In der Eingangshalle eines mondänen Luxushotels auf dem Lido erblickt der alternde deutsche Dichter mit dem Unheil verheißenden Namen Aschenbach den Jüngling Tadzio, fast noch ein Kind, von polnischem Adel und: vollkommen schön.
"Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichen Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit."
Aschenbach ist Tadzio auf der Stelle verfallen.
"Haupt und Herz waren ihm trunken, und seinen Schritten folgten den Weisungen des Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter seine Füße zu treten."
Der angejahrte Dichter erlebt einen späten, heimlichen Rausch, das letzte Aufbegehren eines Körpers, den er als Geistesmensch lebenslang verachtet und zugerichtet hat. Tag für Tag nun ergötzt sich der feinnervige Künstler an dem Knaben, verfolgt ihn am Strand und auf Spaziergängen bis tief hinein in die verwinkelten Gassen Venedigs, wo – Chiffre für das verzehrende Feuer im Innern des Verliebten – eine andere heimliche Seuche brodelt, von beflissenen Stadtvätern vertuscht: die Cholera.
"Der Tod in Venedig" Thomas Manns berühmte Künstlernovelle ist autobiografisch unterfüttert, mehr als alle anderen seiner Texte. Hatte er doch selbst, im Mai 1911 einige Zeit auf dem Lido verbracht; auch ein – freilich bis heute nicht zweifelsfrei identifiziertes – Tadzio-Vorbild soll es dort gegeben haben.
"Ich bin an der Arbeit,"
berichtet er im Juli 1911 dem Münchner Germanistikprofessor Philip Witkop,
"Eine recht sonderbare Sache, die ich aus Venedig mitgebracht habe."
Novelle, ernst und rein im Ton, einen Fall von Knabenliebe bei einem
alternden Künstler behandelnd. Sie sagen "hum, hum!" aber es ist sehr anständig.
Thomas Mann ist 36, als er das schreibt, seine homoerotischen Neigungen sind kein Geheimnis mehr, Ehe und Familienleben des Patriarchen gleichwohl stabil. Literarisch hat er Anerkennung erfahren, der Erfolg der Buddenbrooks liegt allerdings schon ein Jahrzehnt zurück. Nichts Großes hat er seither verfasst, er sitzt am Felix Krull, die Arbeit stockt, nun also die Novelle "Der Tod in Venedig", jene tragische Geschichte, auf der die ganze Schwermut und Dekadenz der Krisenjahre vor 1914 lasten. Wenn Aschenbach stirbt, stirbt auch das alte Europa, das in Gestalt eines kosmopolitischen Badepublikums auf dem Lido versammelt ist, wie zum letzten Mal.
Ein Jahr lang arbeitet Mann an der "sonderbaren Sache." Dann, am 21. Juli 1912, schickt er sie aus seiner Sommerresidenz in Bad Tölz dem Redakteur der "Neuen Rundschau", Oskar Bie.
"Meine Novelle ist soeben an Bie abgegangen,"
schreibt er selbigen Tags an einen Freund.
"Ich bin neugierig, ob er anbeißt, möchte es eher bezweifeln."
Oskar Bie hat angebissen. Der Druck in der "Neuen Rundschau" erfolgt in zwei Teilen, im Oktober und November 1912, zeitgleich mit einer limitierten Luxus-Ausgabe in einem kleinen Münchner Verlag. Bei S. Fischer, dem Stammverlag Thomas Manns, erscheint "Der Tod in Venedig" erstmals im Februar 1913.
Die Reaktionen sind überwältigend, von wenigen kritischen Stimmen abgesehen. Die Erstauflage ist sofort vergriffen, es wird nachgedruckt, bis heute. Dass, wer Künstler sein will, nicht leben, sprich: lieben darf, ohne sich zu entwürdigen, diese Grundüberzeugung romantischer Genieästhetik fasziniert offenbar weltweit. Den "Tod in Venedig" gibt es sogar auf chinesisch, afrikaans und bengalisch.
Benjamin Britten hat die Novelle über den Konflikt zwischen Ratio und Empfinden 1973 zu einer Oper inspiriert, den Choreografen John Neumeier 2004 zu einem karnevalesken Totentanz. Nichts aber hat die Rezeption der Mann-Novelle nachhaltiger geprägt als Luchino Viscontis legendäre Verfilmung von 1971, kongenial unterlegt mit der 5. Sinfonie jenes Komponisten, der starb, als Thomas Mann 1911 in Venedig weilte, und dessen Konterfei dem Autor als Vorlage für seinen Aschenbach, Gustav Aschenbach, diente: Gustav Mahler.
