Christoph Heinemann: Das war ein Auszug aus der Motette "Der Geist hilft meiner Schwachheit auf". Jedes Mal am Mikrofon des Deutschlandfunk hoffe ich, dass der Geist auch mir diesen Gefallen erweisen möge – häufig vergeblich. Diese Musik von Johann Sebastian Bach war in diesen Tagen in der Thomaskirche in Leipzig zu hören bei Christian Wolffs offizieller Verabschiedung. 22 Jahre lang war er Pfarrer an einer der bekanntesten Kirchen in Deutschland. In der Thomaskirche befindet sich das Grab Johann Sebastian Bachs, und sie ist die Hauskirche des weltberühmten Thomanerchores, den wir gerade gehört haben.
Christian Wolff ist ein Zeitzeuge des Zusammenwachsens infolge des erfreulichen Ereignisses, dessen wir in diesem Jahr auch gedenken. Natürlich stehen 100 Jahre Erster Weltkrieg vorn und 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkrieges, aber eben auch 25 Jahre friedliche Revolution und Mauerfall. Vor dieser Sendung habe ich mit Pfarrer Christian Wolff das folgende Gespräch geführt:
Begegnung mit einer sehr kraftvollen Kirche
Herr Wolff, als Sie 1992 Ihr Amt in Leipzig antraten, da haben Sie die Reste dessen vorgefunden, was 40 Jahre lang Kirche im Sozialismus hieß. Was haben Sie da genau angetroffen?
Christian Wolff: Zum einen begegnete mir eine sehr kraftvolle Kirche, gerade in Leipzig, die Nikolaikirche, geprägt von der friedlichen Revolution. Aber zum anderen erschien mir die Kirche, vor allem ihre wichtigen Repräsentanten, als sehr ausgebrannt, auch verunsichert und ihrer Identität beraubt. Man muss immer bedenken, dass das zusammengebrochene System von Diktatur und Bevormundung der DDR ja ganz viel Kräfte verbraucht hat, und das Ziel dieses Systems war es ja, die Kirche zu marginalisieren, also möglichst in die Bedeutungslosigkeit abzuschieben. Das ist nicht gelungen, aber es passierte dann etwas, was man ja auch biblisch von der Figur des Elia kennt, dass im Augenblick des größten Triumphes gleichzeitig sich tiefste Leere einstellt und eine Sinnkrise ausbricht: Wie soll es weitergehen, geht es überhaupt weiter. Und in dieser Widersprüchlichkeit habe ich meine Tätigkeit begonnen.
Heinemann: Sinnkrise – Sie haben eben die friedliche Revolution und die Nikolaikirche erwähnt. Das heißt, von dem Geist und dem Mut dieser ersten und einzigen friedlichen Wende in Deutschland war dann nicht mehr viel übrig?
Geist der friedlichen Revolution
Wolff: Das kann man so auch nicht sagen. Gerade die Figur von Pfarrer Christian Führer, aber auch die vielen Menschen, die ja dann nach 1989 in die Politik gegangen sind, aus der Kirche kommend, legen ja ein beredtes Zeugnis dafür ab, dass der Geist der friedlichen Revolution und der Mut weitergetragen wurde.
Heinemann: Herr Wolff, es folgten die Jahrzehnte des Zusammenwachsens. Was hat geklappt und was ging schief?
Wolff: Es hat ganz viel geklappt. Man muss ja immerhin bedenken: friedliche Revolution. Niemand wurde an die Wand gestellt. Das hat natürlich auch seinen Preis, dass die Gegner von gestern heute leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Heinemann: Ist das gut?
Wolff: Vom Grundsatz her ist das für eine friedliche Revolution die Voraussetzung.
Heinemann: Das heißt auch, die Opfer müssen sich damit abfinden, dass heute Stasi-Leute oder SED-Funktionäre oder namhafte SED-Mitglieder in der Politik mitmischen?
Wolff: Mitmischen. Allerdings muss auch immer wieder die Forderung da sein, nichts darf vertuscht werden, was gewesen ist. Kein Schlussstrich. Nur dann kann man auch zu einem versöhnlichen Miteinander kommen.
Kirchen in Ostdeutschland haben das System übernommen
Was schief ging, wenn ich das noch sagen darf, das ist das, dass Westdeutschland meinte, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten sei so zu gestalten, dass sich ein Teil nicht verändern muss. Damals hätte alles auf den Prüfstand gehört. Ich mache das immer am Beispiel der Kirchen deutlich: Auch die Kirchen in Ostdeutschland haben ja das System von Westdeutschland übernommen, ohne dass gefragt wurde, wie fließen die Erfahrungen der Kirche in der DDR ein in die Neugestaltung der gesamtdeutschen Kirche.
Heinemann: Viele Menschen kehren diesen Kirchen heute den Rücken. In der Marktwirtschaft bedeutet das, das Produkt wird nicht mehr gebraucht.
Wolff: Bis 1990 haben wir in Westdeutschland sträflichst diese Entwicklung einfach hingenommen, um in diesem Jargon zu bleiben. Es liefen uns die Kunden weg und wir haben im Grunde genommen weiterhin neue Gebäude geschaffen, neue Stellen geschaffen. Das fällt den westdeutschen Kirchen inzwischen auch schwer auf die Füße. In Ostdeutschland haben wir eine etwas andere Entwicklung. Es kehren viele Menschen auch zu den Kirchen zurück. Das sind nicht die Massen. Dennoch ist es ja so, dass viele Menschen sich fragen, woher komme ich, wohin gehe ich, wozu lebe ich, und da Antworten suchen. Wir als Kirche müssten dem viel offensiver auch begegnen. Meine Kontrollfrage, die ich in solchen Diskussionen immer stelle, ist die: Stellen wir uns vor Städte oder Dörfer ohne Kirchen, und zwar ohne Kirchgebäude, ohne Gemeinden, ohne Kindergruppen, ohne Chorenten, ohne Posaunenchor, ohne Kirchenmusik, Matthäus-Passion und Weihnachts-Oratorium, und dann möge sich jeder fragen, ob er in einer solchen Gesellschaft, in einer solchen Stadt, in einem solchen Dorf leben will.
