"Betrachtet Euren Gott aus der Nähe und nicht aus der Ferne; glaubt, dass Gott lieber spräche, wenn Ihr bereit seid zum Hören!"
Thomas Müntzer schreibt dies 1522 in einem Brief an Philipp Melanchthon, die rechte Hand des deutschen Reformators Martin Luther. Seine Mitstreiter in Wittenberg sollten nicht so sehr am toten Buchstaben der Bibel kleben. Stattdessen sollten sie dem heiligen Geist mehr Raum geben. So würden sie von Gott direkt angesprochen.
"Liebe Brüder, lasst Euer Trödeln! Es ist Zeit! Lasst Euer Säumen; der Sommer ist da. Sucht keinen Ausgleich mit den Verworfenen; denn die verhindern, dass das Wort mit großer Kraft wirkt. Auch Eurem Fürsten schmeichelt nicht; sonst werdet Ihr zugrunde gehen, und davor behüte Euch der hochgelobte Gott."
So lässt Müntzer in apokalyptischer Perspektive sein exklusives Glaubensverständnis anklingen. Er will eine Reformation ohne Kompromisse, ohne Zugeständnisse an die Machthaber.
Müntzer zunächst ganz auf einer Linie mit Luther
Ein paar Jahre früher, als Martin Luther 1517 seine Thesen zum Ablass veröffentlicht, sieht sich Thomas Müntzer mit dem Reformator noch ganz auf einer Linie. Unabhängig von Bußleistungen, die die katholische Ablasspraxis fordert, lautet Luthers Botschaft: Der Mensch wird gerechtfertigt - allein aus Glauben. Und dieser entsteht beim Hören auf das Wort Gottes. Der Berliner Kirchenhistoriker Siegfried Bräuer:
"Müntzer ist da mitgegangen, war ein Mitarbeiter, ein Mitstreiter, bis zur Zwickauer Zeit. Und dann muss er wahrgenommen haben, dass das von Luther vorausgesetzte elementare Erlebnis bei jedem Gläubigen, dass der überwältigt ist von dieser Zusage, dass das nicht in der Tiefe genug greift."
Wer ist dieser Thomas Müntzer, dass er sich vom großen Reformator aus Wittenberg distanziert und Luther mit seiner Theologie für zu oberflächlich hält?
Thomas Müntzer wird 1489 in Stolberg im Harz geboren. Nach dem Studium in Leipzig und Frankfurt an der Oder folgt die Priesterweihe und mehrere Predigtvertretungen. 1520 vermittelt ihm Luther eine Stellte an der Marienkirche in Zwickau. Hier vertritt er einen umstrittenen Prediger.
Innerreformatorische Querelen
Johannes Silvius Egranus ist Humanist und Anhänger des Erasmus von Rotterdam. Er sagt: Für die Bibelauslegung seien zwar die Gelehrten zuständig; der Heilige Geist habe aber ausschließlich in den Aposteln gewirkt. Seitdem es die Kirche gibt, werde er als lebendige Kraft Gottes nicht mehr benötigt. Kirchenhistoriker Siegfried Bräuer:
"Und da geht Müntzer aus den Schuhen – kurz gesagt – weil er meint, das ist ja Irrlehre. Unter der Fahne der Reformation, der reformatorischen Verkündigung, wird hier eine ganz andere Botschaft verkündigt, für Intellektuelle usw."
Für Müntzer ist das Wirken des Geistes Gottes, das jeder Mensch erfahren kann, eine der wichtigsten theologischen Entdeckungen. Insofern stellt die Auffassung des Egranus einen Frontalangriff auf die Grundlagen des christlichen Glaubens dar.
In Wittenberg genießt Egranus jedoch weiterhin Sympathie. Dort schätzen die reformatorischen Kräfte jenen umstrittenen Prediger, den Müntzer vertritt. Denn sein Name steht wie der Martin Luthers auf der päpstlichen Bannandrohungsbulle, und er gilt damit ebenso als Gegner Roms. Obwohl er in wichtigen Punkten von der neu gewonnenen evangelischen Auffassung abweicht, wird Egranus von Luther geschont.
"Das hat Müntzer nicht gelten lassen. Und später schreibt er in seinem letzten Brief an Luther: Es war für mich unerträglich, dass du versucht hast, Verständnis bei mir zu erwecken für diesen Irrlehrer, für den, der die reformatorische Botschaft im Kern verfälscht."
Auf den Spuren von Jan Hus
In seinem Brief an Luther von 1520 bittet Müntzer ihn noch um Rat, wie er mit der Causa "Egranus" umgehen solle. In Zwickau sieht er sich nämlich mit unterschiedlichen politischen und religiösen Kräften konfrontiert, die den humanistischen Prediger halten und keine Störung der öffentlichen Ordnung wollen.
Der Konflikt in Zwickau eskaliert. Am Ende entscheidet der Stadtrat, Thomas Müntzer habe das Ganze angezettelt, und entlässt ihn als Prediger.
