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Thierse zu Ökumenischem Papier
"Christlicher Glaube unvereinbar mit totalitären Ideologien"

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hält es für wichtig, dass die Kirchen die liberale Demokratie stärken. "Wir erleben die Zunahme von Nationalismus, von Antisemitismus, von Ausländerfeindlichkeit. Da sind doch gerade auch die Christen aufgefordert, dagegen zu steuern", sagte er im DLF.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Monika Dittrich |
Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse ist SPD-Politiker, ehemaliger Bundestagspräsident und Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Oliver Berg / dpa)
Monika Dittrich: Herr Thierse, ist es Aufgabe der Kirchen, die Demokratie zu stärken?
Wolfgang Thierse: Ich glaube, ja. Zumal in Zeiten, wo Demokratie - zumal unsere liberale rechtsstaatliche Demokratie nicht mehr selbstverständlich ist, sondern gefährdet ist - wie der Blick ringsum in Europa und in die Welt zeigt. Wir sehen plötzlich, dass Demokratie etwas Kostbares, Verteidigenswertes ist, dass die demokratische Lebensform die Lebensform der Freiheit ist, auch und gerade für Christenmenschen.
"Eine makellose Institution gibt es nicht"
Dittrich: Sind die Kirchen denn überhaupt noch eine moralische Instanz?
Thierse: Was heißt das? Die Frage setzt ja voraus, dass eine Instanz, eine Institution absolut makellos und fehlerfrei ist, um sich zu politischen, zu politisch-moralischen Grundsatzfragen zu äußern. Eine solche Instanz gäbe es nicht auf der Welt, weil es keine Institution gibt, die unbefleckt, die makellos ist. Das gilt auch für die Kirchen. Aber dass diese Gesellschaft der moralischen Verständigung, der Versicherung ethischer Grundfragen immer wieder neu bedarf und dass auch die Christen - nicht sie allein -, aber auch die Christen haben mit ihrem Sprecher dazu aufgefordert, sich mit dieser Versicherung an den ethischen Grundsatzfragen zu beteiligen. Davon bin ich überzeugt.
Dittrich: Ich frage Sie das insbesondere als Vertreter der katholischen Kirche, die ja selbst keine demokratische Institution ist und insofern sich vielleicht bei manchen die Frage stellt, inwiefern die da eine Vorbildfunktion haben können.
Thierse: Aber wissen Sie, es geht nicht um Vorbildfunktion. Es gibt in unserer Gesellschaft, in unserer Demokratie viele Teile, viele Institutionen, die selber nicht demokratisch strukturiert sind. Denken Sie an die Kultur, an die Wissenschaft, an vieles andere. Aber die sind doch alle Teil dieser demokratischen Gesellschaft. Sie äußern sich mit der Autorität ihrer Erfahrung, ihrer Einsichten, ihrer Geschichte, ihrer Tradition. Ich würde das den Kirchen nicht bestreiten wollen, ausdrücklich nicht.
"Eindeutige Absage an Fundamentalismus"
Dittrich: Sie haben eben gesagt: Es geht auch darum, die Kostbarkeit der Demokratie zu zeigen, zu bewahren. Ist das auch eine Botschaft an Rechtspopulisten?
Thierse: Ganz gewiss. In dem Papier, an dem ich ja mitgearbeitet habe, steht ausdrücklich: Ein authentischer christlicher Glaube ist unvereinbar mit totalitären Ideologien, mit illiberalen Gesellschaftskonzepten, auch mit religiösem oder politischem Fundamentalismus. Ich denke, das ist eine sehr klare Positionsbestimmung, über die ich mich im übrigen sehr freue, gerade weil die Demokratie, unsere offene Gesellschaft und plurale Gesellschaft fundamental auf so etwas angewiesen ist wie die Fähigkeit zur Toleranz, zu Respekt vor dem Anderen, zu Gesprächsfähigkeit, zu Zuhörbereitschaft, genau deshalb ist die Absage an Fundamentalismus, an Einseitigkeiten totalitärer Ideologie unerhört wichtig.