Ausstellungstipp:
"Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns 'Der Tod in Venedig'" heißt eine Ausstellung, die ab dem 18. September 2012 im Buddenbrookhaus in Lübeck zu sehen ist.
"Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichen Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit."
Aschenbach ist Tadzio auf der Stelle verfallen.
"Haupt und Herz waren ihm trunken, und seinen Schritten folgten den Weisungen des Dämons, dem es Lust ist, des Menschen Vernunft und Würde unter seine Füße zu treten."
Der angejahrte Dichter erlebt einen späten, heimlichen Rausch, das letzte Aufbegehren eines Körpers, den er als Geistesmensch lebenslang verachtet und zugerichtet hat. Tag für Tag nun ergötzt sich der feinnervige Künstler an dem Knaben, verfolgt ihn am Strand und auf Spaziergängen bis tief hinein in die verwinkelten Gassen Venedigs, wo – Chiffre für das verzehrende Feuer im Innern des Verliebten – eine andere heimliche Seuche brodelt, von beflissenen Stadtvätern vertuscht: die Cholera.
"Der Tod in Venedig" Thomas Manns berühmte Künstlernovelle ist autobiografisch unterfüttert, mehr als alle anderen seiner Texte. Hatte er doch selbst, im Mai 1911 einige Zeit auf dem Lido verbracht; auch ein – freilich bis heute nicht zweifelsfrei identifiziertes – Tadzio-Vorbild soll es dort gegeben haben.
"Ich bin an der Arbeit,"
berichtet er im Juli 1911 dem Münchner Germanistikprofessor Philip Witkop,
"Eine recht sonderbare Sache, die ich aus Venedig mitgebracht habe."
Novelle, ernst und rein im Ton, einen Fall von Knabenliebe bei einem
alternden Künstler behandelnd. Sie sagen "hum, hum!" aber es ist sehr anständig.
Thomas Mann ist 36, als er das schreibt, seine homoerotischen Neigungen sind kein Geheimnis mehr, Ehe und Familienleben des Patriarchen gleichwohl stabil. Literarisch hat er Anerkennung erfahren, der Erfolg der Buddenbrooks liegt allerdings schon ein Jahrzehnt zurück. Nichts Großes hat er seither verfasst, er sitzt am Felix Krull, die Arbeit stockt, nun also die Novelle "Der Tod in Venedig", jene tragische Geschichte, auf der die ganze Schwermut und Dekadenz der Krisenjahre vor 1914 lasten. Wenn Aschenbach stirbt, stirbt auch das alte Europa, das in Gestalt eines kosmopolitischen Badepublikums auf dem Lido versammelt ist, wie zum letzten Mal.
Ein Jahr lang arbeitet Mann an der "sonderbaren Sache." Dann, am 21. Juli 1912, schickt er sie aus seiner Sommerresidenz in Bad Tölz dem Redakteur der "Neuen Rundschau", Oskar Bie.
"Meine Novelle ist soeben an Bie abgegangen,"
schreibt er selbigen Tags an einen Freund.
"Ich bin neugierig, ob er anbeißt, möchte es eher bezweifeln."
Oskar Bie hat angebissen. Der Druck in der "Neuen Rundschau" erfolgt in zwei Teilen, im Oktober und November 1912, zeitgleich mit einer limitierten Luxus-Ausgabe in einem kleinen Münchner Verlag. Bei S. Fischer, dem Stammverlag Thomas Manns, erscheint "Der Tod in Venedig" erstmals im Februar 1913.
Die Reaktionen sind überwältigend, von wenigen kritischen Stimmen abgesehen. Die Erstauflage ist sofort vergriffen, es wird nachgedruckt, bis heute. Dass, wer Künstler sein will, nicht leben, sprich: lieben darf, ohne sich zu entwürdigen, diese Grundüberzeugung romantischer Genieästhetik fasziniert offenbar weltweit. Den "Tod in Venedig" gibt es sogar auf chinesisch, afrikaans und bengalisch.
Benjamin Britten hat die Novelle über den Konflikt zwischen Ratio und Empfinden 1973 zu einer Oper inspiriert, den Choreografen John Neumeier 2004 zu einem karnevalesken Totentanz. Nichts aber hat die Rezeption der Mann-Novelle nachhaltiger geprägt als Luchino Viscontis legendäre Verfilmung von 1971, kongenial unterlegt mit der 5. Sinfonie jenes Komponisten, der starb, als Thomas Mann 1911 in Venedig weilte, und dessen Konterfei dem Autor als Vorlage für seinen Aschenbach, Gustav Aschenbach, diente: Gustav Mahler.
Ausstellungstipp:
"Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns 'Der Tod in Venedig'" heißt eine Ausstellung, die ab dem 18. September 2012 im Buddenbrookhaus in Lübeck zu sehen ist.