Kolbe: Herr Hiesinger, es heißt, Sie sind ein leidenschaftlicher Motorradfahrer. Wann sind Sie denn das letzte Mal dazu gekommen?
Hiesinger: Jetzt natürlich beim Einwintern, das heißt, im Oktober. Also ich bin keiner, der im Winter fährt, ich bin also eher ein Sonnenscheinfahrer, so im Zeitraum von März bis Oktober. Und ich habe noch eine Runde gedreht, hier durch die Elfringhauser Schweiz, als ich es jetzt eingemottet habe.
Kolbe: Denkt man gar nicht, dass Sie noch dazu kommen, Motorrad zu fahren, bei dem Pensum, das Sie abzuleisten haben?
Hiesinger: Also nicht so viel, wie ich mir wünschen würde, aber es steht einfach in der Garage. Das heißt, wenn die Zeit mal ist, setzt man sich einfach drauf und fährt los.
Kolbe: 2013 ist ja schon auch ein anstrengendes Jahr für Sie gewesen. Kartellverfahren, ein geplatzter Befreiungsschlag, wieder ein Milliardenverlust. ThyssenKrupp ist auch jetzt, nach drei Jahren mit Ihnen an der Spitze, noch immer in der Krise. Wie lang soll das so weitergehen?
Hiesinger: Also Sie werden sich nicht wundern, dass ich das Bild etwas anders beschreiben möchte. Es ist, ohne Wenn und Aber haben wir Großbaustellen, und Sie haben einige genannt. Das ist also das Thema der Stahlwerke in Americas, das ist der Verkauf von Edelstahl und sicher auch die Themen, die wir bei dem Thema Compliance haben. Und das bestimmt natürlich das Bild in der Öffentlichkeit und führt manche dazu, dass sie unseren Konzern als Krisenkonzern beschreiben. Wir sehen das Bild viel ausgewogener. Wir negieren diese Dinge nicht, aber wir sehen natürlich auch, was wir in den Geschäften tun, die die Zukunft unseres Unternehmens ausmachen, und da kommen wir auch ganz gut voran.
"Vergangenheit so schnell wie möglich aufarbeiten"
Kolbe: Zuvor würde ich trotzdem gern erst mal auf die Baustellen in Ihrem Konzern zu sprechen kommen. Sie sind angetreten, gerade was die Compliance-Fälle angeht, mit einer Null-Toleranz-Politik. Sie hatten gerade im vergangenen Jahr auch das Schienenkartell, wo Sie hohe Schadenersatzzahlungen leisten mussten - das sind dreistellige Millionenbeträge - und dennoch ein neuer Fall, der Verdacht von Preisabsprachen auch im Bereich bei Autoblechen. Wie tief hängt ThyssenKrupp da drin?
Hiesinger: Das wissen wir heute noch nicht. Aber man muss immer unterscheiden, das Thema Null-Toleranz, oder wie wir heute Compliance sehen, das können wir ja nur nach vorne bestimmten. Und die Fälle, die wir bisher haben, sind ja alles Fälle aus der Vergangenheit. Das heißt, wir sagen heute unseren Mitarbeitern ganz offen, um jegliche Missverständnisse auszuräumen: Wir wollen keine Geschäfte haben, die wir nicht auf ordnungsgemäße Art und Weise bekommen haben. Haltet die Finger davon ab! Und wenn ihr in so eine Verlegenheit kommt, in eine Situation, dann geht weg, dann wollen wir das Geschäft lieber nicht haben. Was wir natürlich nicht mehr heilen können, sind Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind. Die schlummern in unseren Aktenschränken. Und wenn es dort Vorwürfe gibt, ist es das Einzige, was wir machen können, dass wir dort proaktiv die Behörden unterstützen und die Dinge versuchen so schnell wie möglich aufzuarbeiten.
Kolbe: Gerade bei den Autoblechen laufen die Ermittlungen ja jetzt schon seit dem Frühjahr. Wie weit sind Sie da gekommen?
Hiesinger: Wir haben natürlich parallel, als wir die Durchsuchung hatten, unsere internen Ressourcen verstärkt, auch durch externe Anwälte. Die Untersuchungen laufen sowohl intern noch, wir haben bisher noch keine Rückmeldung vom Kartellamt, ob sie in der Sichtung der Unterlagen, die sie damals abgeholt haben, irgendwelche Dinge gefunden haben. Also hier ist auch die Hoffnung, dass wir in diesem Kalenderjahr vom Kartellamt eben die Rückmeldung bekommen. Es würde uns natürlich freuen, wenn die Meldung hieße: Dort ist wirklich nichts. Aber man muss klar zugestehen, das, was geschehen ist, das kann man nicht mehr korrigieren, nicht mehr verändern, nur noch aufarbeiten.