Müntzer orientiert sich nun Richtung Böhmen, reist nach Prag. Hier hat der Reformpriester Jan Hus bleibende Spuren hinterlassen.
"Gott will wunderliche Dinge mit seinen Auserwählten tun, sonderlich in diesem Lande. Denn die neue Kirche wird hier anfangen, und dieses Volk wird der ganzen Welt ein Spiegel sein."
Schreibt Thomas Müntzer im Herbst 1521 im Prager Sendbrief. Die neue Kirche sei bitter nötig, weil die alte nicht mehr tauge als Vorbild für die Welt.
"Den unerträglichen und bösen Schaden der Christenheit habe ich mir tief betroffen zu Herzen genommen, nachdem ich mit ganzem Fleiß die Geschichte der Kirchenväter gelesen habe. Ich finde, dass nach dem Tode der Apostelschüler die unbefleckte, jungfräuliche Kirche durch den geistlichen Ehebruch zur Hure geworden ist, und zwar der Gelehrten halber, die immer oben sitzen wollen."
Dementsprechend lässt Thomas Müntzer an den katholischen Geistlichen und Amtsträgern kein gutes Haar und nennt sie:
"Herren, die nur fressen und saufen"
"hochverdammte Bösewichte"
"eine Plage des armen Volkes"
"wuchersüchtige und zinsaufrichtende, hodensäckige Doktoren"
"Hurenhengste und Labscheißer"
"des Teufels Pfaffen"
"hochverdammte Bösewichte"
"eine Plage des armen Volkes"
"wuchersüchtige und zinsaufrichtende, hodensäckige Doktoren"
"Hurenhengste und Labscheißer"
"des Teufels Pfaffen"
Anders als erwartet lernt Müntzer in Prag jedoch nur zerstrittene kirchliche Gruppierungen kennen. Enttäuscht verlässt er die Stadt und kommt nach einigen anderen Stationen in das kursächsische Allstedt. Dort heiratet er die ehemalige Nonne Ottilie von Gersen.
Der Bruch
Verständlichkeit der religiösen Praxis und Nähe zum Volk - das waren sicher Punkte, auf die Müntzer und Luther gleichermaßen Wert legten. Doch auf grundlegende theologische Fragen formulierten sie sehr unterschiedliche Antworten. Siegfried Bräuer:
"Das endgültige Zerwürfnis ist in Allstedt passiert. Da hat Müntzer noch einmal versucht, brieflich Kontakt aufzunehmen mit ihm und hat gerungen um ihn, da findet sich der Satz im Latein: 'Lass doch die alte Liebe wieder neu werden!' Und Luther hat nicht geantwortet."
Hatte Martin Luther die Vorfälle in Zwickau noch toleriert und zur Mäßigung aufgerufen, markiert Müntzers Wirken in Allstedt eine Wende. Dort legt er sich mit der Obrigkeit an und wird so zum wichtigsten Gegenspieler Luthers.
Bereits 1524 macht sich Müntzer über die Luther-Anhänger lustig. Er sagt, dass sie "leichtlich zum Christenglauben kommen, wenn sie nur dran denken, was Christus gesagt hat."
"Nein, lieber Mensch, du musst erdulden und wissen, wie dir Gott selber dein Unkraut, Disteln und Dornen aus deinem fruchtbaren Lande, also aus deinem Herzen, reutet. Auch wenn du schon die Bibel gefressen hättest, hilft dies nicht - du musst den scharfen Pflugschar erleiden."
Damit wendet sich Müntzer gegen zwei Grundpfeiler lutherischer Theologie. Mit dem "sola scriptura" - "allein durch die Schrift" und mit dem "sola fide" - "allein aus Glauben" mache es sich Luther zu leicht - so sein Vorwurf. Das stellvertretende Leiden Christi für sich im Glauben anzunehmen, reiche nicht aus.
"Er spottet ja geradezu - was Bonhoeffer später 'billige Gnade' nennt, könnte auch bei Müntzer stehen - als Verdacht: die billige Gnade. Er nennt es den 'leichten Christus', den 'süßen Christus'. Ihr verkündigt den süßen Christus, der leicht anzunehmen ist. Ihr müsst aber den bitteren annehmen. Er verlangt, dass jeder Christ eine Art von Nachfolge Jesu, also auch wie Jesus lebt. Und zwar im Innern, im Personenkern - Seelenabgrund nennt er das, nach dem Beispiel der Mystiker - im Kernbereich seiner Person."
"Schwärmer"
In den Jahren 1520 bis 1525 geht es in der reformatorischen Bewegung darum, wer in entscheidenden Momenten den Ton angibt. Martin Luther sieht Thomas Müntzer und andere Abweichler als "Schwärmer", denen es wie schwärmenden Bienen an innerer und äußerer Ordnung mangele. Was dann wiederum in politischem oder kirchlichem Aufruhr münden könne. Dazu schreibt Christian Peters, Kirchenhistoriker in Münster:
"Was die Schwärmer so gefährlich macht, ist für Luther ihre Missdeutung der christlichen Freiheit. Sie drängen auf energische Verwirklichung der reformatorischen Anliegen und wollen die Menschen hierzu auf eine bestimmte Form der kirchlichen Gebräuche und Handlungen sowie ein besonders ethisches Verhalten festlegen."
