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Thomas Kunst: "Freie Folge"
Poetische Explosionen

Ein weißer Polarfalke, ein rumänisches Dienstmädchen, eine Geisterstadt in Grönland - das sind nur drei Elemente von Thomas Kunsts Roman "Freie Folge". Der Lyriker verlässt in seiner formstrengen Prosa das lineare Erzählen und verfolgt fiebrige Gedanken.

Von Joachim Büthe |
    Ein Gerfalke bei einer Falkner-Show in Wilhelmskirch (Baden-Württemberg)
    Ein Gerfalke bei einer Falkner-Show in Wilhelmskirch (Baden-Württemberg) (dpa / picture alliance / Inga Kjer)
    Es gibt Bücher, nach deren Lektüre man sich verwundert am Kopf kratzt und sich fragt, was der Autor da eigentlich gemacht hat und vor allem, was er mit mir, dem Leser gemacht hat. "Freie Folge" von Thomas Kunst ist ein abenteuerliches Buch, das in der Idylle beginnt, auf einem abgeschiedenen Grundstück im Wald, von dem aus es sich in viele Weltgegenden ausweitet. Doch zunächst scheint es ein formstrenges Buch zu sein, das den Leser sprachlichen Exerzitien unterzieht. Das liegt an den Wiederholungen von Textpassagen als durchgehendes Prinzip, mal wortwörtlich, mal mit minimalen Abweichungen, gelegentlich auch mit größeren oder als Umkehrung, die vorherige Aussage auf den Kopf stellend. In gewisser Weise ist "Freie Folge" geschriebene Minimal Music.
    Thomas Kunst: "Ich höre grundsätzlich zum Schreiben Musik, ganz unterschiedliche Komponisten, viele Amerikaner, La Monte Young habe ich viel gehört, diese langen Improvisationsphasen, die über eine Stunde gehen jeweils. Ich verlasse mich auch darauf, dass mich die Musik dann zu Sachen treibt. La Monte Young zum Beispiel kommt selbst vor. Er spielt in diesem Parlamentsgebäude in Bukarest zur Ceaucescu-Diktatur eine Rolle, in dem die Hauptfigur Ioana eine Improvisation von ihm spielt, umgeben von Bergarbeitern aus dem Schil-Tal und von ungarischen Hooligans."
    In eine solche Umgebung ist La Monte Young bisher noch nicht gestellt worden. Hat man zunächst den nicht unberechtigten Eindruck, das Buch sei aus Textblöcken entstanden, die sich überlagern und ineinanderschieben, so bemerkt man mit der Zeit, wie sich Elemente des Unwahrscheinlichen und Fantastischen aufsprengend in die strenge Struktur einschreiben.
    Thomas Kunst: "Diese Textblöcke haben auch damit zu tun, dass ich eigentlich Lyriker bin und immer dieses Misstrauen hatte in mir, nie einen Roman schreiben zu können. Einen Roman davor, vor vier Jahren, hatte ich im Untertitel genannt eine Romanresignation. Ich bin einfach ein völlig unsicherer Prosaschreiber und denke doch, dass diese Art zu schreiben sich aber doch gegen andere Arten behaupten kann, weil sie ganz andere Möglichkeiten hat. Weil sie das lineare Erzählen verlässt, um versuchsweise über kleine unabhängige poetische Explosionen, deren Krater dann verbunden sind, zu erzählen."
    Ghostwriter-Auftrag: Ein Roman über die Jagd
    Angefangen hat dieses Hantieren mit den poetischen Explosivstoffen mit dem Ansinnen, als Ghostwriter einen Roman über die Jagd zu schreiben. Damit hat sich Thomas Kunst nicht anfreunden können, doch das Thema der Jagd grundiert sein Buch. Wir kehren noch einmal zurück an den Ausgangspunkt, das abgeschiedene Grundstück in den Wäldern.
    Thomas Kunst: "Um mich zu vergewissern, worüber ich überhaupt schreiben will, habe ich dieses Szenario im Wald entworfen, diese Familie mit der Ihde, die als Frau benannt wird. Der Mann wird nicht benannt und die beiden Kinder, der Junge und das Mädchen, die kriegen auch keine Namensbezeichnung. Als Gag oder als resignative Geste führe ich immer wieder an, sie jetzt genauer zu beschreiben, würde zu weit führen. Das wiederhole ich auch bis zur Unerträglichkeit und Peinigung. Das ist ein Prinzip. Ich möchte dem Leser auch zur Last fallen. Ich möchte ihn nerven, weil ich selber, meine Erfahrung als Leser, immer Freudensprünge vollführe, wenn ich derart genervt werde, wie mir das hier vorschwebt."
