"Sie müssen bedenken, dass es ein rechtes Wagnis für mich ist, mich auf die Welt des Religiösen einzulassen, die ich eigentlich und persönlich nur in Form der schlichtesten Verehrung des Unerforschlichen kenne."
Thomas Mann ist 50 Jahre alt, als er dies 1925 bekennt. Er ist ein erfolgreicher Autor, steht aber noch nicht auf der Höhe seines Ruhms: Der Nobelpreis wird ihm erst vier Jahre später, 1929, verliehen werden. Der Autor der Romane "Buddenbrooks" und "Der Zauberberg" oder der Erzählung "Der Tod in Venedig" wohnt in München in einer Villa an der Isar und durchlebt die stabilste Phase seines Lebens. Er weiß noch nicht, dass die Nationalsozialisten, die er bereits bekämpft, an die Macht kommen werden, dass er mit seiner Familie fliehen und in der Schweiz, Frankreich und in den USA leben wird.
Das alles liegt 1925 noch vor ihm. Thomas Mann lässt sich in dieser Zeit geistig auf eines seiner großen Abenteuer ein, das ihn durch viele Jahre im Exil begleiten wird: Die Welt der Väter des Alten Testaments will er neu entstehen lassen. 1925 beginnt er mit den Vorarbeiten für den Roman "Joseph und seine Brüder".
"Ich las die Schöpfungsgeschichte, las die Geschichten Abrahams, des unruhevollen, des zu neuen Ufern der Gotteserkenntnis getriebenen Wanderers, las die Geschichte Josephs und seiner Brüder, diese Perle des Alten Testaments, die auch im Koran berichtet wird, aber in der Bibel ihre menschlich schönste, wenn auch allzu lakonisch-knappe Form gefunden hat."
Er erzählt von Joseph, Jakobs geliebtem Sohn, der etwas selbstherrlich ist, den seine Brüder deshalb zur Strafe in einen Brunnen werfen, der gerettet wird, nach Ägypten gebracht, dort als Traumdeuter und Wirtschaftsminister des Pharaos zu Ruhm und Ehre gelangt und sich am Ende mit seinen Brüdern aussöhnt.
Zunächst wollte Thomas Mann nur ein wenig ausführlicher werden als die Bibel im Ersten Buch Mose, aber, wie so oft, wächst das Werk unter seinen Händen immer weiter und so schreibt er – mit Unterbrechungen – 16 Jahre lang an den vier Bänden des Romans mit insgesamt 2000 Seiten.
Er erzählt dabei nicht allein die Lebensgeschichte von Joseph, seinen Brüdern, ihrem Vater Jakob und dessen Frauen Rahel – der geliebten – und Lea – der ungeliebten, aber gebärfreudigen. Nein, Thomas Man erzählt nichts Geringeres als die Entdeckung Gottes. Es geht dabei letztlich immer um die Frage: Gibt es einen Gott oder das Göttliche? Oder ist Gott nichts anderes als eine Phantasie des Menschen, die es ihm ermöglicht, die Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten des Lebens zu ertragen, weil er die Verantwortung dafür diesem Wesen zuschreiben kann?
"Abraham entdeckte Gott und machte einen Bund mit ihm, dass sie heilig würden – einer im anderen," das sagt Joseph von seinem Vorfahren Abraham und erklärt auf diese Weise dem Pharao, dem Herrscher über Ägypten, das Wesen seines Gottes. Es ist der eine Gott, der sich entdecken lässt, damit er und der Mensch zu neuer Größe und Bedeutung wachsen. Joseph fühlt sich als Kind dieses Gottes im Himmel, während der Pharao noch auf den Gott am Himmel schwört, auf den Sonnengott.
Ein Autor taucht in die Forschung ein
Für die Beschäftigung mit der Joseph-Geschichte ist Thomas Mann tief in die damalige Forschung des Alten Testaments und der Ägyptologie eingedrungen. Nie zuvor hatte er sich so intensiv mit religiösen Fragen beschäftigt. Er will die archaische Lebensform der biblischen und orientalischen und ägyptischen Antike kennen und nachvollziehen lernen.
Thomas Mann führt die Leser tief in die Vergangenheit, geht Geschlecht um Geschlecht zurück bis zu Adam und Eva. Manchmal muss er beim Schreiben innehalten, etwa wenn er sich mit einer Erkältung quält, wie er in einem Brief erwähnt.
