Wir sind das Volk"-Rufe / "In Berlin rennen sie schon auf der Mauer rum, und wir stehen hier... Man kann es gar nicht begreifen. das ist Wahnsinn, Wahnsinn!
Es gibt kein Buch, in dem die Erfahrungen jener Zeit für alle gleichermaßen aufbewahrt sind, so wie 'Im Westen nichts Neues’ die Erfahrungen der Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges versammelte."
Schreibt Brussig - und scheut die hohe Messlatte nicht. Doch wo Remarque blanken Realismus wollte, neigen Brussigs Gestalten zur Karikatur - in satten Farben gemalt. Das Buch ist alles in einem: Reportage, Schwank, Krimi und Gleichnis.
Brussig gibt dem Leser ein Fotoalbum in die Hand, voller Schnappschüsse, und auf diesen Bildern tauchen 20 Menschen auf. Krankenschwestern und Krankenwagenfahrer, Bandleader und Hochstapler; Star-Reporter aus dem Westen und dicke Fische im Karpfenteich DDR. Die einen haben was zu gewinnen, die anderen viel zu verlieren mit der Maueröffnung. Die Großen werden herrlich karikiert, die Kleinen zeichnet Brussig mit feineren Strichen, so dass am Ende selbst eine mausgraue, einfältige SED-Parteisekretärin wie Kathleen Bräunlich den Leser anrührt.
Die Bilder fürs Wende-Fotoalbum liefert ein junger Fotograf - einer, der sich einen schrägen, einfühlsamen Blick bewahrt hat. Vor allem auf die Hauptprotagonistin, die rollschuhfahrende Physiotherapeutin Lena - in die ist er nämlich verliebt, weshalb sie der rote Faden in einem Wollknäuel von Erzählsträngen ist.
Es waren nur bestimmte Fotos, die auf sie solch starke Wirkung ausübten - jene vom Herbst 89 und dem 'Deutschen Jahr’. Die Bilder sind verschwommen, und die Geschichte beginnt von Neuem.
Sie beginnt mit Paulchen, Lenas 29-jährigem Freund, einem kommunikationsgestörten Krankenwagenfahrer und Radiobastler:
Mittlerweile war er Techniker einer Band, einer Band allerdings, die nicht wie jede ordentliche Rock’n Roll-Band laute und schmutzige Lieder johlte, ihre Wut auspackte und gehörigen Lärm produzierte, nein, Paulchens Band machte etwas, das sich Trickbeat nannte.
Im Buch nennt sich die Band Planquadrat, im real existierenden Sozialismus hieß sie AG Geige. Bandleader Paulchen, der Stille, ist einer der ersten im Panoptikum der Roman-Figuren, die rübermachen: über Ungarn in den Westen. Das kommt für die bis zur Penetranz idealistische Lena nicht in Frage. Sie bringt es zur Heldin der Revolution - zumindest in Karl-Marx-Stadt. Keck hält sie in ihrer Schwesterntracht eine Rede vor’m Karl-Marx-Denkmal und komponiert einen Revolutionshit.
Lena war spätestens seit ihrer Rede auf dem Krankenwagen eine Jeanne d’Arc von Karl-Marx-Stadt. Lena war jung, aber ihr Instinktwissen um die Einmaligkeit dessen, was wir erleben, gab ihr eine Autorität, die unheimlich mitreißend war. Lena, die das Einmalige, das Nochnieerlebte und das Niewiederkommende diese Wochen verkörperte, machte einer ganzen Stadt Lust auf Veränderung.
Wenig Interesse an Veränderung hat hingegen Valentin Eich - ein Mann, dessen Job eine echte Herausforderung ist:
Er ähnelte am ehestem dem, was zuletzt von einer armen Müllerstochter erwartet wurde: Stroh zu Gold spinnen. Er sollte Devisen ins Land holen. (...) Und wie? (...) Es gab Intertank, wo sich für Westgeld tanken, Intershop, wo sich für Westgeld shoppen, Interflug, wo sich für Westgeld fliegen und Interhotel, wo sich für Westgeld schlafen ließ.
Die Persiflage auf den DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski in dessen zunehmend sich steigernder Panik liest sich köstlich. Am Ende landet er in Bayern, und dort bricht aus ihm heraus, was nie herausbrechen durfte: Seine Bewunderung für Adolf Hitler. Dessen Feriendomizil besichtigt er zusammen mit seinem ehemaligen SED-Kumpel Alfred Bunzuweit:
Ist vom Adolf, aber nicht so bekannt’", sagte Valentin. 'Den Berghof kennt jeder, das sind diese Farbfilme mit dem Alpenpanorama, der Führer, Eva Braun im Liegestuhl, die Blondie streichelt ... Aber das haben die Amis fünfundvierzig alles kaputtgebombt. Da ist nicht mehr viel übrig.’ Alfred Bunzuzweit glaubte, er hört nicht richtig. Bestimmte Dämme, glaubte er immer, halten. (...) Valentin sprach leise, diskret - wie immer, wenn man bewundernd von den Nazis spricht.
