Wie geht man mit seinen Kritikern um, wenn man eine handliche Zusammenfassung seiner Theorie liefern will? Für seine bisherigen Werke hat Thomas Piketty schließlich nicht nur viel Zuspruch erhalten. Seine zentrale These, dass seit Ende des 20. Jahrhunderts die soziale Ungleichheit zunimmt, wurde auch heftig attackiert. Piketty habe Datenquellen selektiv genutzt, behaupten etwa vor allem Ökonomen in den USA, in Wirklichkeit sei die Ungleichheit gar nicht so dramatisch angestiegen.
Piketty hat einen, sagen wir „eleganten Weg“ gewählt, damit umzugehen. Statt direkt auf seine Kritiker zu antworten, vertraut er weiterhin auf seine eigenen Quellen. Er tut aber alles, um den Eindruck zu vermeiden, er sei ein dogmatischer Pessimist und wolle einen gesetzmäßigen Anstieg von Ungleichheit unterstellen. Im Gegenteil, schreibt er, es gäbe historisch gesehen sogar Grund, optimistisch zu sein.
„So ungerecht sie scheinen mag, die Welt der beginnenden 2020er Jahre ist egalitärer als die von 1950 oder 1900, die ihrerseits in zahlreichen Hinsichten egalitärer war als die Welt von 1850 oder 1780. Zwischen 1780 und 2020 sind in den meisten Regionen und Gesellschaften der Erde, ja in gewisser Weise weltweit Entwicklungen zu verzeichnen, die zu mehr Status-, Eigentums-, Einkommens-, Geschlechter- und ‚Rassen‘- Gleichheit geführt haben.“
Wellen der Gleichheit und Ungleichheit
Piketty gesteht auch zu, dass sozioökonomische Datenreihen generell unvollkommen und immer weiter zu verbessern sind. Dennoch präsentiert er auch in diesem Buch zahlreiche Grafiken und Tabellen zur Vermögens,- Gewinn- und Steuerentwicklung. Sie beziehen sich häufig auf Frankreich, beanspruchen aber auch globale Geltung. Nach Piketty zeigen sie, dass der globale Fortschritt der Gleichheit immer nur ein Resultat von Kämpfen ist, die von einem Auf und Ab gekennzeichnet sind. Von glücklichen Zeiten könne gegenwärtig jedenfalls keine Rede sein.
„Der Anteil der reichsten 1 % am Gesamteigentum ist derzeit zweimal geringer als vor einem Jahrhundert, aber er bleibt gleichwohl fünfmal höher als der, den die ärmsten 50 % halten. Tatsächlich kam die Eigentumsdekonzentration fast ausschließlich den sozialen Gruppen zwischen den reichsten 1 % und den ärmsten 50 % zugute.“
Das Erbe des Kolonialismus
Vom Fortschritt der letzten Jahrhunderte haben nach Piketty vor allem die Mittelschichten profitiert. Die unteren Schichten dagegen stagnieren oder verlieren immer mehr, was aktuelle Armutsberichte belegen. Die Diskrepanz zwischen den Reichsten und den Ärmsten in den westlichen Ländern sei jedenfalls untragbar.
Piketty widmet aber auch der globalen Dimension von Ungleichheit breiten Raum. Ausführlich zeichnet er nach, wie Europa und die Vereinigen Staaten über Jahrhunderte hinweg die natürlichen Ressourcen afrikanischer, südamerikanischer und asiatischer Staaten ausbeuteten. Sklavenhandel sowie Militär- und Kolonialherrschaft seien bis heute für ein System internationaler Arbeitsteilung verantwortlich, das den reicheren Ländern nutzt und den ärmeren schadet. Piketty bringt Reparationszahlungen ins Spiel, um diese historische Schuld des Westens abzutragen, will sich aber nicht auf sie versteifen.
„Die Frage ist komplex und wird sich ohne eine gründliche Debatte nicht klären lassen. Um die von Rassismus und Kolonialismus angerichteten Schäden zu beheben, muss auch und vor allem das Wirtschaftssystem auf einer systemischen Grundlage verändert werden, durch den Abbau von Ungleichheiten und einen möglichst egalitären, von jeder Herkunft unabhängigen Zugang aller zu Bildung, Beschäftigung und Eigentum.“
Sicherheit und Startkapital
Der Autor schlägt zum Beispiel eine globale Steuer von zwei Prozent auf Vermögen von mindestens 10 Millionen Euro vor, um in Gesundheit, Bildung und Infrastruktur der ärmsten Länder zu investieren. In Bezug auf die westlichen Länder wiederholt er seine alten Forderungen: ein Grundeinkommen, eine Beschäftigungsgarantie und eine progressive Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuer, die bei den Reichsten am meisten abschöpfen soll. Das soll einen starken Sozialstaat und effektive Umweltmaßnahmen finanzieren.
Piketty beharrt auch auf seiner Idee, jedem Bürger zum 25. Geburtstag einmalig 60 Prozent des Durchschnittsvermögens auszuzahlen, in Frankreich wären das 120 000 Euro. Das verschaffe auch den Ärmeren Sicherheit und ein Startkapital, um ein kleines Unternehmen zu gründen oder eine Wohnung zu finanzieren. Langfristig schwebt ihm ein partizipativer, dezentraler, selbstverwalteter und ökologischer Sozialismus vor, der das Marktprinzip zurückdrängen soll.
„Namentlich Grundgüter wie Erziehung, Gesundheit, Kultur, Verkehr oder Energie sollten außerhalb der Marktsphäre produziert werden, im Rahmen politischer, kommunaler, genossenschaftlicher und nicht gewinnorientierter Strukturen. Nichts spricht im Übrigen dagegen, über Systeme nachzudenken, die keinerlei Eigentum kennen.“
Umverteilung und Sozialismus
Pikettys Buch changiert zwischen einer Umverteilungs- und Sozialstaatspolitik, die alte sozialdemokratische Traditionen radikalisiert und eher utopisch-sozialistischen Ideen. Die Verbindungslinien zwischen beidem bleiben aber vage. Auch sieht Piketty zwar, dass er stärker zwischen den verschiedenen politischen und kulturellen Milieus der verschiedenen Klassen und Schichten differenzieren muss, statt nur von Ober-, Mittel- und Unterklassen zu sprechen. Seine Ansätze dazu bleiben aber bescheiden. Da er beansprucht, Bürgern Argumente für den Kampf gegen ungleiche Verhältnisse an die Hand zu geben, wäre es aber doch auch ratsam gewesen, er hätte sich direkt mit seinen Kritikern auseinandergesetzt. Insofern bekommt der Leser mit diesem Buch einen gut lesbaren Überblick über Pikettys Ideen in die Hand, der sein Denken greifbarer macht, aber auch seine Baustellen offenbart.
Thomas Piketty: „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
C.H. Beck Verlag, München
264 Seiten, 25 Euro.
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
C.H. Beck Verlag, München
264 Seiten, 25 Euro.