Benjamin von Stuckrad-Barre, Miriam Meckel, Sven Hannawald - sie alle haben über ihre Depressionen, ihren Burnout, ihre psychische Not geschrieben. Die Bücher sind ihnen geradezu aus den Händen gerissen worden, weil sich so viele darin wiedererkannten, denen die Optimierungsgesellschaft ebenfalls über den Kopf wächst.
Und jetzt also die Bekenntnisse von Thomas Melle? Nein. Ein entschiedenes Nein. Mit dieser Art prominent-psychiatrischer Burnout-Literatur hat Melles Buch nichts gemein. Aus zwei Gründen: Zum einen ist "Die Welt im Rücken" Literatur auf hohem Niveau. Zum anderen schreibt Melle über eine viel gravierendere psychische Störung, die ihn jahrelang an den Rand der Gesellschaft katapultiert hat. Eine einschneidende Erfahrung, sagt der Autor:
"Das ist das Fatum der Irren: ihre Unvergleichlichkeit, der Verlust jeglichen Bezugs zum Leben der restlichen Gesellschaft. Der Kranke ist der Freak und als solcher zu meiden, denn er ist ein Symbol des Nichtsinns, und solche Symbole sind gefährlich, nicht zuletzt für das fragile Sinnkonstrukt namens Alltag. Der Kranke ist, genau wie der Terrorist, aus der Ordnung der Gesellschaft gefallen, gefallen in einen feindlichen Abgrund des Unverständnisses."
Wut auf die Krankheit
Der Kranke und der Terrorist in einem Atemzug - das ist ein krasser Vergleich. Man spürt Thomas Melles Wut, auf seine Krankheit, aber auch auf eine Gesellschaft, die dieser Krankheit weitgehend hilflos gegenübersteht. Um so wichtiger ist dieses Buch über seine bipolare Störung, als Erklärungsversuch für ihn selbst und für seine Leser. Melle, Jahrgang 1975, hat mehrere manische Schübe mit paranoiden Zügen erlebt sowie die anschließende Depression. Deshalb nannte man "bipolar" früher "manisch-depressiv". Thomas Melle erklärt, was die Diagnose genau bedeutet:
"Man weiß ungefähr, was die Depression ist: Eine völlige Fühllosigkeit, bzw. wenn man etwas fühlt, nur negative, schwarze, verzweifelte Gefühle. Die Depression schließt sich bei der bipolaren Störung an eine Manie an. Diese Manie gibt es auch in verschiedenen Ausformungen. In der Ausformung, die ich habe, Bipolar 1 nämlich, ist die Manie sehr heftig, man verliert jegliche Hemmungen, hat wahnhafte Ideen. Und da setzt die Paranoia ein, dann muss man ein Erklärungsgebäude zusammenbauen. Das ist aber völlig falsch konstruiert und dreht sich nur um einen selbst, und man beginnt, die Zeitungen auf sich zu beziehen, zum Beispiel."
"Ich rannte durch die Stadt, und die Stadt war verrückt geworden. Der Mob aus Zeichen und Bildern schoss aus allen Ecken auf mich zu. Geschickt wich ich aus, wo ich konnte, hatte aber keine Chance, gegen diese Masse zu bestehen. Es traf mich sekündlich hart. Vorher noch waren es gewöhnliche Slogans und Schilder gewesen, Kaufbefehle und Wegweiser, die nichts besonderes bedeuteten. Nun zeigten sie ihre widerliche Fratze und wollten mir an den verschwitzten Kragen. Schon die Luft war eine einzige Vergiftung. Ich war eine Gamefigur, die beschossen wurde, aber wovon genau? Wirklich von den Zeichen? Waren sie nicht dieselben wie gestern, wie immer? War irgendetwas anders? Ja, dachte ich und rannte: Alles ist anders. Die Pixel flirrten mir vor dem Gesicht."
Bildreiche und genaue Sprache
Die Manie, die Paranoia und schließlich auch die Depression kann man so, wie Thomas Melle darüber schreibt, geradezu nachempfinden. Und das hat mit seiner bildreichen, genauen Sprache zu tun, mit den anschaulichen Metaphern und Analogien. Man merkt, wie stark er um Worte für seine Krankheit gerungen hat, weil er etwas beschreiben musste, das sich dem Erfahrungsschatz der meisten Menschen entzieht.
Natürlich hat Melle das Buch nicht in erster Linie geschrieben, um seinen Lesern eine bipolare Erkrankung zu erklären. Obwohl er durchaus auch gegen die Gerüchte anschreibt, die über ihn im Umlauf sind. Aber vorrangig ging es ihm wohl um Ursachenforschung.
"Das ganze Buch ist erst mal eine Suche nach Gründen im Bewusstsein, dass ich dieser Gründe niemals habhaft werden kann. Ich versuche aber, die verschiedenen Faktoren, die vielleicht eine Rolle spielen - ob nun Lebensumstände, neuronale Sachen, Vulnerabilität, Persönlichkeitsstruktur, Genetik –, jeden Faktor zu erhellen und auf eine gewisse Weise zumindest anzuanalysieren und mit Erzählmomenten aufzufüllen, dass da am Ende so eine Art Clusterbegründung, Clustererklärung aufscheinen möge. Aber man kann nicht sagen: Der Mensch ist krank geworden, weil die und die Sachen passiert sind."
"Clusterbegründung" klingt distanziert, aber Melles Buch ist das glatte Gegenteil: Er klappt das Visier weit auf bei dem Versuch, hinter die Ursachen seiner Erkrankung zu kommen, erspart sich und seinen Lesern nicht die Peinlichkeiten, zu denen die Manie ihn trieb.
Krankheit kann jederzeit wieder ausbrechen
Melle erzählt zwar aus der Retrospektion, dennoch ist "Die Welt im Rücken" nicht das heitere Buch eines Geretteten. Denn er ist möglicherweise nur vorübergehend gerettet. Inzwischen nimmt er dauerhaft Medikamente und weiß, dass die Krankheit lauert und jederzeit wieder ausbrechen kann. Die Krankheit, die einen völlig anderen aus ihm macht, ist also vielleicht nur vorübergehend gebannt.
Und diese bleibende Unsicherheit über die Zukunft, über die eigene Person, gibt den manchmal traurigen, manchmal wütenden, selten sarkastischen Ton des Buches vor. Oft sind Bücher, die aus großer seelischer Not heraus geschrieben wurden, peinlich. Selten sind sie große Literatur. Thomas Melles Buch ist große Literatur, weil es ohne einen einzigen falschen Ton auskommt.
Thomas Melle: "Die Welt im Rücken".
Rowohlt Verlag, Berlin 2016, 352 Seiten, 19,95 €.
Rowohlt Verlag, Berlin 2016, 352 Seiten, 19,95 €.