene Vorstellungen von Freiheit, die dann unterschiedlichen Institutionen zu Grunde lägen: Er nennt zum ersten die negative Freiheit, die sich im Rechtsstaat institutionalisiert habe:

    "Der Rechtsstaat gewährt eine spezifische Form der Freiheit, eben die negative Freiheit, die es noch nicht ermöglicht mit anderen zu kooperieren und zu kommunizieren, sondern jedem die Chance gibt, sich aus solchen lebensweltlichen Zusammenhängen auch herauszuziehen, um sich freizusetzen davon. Also die Kraft des Rechts ist im Wesentlichen eine negative Kraft, die befreit uns von Belastungen."

    Daneben nennt Honneth noch die moralische oder reflexive Freiheit, wonach ein Mensch frei sei, selbst gewählten moralischen Überzeugungen zu folgen. Diese Freiheit verkörpere sich nicht im strengen Sinne in einer Institution, sondern eher in einem kulturellen Wissen über Moral. Und drittens gebe es die soziale Freiheit, die man durch wechselseitige Anerkennung mit anderen Menschen erfahre. Diese Freiheit liege den modernen Vorstellungen von Familie, vom politischen Gemeinwesen und vom Markt zu Grunde. Diese Kategorisierung der Freiheit impliziert für Honneth auch eine Hierarchie:

    "Die Freiheit, die wir heute geneigt sind häufig ins Zentrum all unserer Aufmerksamkeit zu stellen, die die sich jetzt mal grob als rechtliche Freiheit beschreiben lässt, [ ... ] dass wir über die Möglichkeit subjektiver Rechte verfügen, die uns eben die Chance geben, Ansprüche mit Hilfe rechtsstaatlicher Mittel durchzusetzen, dass diese Form der Freiheit [ ... ] nicht gewissermaßen als der Kern und als der Höhepunkt der Freiheiten in den modernen Gesellschaften verstanden werden sollte, sondern viel eher die, die Hegel eben als soziale Freiheiten versteht, nämlich Freiheiten, die wir überhaupt nur in der Mitwirkung und dem Austausch mit anderen erzielen."

    Im Reich der sozialen Freiheit sei also die Freiheit des Anderen nicht mehr die Grenze meiner eigenen Freiheit, sondern ihre Bedingung. Dass es ausgerechnet in der modernen Wirtschaft um diese Freiheit gehen soll, das ist umstritten. Für Honneth ist der Markt nicht der Ort der individuellen Freiheit, wo Menschen in Konkurrenz zueinander ihr Glück suchen, sondern der Ort der sozialen Freiheit, wo Menschen mithilfe anderer ihre Bedürfnisse befriedigen und deswegen auf Formen der Kooperation angewiesen sind. Damit der Markt aber eine wechselseitige Anerkennung der Marktteilnehmer ermögliche, brauche es radikale Chancengleichheit.

    "Das heißt: Alle Marktteilnehmer müssen die Chancen haben, ihre Talente, ihre Fähigkeiten auf dem Markt auch tatsächlich realisieren zu können, und das heißt, es müssen von Beginn an Verhältnisse gegeben sein, die es allen zukünftig am Markt Beteiligten erlauben, das Beste aus sich zu machen. [ ... ] Am deutlichsten hat das wahrscheinlich der große französische Soziologe Durkheim gesehen, der aus dem Grund auch sogar so weit gegangen ist, das Erbrecht in Frage zu stellen, weil das Erbrecht ist eines der großen rechtlichen Mittel der Verhinderung von Chancengleichheit. Das Erbrecht ermöglicht eben einem kleinen Teil der Marktteilnehmer schon mit wesentlich besseren Ausgangsbedingungen zu starten."

    Hier macht Honneth deutlich, dass die soziale Freiheit noch keineswegs realisiert ist und ein Mehr an Freiheit von der Arbeiterbewegung in den letzten 200 Jahren erst Stück für Stück erkämpft werden musste.

    "Ich glaube, dass alle diese Sphären in hohem Maße von Konflikten und Kämpfen leben; und zwar von Kämpfen um die Erfüllung ihrer jeweiligen legitimierenden Ansprüche. [ ... ] Der Feminismus ist letztlich nur zu verstehen, nach meiner Auffassung, als ein Kampf um die Realisierung von Freiheitsversprechen, die in verschiedenen Institutionen als allgemeine, alle Gesellschaftsmitgliedern inkludierende Ansprüche etabliert sind."

    Honneths Buch ist ein imposantes Werk, das versucht durchzubuchstabieren, was Freiheit in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen bedeutet hat und darauf fußend heute bedeuten sollte. Es bleibt einzig zu fragen, ob Honneth die spannende Dialektik zwischen Freiheit und Gerechtigkeit nicht zu einseitig auflöst, wenn er die Gerechtigkeit als das definiert, was die Freiheit jedes Einzelnen befördert. Gehen dabei nicht Ressourcen für eine Gerechtigkeitstheorie verloren? Dieser Mangel wird aber durch das Herausstreichen der sozialen Freiheit fast schon wieder wettgemacht. Die Differenzierung der drei Freiheitsarten bietet jedenfalls einen hochinteressanten Schlüssel zur normativen Rekonstruktion der modernen Freiheitsgeschichte.

    Axel Honneth: "Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen
    Sittlichkeit", Suhrkamp, 628 Seiten, 34,90 Euro,
    ISBN: 978-3-518-58562-7