Alfred Bunzuweit seinerseits ist Direktor des Haupt-Romanschauplatzes, des Ost-Berliner Palasthotels. Mit ihm füllt sich die Bühne mit Geräuschen und Gerüchen, man hört den arg von Flatulenz Geplagten herzhaft furzen, riecht das Bratenfett, in dem er die Kartoffelpuffer für den DDR-Devisenbeschaffer Valentin Eich brät.
Dass der Direktor eines Fünf-Sterne-Hotels in der Küche seines Restaurants dem heimlichen Finanzminister ein simples Traditionsgericht zubereitet, ein Arme-Leute-Festmahl, war ein Akt von Guerilla-Snobismus, dessen Charme sich beide nicht entziehen konnten.
Ebenso wenig kann Bunzuweit sich der Aura der Macht entziehen. Die SED wackelt, da sucht er sich eben eine neue Autorität - und die tritt ihm gegenüber in Gestalt des Hochstaplers Werner Schniedel. Der 19-jährige Wessi, ein eher armes Würstchen, gibt sich als Sohn des VW-Vorstandsvorsitzenden und Sonderbeauftragten des Autokonzerns aus - und alle glauben ihm, wollen ihm glauben in dieser an Orientierung armen Zeit. Ironie der Geschichte, dass die Planwirtschafts-Bonzen ausgerechnet in der Marktwirtschaft Halt suchen, wie Schniedel selbst erkennt:
Er war zu einer Zeit, da die Obrigkeit vor die Hunde ging, die letzte Hoffnung, dass es auch weiterhin Obrigkeiten geben wird.
Der Hochstapler Werner Schniedel erinnert entfernt an Gert Postel - wie überhaupt viele Protagonisten in Brussigs Kaleidoskop-Roman ein Abziehbild realer Gestalten sind. Brussig spinnt mit Fantasie weiter, was die offiziellen Biografien nicht hergeben: Wie sich ein Schalck-Golodkowski fühlt, wenn ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wie eine Anwältin namens Gisela - auf Gregor Gysi zu kommen, ist keine Gedankenakrobatik - ihre Stasi-Akte verbrennt und sich immer noch den eigenen Mandantenverrat schönzureden versucht. Doch nicht nur auf ostdeutsche Prominenz zoomt Brussigs Kameraauge, sondern auch auf den Reporter eines großen Nachrichtenmagazins. Leo Lattke heißt er - und Spiegel-Autor Matthias Matussek hat sich unlängst durchaus geschmeichelt darüber geäußert, als Vorlage für diesen blendend aussehenden Zyniker gedient zu haben. Staunend beobachtet Lattke, was mit den zuvor so grauen Ossis vor sich geht.
Eine wirkliche Befreiung hatte stattgefunden. Es lag ein Leuchten über diesen Menschen, aus ihnen flutete rauschhafte Freude." - "Ostberlin war durch seine vor Glückseligkeit aufgekratzten Passanten nicht wiederzuerkennen. Es war, als hätte die ganze Stadt vor einer halben Stunde den Fick ihres Lebens gehabt - das Leuchten in den Augen zumindest war das Leuchten, das Leo Lattke von den Frauen nach einem Orgasmus kannte.
Die Geschichten liegen auf der Straße in der Wendezeit, und ausgerechnet in dieser Situation lähmt den Berufszyniker eine Schreibblockade. Doch bevor Lattke am Ende doch noch seine Geschichte und ein wenig Einfühlungsvermögen findet, geht es für den Rest der Brussigschen Bühnenbesetzung schon bergab.
Der Zukunftsoptimismus eines Helmut Kohl verfliegt schnell. Mit der Maueröffnung ist der Zenith der Einheitseuphorie überschritten, danach macht sich Ernüchterung breit. Es geht abwärts, und auch das in einer Vielzahl von Episoden: Dr. Erler, beispielsweise, ehemaliger Direktor des Aufbau-Verlags, führt im Roman am Ende westdeutsche Immobilienhaie durch die Mark Brandenburg - die auf den Spuren von Fontane nichts anderes suchen als rentable Investitionsobjekte.