"Eine Brustverstockung, die leider nicht erlogen ist und die mich heute Morgen einfach gehindert hat, etwas über das Paradies zu schreiben."
Doch schon bald entsteht auch das Paradies. Und hier kommt es zu einem Zwischenfall. Denn Gott muss sich mit den himmlischen Heerscharen streiten, ob er den Menschen schaffen soll oder nicht.
"Gottes Schöpfung der guten und bösen Lebenswelt und seine Teilhabe für sie erscheint den Engeln als majestätische Schrulle, über die sie pikiert sind, da sie, wahrscheinlich mit mehr Recht als Unrecht, Überdruss an ihrer lobsingenden Reinheit dahinter vermuten."
Thomas Mann steigt tief in die Welt des Mythos ein: "Je tiefer die Wurzeln unseres Seins hinabreichen in die unergründliche Geschichte dessen, was außer- und unterhalb liegt der fleischlichen Grenzen des Ich, es aber doch bestimmt, sodass wir in der ersten Person davon sprechen mögen und als gehöre es unserem Fleische zu."
Vor der bewussten Lebensführung, vor all unserem Entscheiden und Handeln sind es die Urgeschichten, die unser Leben prägen. Thomas Mann nennt sie "Urnormen" und "Urformen".
Der Ägyptologe Jan Assmann: "Was Thomas Mann in seinem Roman anschaulich macht, ist das Leben in zwei Dimensionen, zum einen in der Gegenwart, ihre Bindungen und Verpflichtungen, ihre Freuden und Bedrängnisse, und zum anderen in Vergangenheit und Zukunft, die ihrerseits in mythische Überlieferungen und Bilder hinabreicht."
Vom Prinzip der vertikalen Verankerung des Selbst
Es geht dabei immer um die unergründliche Tiefe der Vergangenheit und andererseits die Hoffnungen und Verheißungen in der ebenso fernen Zukunft.
Das Prinzip der vertikalen Verankerung des Selbst ist für Thomas Mann eine Analogie zwischen zeitlicher und seelischer Tiefe. Das mythische Wissen lagert in Bereichen des seelischen Lebens. Der Mythos ist für Thomas Mann Lebensbegründung. Erst wenn die Gegenwart sich auf die Vergangenheit bezieht wird sie zur Wirklichkeit. Jan Assmann:
"Beide Jakob und Joseph, Vater und Sohn, sind Menschen 'mythischer Bildung', die immer wussten, was ihnen geschah, in allem irdischen Wandeln zu den Sternen blickten und immer ihr Leben ans Göttliche knüpften."
Bei Jakob ist von "Gehorsam" die Rede, bei Joseph von Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Der religiöse Mensch erfährt das ihm Widerfahrende als sinnhaft, und im Zeichen des mythischen Bewusstseins ist das Sinnhafte das Wiederkehrende.
Auch Joseph ist für Thomas Mann solch ein religiös Virtuoser, der die Wiederkehr des Mythos in der Gegenwart erkennt. Die Handlung der Josephsgeschichte beginnt mit einem Gespräch Josephs mit seinem Vater Jakob am Brunnen. Dann aber geht sie zurück. Es wird erzählt, wie Jakob sich von seinem Vater Isaak den Segen erschleicht, der eigentlich seinem älteren Bruder Esau gebührt.
Es geht um Jakobs Liebe zu Rahel, um die er sieben Jahre lang freit, um dann in der Hochzeitsnacht betrogen zu werden, weil sein Schwiegervater Laban ihm Lea, die ältere Tochter, die ungeliebte, die triefäugige, untergeschoben hat. Lea wird die Mutter von sechs der zwölf Söhne Jakobs – und übrigens auch der so selten erwähnten Tochter Dina.
Vier weitere Söhne bringen Mägde zur Welt bis Rahel schließlich Joseph gebiert, den Sohn der Liebe, und dann noch Ben-Jamin, den Sohn des Glücks, der eigentlich Ben-Oni genannt werden muss, Sohn des Unglücks, denn Rahel stirbt bei seiner Geburt.
"Wie Abraham Gott entdeckte" unter dieser Überschrift begleitet der Erzähler Thomas Mann Abraham zu seiner grundstürzenden Entdeckung und zum Beginn der Auffassung, dass Gott existiert und zwar der eine Gott. Obwohl er als Schöpfer in früheren Kapiteln schon als fraglos existent dargestellt ist, beschreibt Thomas Mann im zweiten Band, wie Abraham Gott findet.