"Christen sind aufgefordert dagegenzusteuern"
Dittrich: Und ist das in diesem Papier deutlich genug formuliert? Wissen diejenigen, dass sie angesprochen sind im Zweifelsfall?
Thierse: Man muss es ihnen sagen. Natürlich ist ein solches Papier immer auch auf die mediale Vermittlung angewiesen. Aber den Satz, den ich gerade zitiert habe, der ist von absoluter Eindeutigkeit und ich hoffe, dass sich auch diejenigen angesprochen fühlen. Ich erwarte nicht Wunder, aber es ist doch besser, die Kirchen nehmen eindeutig Stellung, als dass sie schweigen, über das, was in unseren europäischen Gesellschaften, auch in Deutschland, passiert.
Wir erleben doch die Zunahme von Nationalismus, von Antisemitismus, von Ausländerfeindlichkeit. Da sind doch gerade auch die Christen - nicht sie allein - aber sie auch aufgefordert, dagegen zu steuern, dagegen zu halten, öffentlich zu widersprechen und jeden einzelnen Christen einzuladen, sich an jedem Gespräch in der Gesellschaft zu beteiligen, das die Zunahme solcher Entwicklungen verhindert.
"Was enttäuscht dich? Warum hasst du?"
Dittrich: Was heißt das dann konkret? Wie sollen Kirchenvertreter denn mit sagen wir mal Rechtspopulisten, mit Antidemokraten umgehen? Sollen sie sie ausschließen oder integrieren? In den Gottesdienst, beispielsweise, oder in die kirchliche Arbeit?
Thierse: Also, aus dem Gottesdienst hat keine Kirche das Recht, jemanden auszuschließen. Zumal es ja am Eingang einer Kirche keine Gesinnungsprüfung gibt. Aber es ist schon die Aufforderung an die Christen, an die Gemeindemitglieder, dem Gespräch nicht auszuweichen, weil es unangenehm ist. Nicht zu schweigen, wenn man erkennt, dass da ein Nachbar, ein Arbeitskollege, ein Gemeindemitglied voller Wut und Hass erfüllt ist. Ich glaube, dass das Gespräch zwischen den Bürgern, zwischen Gemeindemitgliedern von gleich zu gleich viel aussichtsreicher ist als das Gespräch der Politikern, die immer als 'da oben' empfunden werden, und den vorwerfenden, wütenden Bürgern. Weil, das ist eine Grundkonstellation, wo kein wirkliches Gespräch zustande kommt.
Aber zwischen Gemeindemitgliedern, so konkret darüber zu reden: Was ist denn dein Anlass zur Wut? Was enttäuscht dich? Warum hasst du das und das so? So konkret wie möglich! Darüber zu reden, was Anlass ist für entstehende Ausländerfeindlichkeit, für Fremdenfeindlichkeit, für Nationalismus, für die Bereitschaft AFD zu wählen. Ich glaube, das ist dann eine Christenpflicht, dem sich zu stellen.
Dittrich: Herr Thierse, Sie haben als DDR-Bürger und Bürgerrechtler selbst eine Diktatur erlebt. Sind Kirchen gut für die Demokratie?
Thierse: Ich glaube ja. Meine Erfahrung ist aus der DDR, dass die Kirchen Ort der Freiheit in einem unfreien Land waren, das wir dort frei miteinander reden konnten, dass wir dort sozusagen Demokratie miteinander gelernt haben. Auch in der katholischen Kirche habe ich das erfahren, genau so. Und das hat uns vorbereitet für die friedliche Revolution, für das Leben in einer freien, offenen Gesellschaft.
Dittrich:Heute Morgen live bei uns im Deutschlandfunk: Der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident und Mitglied im Zentralkomittee der deutschen Katholiken. Vielen Dank, Herr Thierse für das Gespräch und Ihre Zeit heute Morgen!
Thierse:Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.