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Thüringer NSU-Ausschuss
"Verfassungsschutz war näher dran, als er zugibt"

Der Thüringer Verfassungsschutz sei "viel näher" an den NSU-Terroristen dran gewesen, als er bislang zugibt, sagte der Publizist Stefan Aust im Deutschlandfunk. Mit dem vorhandenen Wissen hätte man "nur einmal nachdenken müssen, um zu wissen, in welcher Ecke die Täter zu suchen sind".

Stefan Aust im Gespräch mit Friedbert Meurer | 22.08.2014
    Porträt von Stefan Aust
    Der Publizist Stefan Aust (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Der Bericht des Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag stellt dem Verfassungsschutz des Landes ein vernichtendes Zeugnis aus. Jahrelang hätte die Behörde bei der Aufdeckung des rechtsterroristischen NSU versagt. Der Ausschuss hat sich laut Aust "weit vorgewagt" mit der These, dass das dilettantische Vorgehen System gehabt haben könnte.
    Schlüsselmoment in den Ermittlungen verpasst
    In seinem Buch "Heimatschutz" habe er nicht die Behauptung aufgestellt, dass in den Behörden jemand etwas gesteuert haben könnte. "Aber sie waren viel näher an den Tätern dran, als sie zugegeben haben. Man hätte mit dem, was der Verfassungsschutz gewusst hat, nur einmal nachdenken müssen und man hätte gewusst, in welcher Ecke die Täter zu suchen sind." Der Verfassungsschutz habe ziemlich genau gewusst, mit welchen Tätern er es zu tun gehabt hat. Unmittelbar nachdem sich Beate Zschäpe gestellt habe, seien viele Akten zerstört worden. Das sei eindeutig passiert, "um nicht deutlich werden zu lassen, wie nah man dran war."
    Für Aust gibt es einen Schlüsselmoment. Nach fünf Morden kam der Nagelbombenanschlag an der mehrheitlich von Migranten bewohnten Keupstraße in Köln-Mülheim. Von dem Täter gab es Videoaufnahmen. "Beziehungen zu der Serie wären mit den Videoaufnahmen leicht herzustellen gewesen. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen in Köln hätte man die zweite Hälfte der Serie verhindern können. Das ist das größte Versagen."
    "Man konnte nicht so blind"
    Zwar habe der Ausschuss nicht feststellen können, dass einer der drei Terroristen für den Verfassungsschutz gearbeitet hat. Eines sei aber eindeutig: "Irgendwas ist nicht mit rechten Dingen zugegangen. Man konnte nicht so blind sein, dass keiner von denen was mit der Mordserie zu tun gehabt haben könnte."