"Ich, Abraham, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen."
"Ich, Abraham, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen."
Damit fing alles an. Was aber ist das Höchste? Der Mond? Die Sterne? Abraham schaut nach oben und findet, über den wandernden Himmelskörpern müsse es noch eine ruhende Instanz geben.
Gott ist so gerührt von dieser Suche, dass er Abraham salben will mit Freudenöl. So verbinden sie sich und erschaffen sich gegenseitig: Gott wird zu dem, von dem Abraham spricht, und Abraham wird zum von diesem Gott erschaffenen Menschen.
"So hatte Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten, hatte ihn lehrend weiter ausgeformt und hervorgedacht und allen Beteiligten eine große Wohltat damit erwiesen: dem Gotte, sich selbst und denen, deren Seelen er lehrend gewann."
Er ist etwas Großes und Umfassendes. Gott ist die Formel für den Sinn des Lebens. Thomas Mann hat die Kühnheit in den vier Bänden "Joseph und seine Brüder" die Entdeckung Gottes und sein Wirken in den ersten Generationen der Menschen, von denen die Bibel berichtet, auszumalen. In dieser Welt ist Gott der Schöpfer, der von allem Anfang an existiert – und eben dennoch von Abraham entdeckt wird.
Joseph ist der Liebling dieses Gottes. Thomas Mann stellt ihn als Vorgänger von Jesus dar. Bei Josephs Geburt heißt es: "Dass uns ein Kind geboren, ein Sohn uns gegeben sei."
Hier nimmt er Anleihe beim "Messias" von Georg Friedrich Händel. Auch Josephs Leiden deuten – ausdrücklicher als in der Bibel – auf Jesus hin: "Drei Tage lang ist er im Brunnen gefangen, in den seine Brüder ihn warfen. Am dritten Tage wird er befreit und steigt aus der Tiefe hervor. Drei Jahre ist er in Ägypten im Gefängnis, was allerdings eine komfortable Vorbereitung auf höhere Ämter beim Pharao ist."
Joseph ist ein Gottesliebling. "Jenes Glaubens, dass es Gott heiter, liebevoll und bedeutend mit ihm meinte, war er gewiss."
Der Erzähler Thomas Mann spricht ihm eine besondere Gabe zu: "Segenszutraulichkeit."
Der Erzähler Thomas Mann spricht ihm eine besondere Gabe zu: "Segenszutraulichkeit."
Immerhin gibt es ein Motiv, das ihn mit Joseph verbindet. In der Zeit, in der er diesen Roman schreibt, lebt auch er im Exil in Frankreich und dann Amerika. Wie einstmals Joseph im Exil in Ägypten.
In der Ungewissheit, wo sein nächstes Haus steht, ob jemals Deutsche wieder seine Bücher lesen würden, ob seine Kinder den Krieg überstehen, ob Hitler und seine Wehrmacht, wie Thomas Mann hoffte, den Krieg verlieren, ob er angesichts all dieser Fragen selbst "Segenszutraulichkeit" hatte ? Einmal schreibt er in einem Brief:
"Ich kenne die Gnade, mein Leben ist lauter Gnade und ich bestaune sie."
Die Joseph-Romane entstehen in den Jahren, in denen die meisten Deutschen Hitler gefolgt sind. Thomas Mann, der sich ja als Repräsentant des besseren Deutschlands sah, zeichnet in dieser Zeit den humanistisch-religiösen, den im Kern jüdischen Gegenentwurf zur Nazi-Ideologie. In der letzten großen Szene, der Versöhnung Josephs mit seinen Brüdern, deutet er das an:
"Ein Mann, der die Macht braucht, nur weil er sie hat, gegen Recht und Verstand, der ist zum Lachen. Ist er's aber heute noch nicht, so soll er's in Zukunft sein, und wir halten's mit dieser.
So sprach Joseph zu ihnen. Und sie lachten und weinten zusammen, und alle reckten die Hände nach ihm, der unter ihnen stand, und rührten ihn an, und er streichelte sie auch.
Und so endigt die schöne Geschichte der Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern." Im Mythos bleiben die Bilder, das Wissen und die Ahnungen aus der Vergangenheit auch für die Gegenwart lebendig.
"Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?"