Wenn Müntzer behauptet, der Heilige Geist berühre die Menschen direkt - unabhängig von der Bibel und den Sakramenten - dann ist das für Luther ebenfalls "Schwärmerei". Gott will und kann nur durch diese äußeren Heilsmittel wahrgenommen werden.
Fürstenpredigt
In Allstedt spitzt sich die Lage 1524 weiter zu. In der sogenannten "Fürstenpredigt" legt sich Müntzer mit der Obrigkeit an.
"Lasst die Übertäter nicht länger leben, die uns von Gott abbringen. Denn ein gottloser Mensch hat kein Recht zu leben, wo er die Frommen behindert. Darum, ihr teuren Väter von Sachsen, ihr müsst es wagen um des Evangeliums willen."
Die Obrigkeit müsse die Gottlosen bestrafen und die Frommen beschützen - das sei ihr göttlicher Auftrag.
"Wenn dies aber nun auf redliche Weise und füglich geschehe, so sollen es unsere teuren Väter, die Fürsten, tun, die Christum mit uns bekennen. Wo sie aber das nicht tun, so wird ihnen das Schwert genommen werden."
Widerstandsrecht versus Gehorsam
Mit diesen Worten begründet Thomas Müntzer ein Widerstandsrecht gegenüber den weltlichen Machthabern. Ganz im Gegensatz zu Martin Luther, der die Gott gegebene Autorität der Obrigkeiten nie in Frage stellt. Fast zur gleichen Zeit – ohne jedoch Müntzers Appell an die Fürsten zu kennen - sagt Martin Luther zum ersten Mal den Gegnern aus den eigenen Reihen öffentlich den Kampf an. In dem "Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist" nennt er Müntzers Theologie eine furia - eine Raserei des Satans. Kirchenhistoriker Siegfried Bräuer:
"Im Grunde genommen ist hier etwas ganz Rätselhaftes. Luther hat gemeint - das schreibt er auch in seinem Brief an die Fürsten zu Sachsen: Der Satan hat versucht, lange Zeit die Entdeckung des Evangeliums kaputt zu machen, durch den Papst, durch die katholische Kirche, mit Gewalt - das ist alles nicht gelungen. Und nun fängt er in unseren Reihen, mitten unter uns an. Er hat gemeint, Müntzer ist zum Instrument des Gegners der Reformation geworden: des Satans. Und von daher kommt die Erbitterung."
Für Luther müssen die beiden Reiche, das materiell-irdische und das religiös-geistliche unterschieden werden. Man könne nicht mit Gewalt das Reich Gottes auf Erden errichten. Aber genau diese apokalyptische Vorstellung hat Thomas Müntzer. Er will die endzeitliche Revolution, Luther auf Dauer angelegte Reformen - beides passt nur sehr schwer zusammen.
Hochphase reformatorischer Flugschriftenproduktion
Es kommt auch zu keinem Gespräch zwischen den Kontrahenten. Sie lehnen es ab, auf den anderen zuzugehen. Beide sehen die Erneuerung Deutschlands und der Welt in einer dezidiert heilsgeschichtlichen Perspektive, in der für einen zweiten Protagonisten kein Platz ist.
Auch für Luther steht fest, dass nur er einen prophetischen Auftrag von Gott habe.
"Ich weiß aber, dass wir, so wir das Evangelium haben und kennen, den rechten Geist haben."
Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann erwähnt in diesem Zusammenhang einen weiteren Faktor, der dem Reformator 1523/24 Auftrieb verschaffte.
"Luther sah in dem immensen und analogielosen Erfolg seiner selbst und ihm nahestehender Publizisten in der Zeit der Hochphase der reformatorischen Flugschriftenproduktion einen von Gott heraufgeführten "Siegeslauf des Evangeliums", ein einmaliges eschatologisches Zeichen am Ende der Zeiten.
Müntzers Appell an die Fürsten bleibt ohne Antwort und seine Anhänger verlieren im Sommer 1524 zunehmend an Rückhalt. Thomas Müntzer ist sich inzwischen sicher, ...
"... dass ein Blutvergießen über die verstockte Welt ergehen soll, um ihres Unglaubens willen. Die Herren und Fürsten, wie sie sich jetzt darstellen, sind keine Christen."
Müntzer verlässt Allstedt und sucht in Thüringen in der freien Reichsstadt Mühlhausen einen neuen Wirkungskreis. Dort bereitet er den Boden für ein "anderes Regiment" vor. Er gründet mit Gleichgesinnten den "Ewigen Bund Gottes", eine endzeitlich gestimmte Bewegung, die sich gegen Fürsten und Klerus auflehnt. Diese Rebellion gegen die Obrigkeit - sie kann vor 500 Jahren nur in einem Blutvergießen enden.