Inzwischen war Dr. Erler für diese Art der Landschaftsbetrachtung schon längst sensibilisiert: Einer der beiden Grundstücksmakler hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, auf jedes einzeln stehende Haus zu zeigen und zu fragen: 'Gibt’s bei Fontane was drüber?’ Für den war Fontante wahlweise Gutachter oder Werbetexter.
Selbst die schöne, idealistische Lena hat das Gefühl, dass "irgendwas in ihr gewöhnlich wird".
Sie hatte den Moment verpasst, an dem die fröhliche Revolution zu Ende war. Sie WAR zu Ende. Sie war in dem Augenblick zu Ende, als es eine Regierung gab, die ihre Macht zur Disposition stellte. Jeder konnte sie haben, die Macht.
Am Ende lässt auch sie sich blenden vom Westen, scheint Brussig sagen zu wollen. Erst lässt Lena sich von dem Zyniker Leo Lattke flachlegen, dann lernt sie rechnen. Dass aber ausgerechnet sie letztlich aus dem Tausch von Ost- in Westmark Kapital schlagen will - das steht für Brussigs These, dass die Wende Menschen korrumpiert hat, Ossis wie Wessis. "Vor und nach dem Geld" heißt deshalb der vorletzte Teil des Buches. Es läuft darauf hinaus, dass Lena mit dem Revolutionsliedchen, das sie so spontan in Wendezeiten über den Äther trällerte, eine Menge Geld macht. Dass sie aber die Musik nicht selbst komponiert hat, sondern ein ehemaliger Trickbeatle, ein Bandmitglied. Und der erstattet nun Anzeige, weil er von den Tantiemen nichts abgekriegt hat. Beim Geld endet die Freundschaft. Wenn Brussig via Lena so ernste Sachen sagen will, dann wird er manchmal etwas klischeehaft:
Ihr habt die härteste Währung der Welt, und ihr seid da auch noch stolz drauf. In Wirklichkeit macht euer Geld hart. Ihr seid es schon, und wir werden es noch.
Dass sie einem Straßenmusiker, der mit einer Mütze Geld sammelte, zuvor die kleine Spende verweigert hat - das verschweigt sie wohlweislich. Lena nimmt Schaden an ihrer Seele, der wilde Willi, ein Ex-Kollege, stirbt gar an der Rohheit der feiernden Einheitsmeute. Ihn trifft, beim Zungenkuss unter dem Brandenburger Tor, eine Sektflasche, die Rowdys von dort oben herunterschleudern. Brussigs Stärke liegt in der Überzeichnung, auch in der Boshaftigkeit, aber: In "Wie es leuchtet" hat er auch ein Gespür entwickelt dafür, dass seine Protagonisten nicht nur gierig und übermütig sind beim ersten Kontakt mit dem Westen, sondern auch verletzlich, sehr sogar.
Und so sitzt der Leser vor seinem Fotoalbum der Wendemonate wie in der Manege und lacht - aber so, wie man über einen Clown lacht, der mit breitesten Lachen der Länge nach hinschlägt. Manchmal allerdings schlägt Brussig über die Stränge - aber das ist Geschmackssache. Da baut er einen Schwank ein von sieben unfertigen Transsexuellen aus der DDR. Die wurden nach langem Warten endlich operiert - und dann von ihrem in den Westen rübermachenden Arzt unfertig zurückgelassen.
Alle haben die Freiheit, nur wir nicht’, sagte eine Stoppelbärtige, mit Männerstimme. Es war der traurigste Satz, den Prof. Dr. Rüger Jürgends seit Wochen gehört hatte.
An den unfertigen Transsexuellen lässt sich aber auch aufzeigen, was Brussig häufig anwendet: Er lässt Menschen als Parabeln stehen für Rausch und Kater der Wende. Die Transsexuellen sind weder Fisch noch Fleisch - doch deren Zerrissenheit steht am Ende nur stellvertretend für die einer gesamten ostdeutschen Generation.
Nicht nur die Transsexuellen lässt Brussig gerne auflaufen, sondern vor allem die Normalos, die in der Wendezeit auf Biegen und Brechen alles mitnehmen wollten und sich damit lächerlich machten.
Der so genannte "kleine Dichter" gehört zu denen, die sich treu bleiben, er bleibt renitent oppositionell. Was er am Ende in einem Gedicht formuliert, könnte man auch als Moral von der Geschicht’ lesen:
Da bin ich noch, mein Land geht in den Westen
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Sandra Pfister über Thomas Brussig: "Wie es leuchtet". Der Roman ist erschienen im S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 606 Seiten zum Preis von 19,90 Euro.