Reaktionen auf neue Moschee in Leipzig
Heinemann: Herr Wolff, Sie sind ein politisch engagierter Theologe. Sie sind SPD-Mitglied. Sie haben sich öffentlich für den Bau einer Moschee im Leipziger Stadtteil Gohlis ausgesprochen und Sie waren betroffen über das, was Sie daraufhin zu hören und lesen bekamen. Vielleicht schildern Sie uns kurz ein paar Reaktionen.
Wolff: Ja. Als bekannt wurde, dass eine muslimische Gemeinde eine auch von außen sichtbare Moschee – wir haben ja schon vier Moscheen in Leipzig – bauen will, da wurde deutlich, auf welch dünnem Eis wir uns da gesellschaftlich bewegen, denn es wurden wahnsinnig viele Ängste laut. Man sprach von Islamisierung von Leipzig und man wolle nicht westdeutsche Verhältnisse in Leipzig haben. Insofern wurde ich überschüttet mit meiner Kollegin zusammen mit Hassmails, ich solle mich doch Mohammed nennen und Islam bedeutet Krieg und da wird man schon sehen, wie man in dem Krieg mit mir umgeht. Das andere ist, was sichtbar wurde in dieser Auseinandersetzung: welchen Stellenwert hat Religion. Denn was auch deutlich wurde in der Auseinandersetzung, dass Menschen Religion ins Abseits schieben wollen. Die Entchristianisierung Ostdeutschlands ist der nachhaltigste Erfolg der DDR und damit haben die Leute eine Angst vor Religion überhaupt, möchten damit gar nicht in Berührung kommen. Dabei kommt es darauf an, dass Religion, Religio, dieses Zurückbinden auf die Ursprünge, dass das wesentlich zum Leben dazugehört, und auch darum habe ich mich ganz eindeutig für den Bau der Moschee eingesetzt. Wir brauchen in einer pluralen Gesellschaft auch äußerlich das Bekenntnis dazu, dass Menschen, die hier ihre neue Heimat gefunden haben, dass die auch ihre Religion leben können müssen.
Heinemann: Herr Wolff, in Europa wird Deutsch gesprochen, haben wir gelernt. Wer betrügt, der fliegt, und Ausländer im Auto sollen eine Maut entrichten. Das mag in der Sache jeweils gerechtfertigt sein oder auch nicht, aber der Ton macht bekanntlich die Musik. Sind das neue Klänge für Sie, 25 Jahre nach der friedlichen Revolution?
Kirche ist oft zu still
Wolff: Neu sind solche Klänge nicht. Neu ist, aus welchem Mund sie kommen. Dass Herr Seehofer und seine Gefolgsleute sich dieser Sprache bedienen, ist erbärmlich. Er sollte den Satz, "wer betrügt, der fliegt“, vielleicht nach nebenan schicken, nach Bayern München. Dort passt das auf Herrn Hoeneß. Was zur sogenannten Ausländer-Maut zu sagen ist, das ist ja schon in sich ein Satz, der ganz gezielt erzeugen soll eine Haltung, Ausländer schmarotzen, Ausländer nutzen die deutsche Wirtschaftskraft aus und müssen sozusagen gestraft werden, und die anständigen Deutschen müssen geschützt werden. Und das ist gerade im derzeitigen nicht ganz leichten europäischen Einigungsprozess fatal. Es wird an die niedersten Instinkte da appelliert, wir, die Deutschen, und ihr, die Ausländer, die unsere Straßen kaputtmachen. Und an der Stelle – das habe ich auch in Leipzig so kommuniziert – erwarte ich, dass diejenigen, die an Führungspositionen sitzen – und das geht bei der Kita-Leiterin los -, dass die in diesen Fragen ganz eindeutig und unmissverständlich sind und sich bekennen zur Pluralität, zum demokratischen Streit und dazu, dass Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, die Möglichkeit haben müssen, ihre Identität zu wahren, auch ihr religiöses Leben zu führen, und gleichzeitig natürlich auch sich den Grundlagen und Grundwerten unserer Verfassung verpflichtet sehen.
Heinemann: Herr Wolff, so deutlich habe ich die Kritik an diesen Äußerungen aus der Kirche bisher nicht gehört. Sind die Kirchen, ist auch Ihre Kirche in diesen Fragen viel zu leisetreterisch?
Wolff: Oft zu undeutlich, zu verquast oder auch zu still. Ich finde, hier müssen die Dinge klar und unmissverständlich benannt werden, auch in die Gemeinden hinein. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass auch bei unserer Kirche sehr unterschiedlich gedacht wird, aber wir verwechseln sehr häufig die Einheit der Kirche mit Leisetreterei und Vermeidung von Streit.
Heinemann: Zurück noch mal zum Gedenkjahr: 25 Jahr friedliche Revolution. In welcher Form sollte an dieses Ereignis erinnert werden?
Wolff: In einer Form, die vor allen Dingen auch deutlich macht der jüngeren Generation, die das ja alles nicht miterlebt hat, dass die Grundanliegen auch heute eine Aufgabe ist. Ich finde dieses Motto aus den früheren Jahren,Aufbruch zur Demokratie“, nach wie vor ganz wichtig.
Heinemann: Christian Wolff, der scheidende Pfarrer der Leipziger Thomaskirche.
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