    Das Interview in voller Länge:
    Friedbert Meurer: Neun Migranten und eine Polizistin hat der Nationalsozialistische Untergrund NSU aus Thüringen ganz offensichtlich ermordet zwischen 2000 und 2007. Das war eine beispiellose rechtsradikale Mordserie, die - und das ist heute das Unfassbare - als solche überhaupt nicht erkannt worden ist. Jahrelang gingen die Ermittler eher von Mafia-Verbrechen aus. Jetzt hat sich die Landtagspräsidentin Thüringens bei den Angehörigen entschuldigt, nachdem sie den verheerenden Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses gestern präsentiert bekam. Stefan Aust, Ex-"Spiegel"-Chefredakteur, Experte für die RAF, hat aber auch ein Buch über den NSU geschrieben, "Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU". Guten Morgen, Herr Aust!
    Stefan Aust: Ja, guten Morgen!
    Meurer: Versagen, heißt es in dem Untersuchungsbericht, Verdacht auf Kumpanei. Was war es denn jetzt, warum der NSU 13 Jahre lang morden konnte, ohne dass es jemand angeblich mitbekam?
    Aust: Ja, das Schreckliche ist, dass man das eigentlich immer noch nicht genau weiß. Der thüringische Untersuchungsausschuss hat sich ja doch in seinem Ergebnis eigentlich ziemlich weit vorgewagt, indem sie doch das erste Mal wirklich gesagt haben, es könnte ein System dahintergesteckt haben. Wirklich belegen können die das nicht. Ich kenne jetzt den Untersuchungsausschussbericht noch nicht in allen Einzelheiten, das sind 1.800 Seiten, da braucht man ja, selbst wenn man ihn hat, schon eine ganze Zeit dazu. Also, sie haben nicht feststellen können, dass etwa einer von den dreien – also Böhnhardt, Mundlos oder Beate Zschäpe, die in München vor Gericht steht – nun tatsächlich für den Verfassungsschutz gearbeitet hat, aber eines ist ganz eindeutig – und das haben wir ja, als wir für unser Buch alle möglichen erreichbaren Akten durchgesehen haben, eins ist ganz eindeutig: Irgendwas ist da nicht mit rechten Dingen zugegangen, man konnte nicht so blind sein nicht zu sehen, dass die Untergetauchten, die sie gesucht haben, irgendetwas mit der Mordserie zu tun haben.
    "Sehr viel näher an den Tätern dran"
    Meurer: In der Tat, Herr Aust, ein bisschen überrascht das: Der Untersuchungsbericht geht offenbar weiter als Sie in Ihrem Buch: Der Untersuchungsbericht erhebt den Verdacht der Sabotage. Bei Ihnen lautet die These so in etwa: Vor lauter Bäumen an V-Leuten hat man den Wald nicht mehr gesehen. Gab es für Sie keine wirklich triftigen Hinweise, dass da wirklich im Verfassungsschutz ganz krumme Dinge gelaufen sind?
    Aust: Doch, die gab es, die haben wir auch sehr deutlich gemacht. Wir haben uns aber sehr gehütet, daraus einen Schluss zu ziehen, weil wir uns nicht dem Verdacht aussetzen wollten, dass wir irgendwelchen Verschwörungstheorien anhängen. Wir haben offene Fragen gestellt, wir haben dargestellt, was es gibt, wir haben die Widersprüche dargestellt, aber wir haben keine Schlussfolgerungen gezogen. Wir haben sozusagen den nächsten Schritt, den man gehen kann, wenn man ein bisschen nachdenkt, ganz bewusst nicht gemacht. Wir haben nicht gesagt, es muss irgendjemand – was weiß ich, beim Verfassungsschutz, beim Bundesamt oder bei den Landesämtern – irgendetwas gesteuert haben. Das haben wir ganz bewusst nicht getan, obwohl eines für uns ganz eindeutig war, sie waren viel näher dran. Das haben wir allerdings auch geschrieben: Sie waren sehr viel näher an den Tätern dran über ihre V-Leute, als sie zugegeben haben. Man hätte mit dem, was der Verfassungsschutz gewusst hat, ja nur einmal kurz nachdenken müssen, um zu wissen, in welcher Ecke die Täter zu suchen sind. Und ich bin fest davon überzeugt, dass man beim Verfassungsschutz das auch so gesehen hat.
    "Verfassungsschutz hat ziemlich genau gewusst, mit wem er zu tun hat"
    Meurer: Der Verfassungsschutz war blind, wollte es nicht sehen, konnte es nicht sehen, wie auch immer. Nun gibt es aber auch eine ganze Reihe von anderen Behörden, die Morde haben sich in mehreren Bundesländern ereignet, die Polizei in Nordrhein-Westfalen, in Bayern war aktiv. Warum ist denen nicht aufgefallen, das könnte alles einen rechtsradikalen Hintergrund haben?
    Aust: Ich glaube, bei der Polizei hat man bestimmte Informationen nicht gehabt, die der Verfassungsschutz gehabt hat, und bei der Polizei kann man vielleicht sagen, dass die an manchen Stellen blind gewesen sind. Beim Verfassungsschutz würde ich nicht sagen, dass er blind war, der Verfassungsschutz hat ziemlich genau gewusst, mit wem und mit welchen Tätern er zu tun hat, das geht ja auch aus Unterlagen, das geht aus Akten hervor. Und vor allen Dingen, es geht natürlich aus dem hervor, was man an Unterlagen zerstört hat. Wir dürfen ja nicht vergessen, unmittelbar nachdem Beate Zschäpe sich der Polizei gestellt hat, ist der zuständige Abteilungsleiter Beschaffung beim Bundesamt für Verfassungsschutz daran gegangen und hat sich alle Akten raussuchen lassen, die mit diesem Umfeld zu tun haben, und hat dann den Auftrag gegeben einer im Übrigen sich erst einmal sträubenden Mitarbeiterin, diese Akten zu schreddern. Und es ist ganz eindeutig, dass es darum ging, nicht deutlich werden zu lassen, wie nah man an den Tätern dran war.
    Meurer: Warum haben professionelle Ermittler – diese Frage noch mal – in anderen Bundesländern nicht ausreichend Verdacht geschöpft?
    Aust: Ich glaube, das hätte man tun müssen. Man hätte vor allen Dingen an einer ganz bestimmten Stelle ... Ich glaube, es gibt sozusagen ein Schlüsselmoment in der ganzen Geschichte: Es gab fünf Morde und dann gab es den Nagelbombenanschlag in Köln in der Keupstraße. Und bei diesem Anschlag gab es Videoaufnahmen der Täter. Und es gab Beziehungen, die man relativ leicht hätte herstellen können, die der Verfassungsschutz im Übrigen auch hergestellt hat, zu diesen bis dahin gelaufenen Morden. Anschließend gab es noch einmal fünf Morde. Das heißt, wenn man im Zusammenhang mit den Ermittlungen der Keupstraße die Täter gefasst hätte oder zumindest deutlich gemacht hätte, nach wem man sucht, dann hätte man die zweite Hälfte der Mordserie mit großer Wahrscheinlichkeit verhindern können. Das ist das größte Versagen.
    "Man hätte die zweite Hälfte der Mordserie verhindern können"
    Meurer: Noch mal genau nachgehakt, da die Keupstraße ja nur ein paar Kilometer von unserem Studio entfernt ist ...
    Aust: Und vom Verfassungsschutz!
    Meurer: Das auch, genau, der ist in Köln! – Was ist da bei der Keupstraße schiefgelaufen?
    Aust: Ich glaube, man hat bei der Keupstraße erahnt und erahnen können und erahnen müssen, wo man die Täter suchen muss. Das geht aus vielen Unterlagen, die uns auch vorliegen, hervor: Der Verfassungsschutz war sehr nah dran. Aber vielleicht war er so nah dran, dass er immer gedacht hat, irgendwann werden wir zugreifen können, jetzt bleiben wir noch mal lange dran und irgendwann schnappen wir sie tatsächlich. Und hat deshalb das, was man hätte machen können und an Informationen hatte, nicht an die Polizei weitergegeben. Das ist ganz eindeutig. Aber jetzt bin ich schon wieder so auf dem Weg zu spekulieren, das will ich eigentlich nicht.
    Meurer: Stefan Aust, Buchautor über den Nationalsozialistischen Untergrund. Gestern hat der thüringische Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vorgelegt über das Versagen des Verfassungsschutzes. Herr Aust, besten Dank für das Gespräch, Wiederhören nach Hamburg!
    Aust: Danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.