    Ohne Exerzitien sind die poetischen Explosionen bei Thomas Kunst nicht zu haben. Das eher ereignisarme Leben der Familie im Wald, zu der noch das schöne rumänische Dienstmädchen Ioana gehört, die heimliche Hauptfigur, gerät allmählich aus den Fugen, wenn nicht in der Realität, so doch in den Köpfen, was nicht zuletzt an Ioanas erotischer Ausstrahlung liegt.
    Thomas Kunst: "Es ist ja immer so, dass unterdrückte Sexualität in den günstigsten Fällen zu Poesie führen kann, weil die Fantasietätigkeit dann losgetreten werden kann. Dieses Prinzip habe ich einfach genutzt. Ich habe die unterdrückte Sexualität des Mannes benutzt, um ihn nach Grönland zu führen, um dort mit Inuit-Frauen zusammenzuleben in einer Geisterstadt. Das hat schon Spaß gemacht, und es gibt durchaus ein sexuelles Verhältnis zwischen diesen drei Personen. Aber die deutlichste Figur, die ich während des ganzen Romans beschrieben habe, ist das rumänische Dienstmädchen Ioana."
    Natürlich ist Ioana in den Inuit-Frauen anwesend, die weiblichen Figuren des Romans verlieren zusehends an Trennschärfe. Zu beschreiben, was an weiteren Abenteuern noch auf den Leser zukommt, würde zu weit führen. Eines aber muss noch erwähnt werden, weil es ebenfalls nach Grönland führt und zudem für den Titel dieses Romans verantwortlich ist. Von der Jagd ist es nicht weit zur Falknerei.
    Thomas Kunst: "Ich wollte den schönsten Vogel beschreiben, den es gibt, und mir war von Anfang klar, das musste ein Greifvogel sein. Dann habe ich recherchiert und sah, dass der schönste Greifvogel unter den Fachexperten der Gerfalke, der weiße Polarfalke ist. Dann ist mir bei dieser Recherche aufgefallen, dass Hermann Göring 1938 eine Expedition nach Grönland angeregt hat, die diesen Falken in Deutschland ansiedeln sollte. Das ging aufgrund der klimatischen Bedingungen nicht. Das war dann meine Idee, auf meine Art diesen Falken in dieser alten Kühlhalle in Nolten anzusiedeln. Aber das ist so ein fiebriger Gedanke gewesen, der mit den Irrtümern und Wahnideen dieser Figur zusammenfällt."
    Von Baum zu Baum
    Der Gedanke ist so fiebrig, dass das eisige Polarfalkenexperiment des unbenannten Mannes und Vaters im Kapitel "Tropical Island" angesiedelt werden muss. So fließen bei Thomas Kunst die Gegensätze zusammen. Wo künstliche Tropeninseln sind können auch künstliche Eiswüsten sein. Ähnlich verhält es sich in diesem Buch mit den Textsorten, die wir gewöhnlich getrennt voneinander betrachten. Immer wieder streut Thomas Kunst Gedichte in diesen Prosatext ein, und auch die wiederholten Textpassagen lesen sich, wenn sie als Gedichte gesetzt sind, ganz anders, Gedichte in Prosa eben.
    "Freie Folge" meint in der Falknerei übrigens den Moment, in dem der Vogel dem Falkner von Baum zu Baum folgt. Eine freie Folge ist auch dieser Roman, denn er folgt keinem strengen Bauplan.
    Thomas Kunst: "Ich musste quasi so lange immer wieder von vorn anfangen bis die Zündung los ging und ich mich dann freigeschwommen habe. Das hängt damit zusammen, dass mein Stil keiner ist, der über Entwürfe oder Konzepte funktioniert, sondern ich bin ein ziemlich intuitiver Schreiber, der am liebsten hat, wenn er nicht weiß, was am nächsten Tag geschrieben wird."
    Dennoch zerfällt der Roman nicht in seine Einzelteile. Das ist auch den Wiederholungen geschuldet, die das Buch zusammenhalten. Man folgt, um im Bild zu bleiben, dem Falkner Thomas Kunst gern von Baum zu Baum, auch wenn das nicht immer ganz einfach ist. Allenfalls das Schlusskapitel ist mit dem vorherigen Geschehen nur noch lose verbunden. Es bildet eine Art Crescendo. Und die Musik zum Roman hat Thomas Kunst gleich mitgeliefert.
    Thomas Kunst: "Ich nenne das immer Soundtrack zum Roman. Das ist jetzt die zweite Musik, die ich einem Roman beigelegt habe, weil ich auch ein sehr leidenschaftlicher Musiker bin und es liebe zu improvisieren, genauso wie ich es liebe, improvisierend zu schreiben."