"Eine Lösung anstreben, die keine Werte vernichtet"
Kolbe: Das gilt auch für das Desaster in Amerika, wenn man da die Baukosten für die beiden Stahlwerke in Brasilien und in USA zusammenrechnet, die Anlaufverluste, stehen da inzwischen fast 13 Milliarden Euro. Für das eine Stahlwerk in den USA haben Sie einen Käufer gefunden. Das in Brasilien wollen Sie erst mal behalten. Was heißt denn "erst mal"?
Hiesinger: Ja, zunächst muss man ja sagen, wir wollen die Stahlwerke verkaufen. Aber als Vorstand stehen wir natürlich auch in der Verantwortung, auch wenn wir Dinge nicht mehr haben wollen, dass wir eine Lösung anstreben, die keine Werte vernichtet. Das heißt, wir werden immer, wenn wir einen Verkauf tätigen, vergleichen müssen: Ist der Verkauf eine bessere Lösung als die Fortführung im eigenen Haus? Und deshalb war es so, dass wir jetzt mit dem Angebot, das wir von dem Konsortium ArcelorMittal und Nippon Steel für das Werk in den USA hatten, da hat dieser Vergleich sozusagen funktioniert, dass wir sagen, das Angebot ist attraktiv genug, es anzunehmen. Für das Werk in Brasilien hat es keine solche Lösung gegeben. Wir müssen mal schauen, ob sich das in den nächsten zwei, drei Jahren ändert. Mittel- und langfristig, das muss man ganz klar sagen, wollen wir auch das Werk in Brasilien nicht bei ThyssenKrupp haben.
Kolbe: Aber Sie sehen jetzt, zwei, drei Jahre werden Sie es wohl erst mal behalten?
Hiesinger: Also ich möchte - das habe ich sicher auch gelernt bei dem Verkaufsprozess mit Americas - keinen neuen Zeithorizont aufmachen.
Kolbe: Sie haben die beiden Werke in den USA und in Brasilien im Mai 2012 zum Verkauf gestellt, weil diese hohen Verluste, die wir angesprochen haben, den Konzern schon arg in Bedrängnis gebracht haben. Wenn wir die Schuldensituation anschauen, jetzt zum Stichtag 30.9., hatten Sie netto fünf Milliarden Euro Schulden. Das ist in etwa zweimal dessen, was Ihr Eigenkapital zu dem Zeitpunkt betragen hat. Ist das nicht schon auch eine existenzbedrohende Situation?
Hiesinger: Also ich möchte Sie noch einmal korrigieren bei der Wertung, warum wir verkauft haben. Wir haben nicht verkauft, weil wir dort über zehn Milliarden investiert haben, denn das Geld bekommen wir nicht mehr zurück. Wir hätten also den Mut gehabt, diesen Weg durchzugehen, wenn wir klare Signale nach vorne gehabt hätten, dass die Werke tragen. Aber wir haben gesagt: Es macht keinen Sinn, diese Periode durchzustehen, weil durch die Tatsache, dass die eine Hälfte des Produktionsprozesses in Brasilien steht und die Weiterverarbeitung in den USA, wir von externen Faktoren abhängen, wie dem Wechselkurs zwischen brasilianischem Real und dem US-Dollar oder dem Eisenerzpreis. Das heißt, dass unsere internen Verbesserungspotenziale in der Wirkung deutlich kleiner sind, als die Wirkung von externen Dingen.
Erster kleiner Schritt Kapitalerhöhung
Kolbe: Aber Sie müssen schon eingestehen, dass Sie auch Geld brauchen? Also alle Rating-Agenturen bewerten Ihr Unternehmen inzwischen mit Ramschniveau.
Hiesinger: Das ist richtig. Ich wollte eben nur korrigieren, weil wir diese zehn, 12 Milliarden, die Sie genannt haben, die können wir nie mehr zurück bekommen. Also das als Verkaufsgrund zu nennen, das wäre nicht richtig gewesen. Wir haben jetzt einen ersten kleinen Schritt getan mit der Kapitalerhöhung, die ja sehr erfolgreich lief, jetzt unmittelbar nach dem Geschäftsjahresabschluss. Unser Orderbuch war ja in einer Stunde voll. Wir hatten am Schluss eine Überzeichnung um den Faktor 3, sodass wir diese Kapitalerhöhung sozusagen über Nacht abschließen konnten. Was für uns eine schöne Bestätigung war, weil es heißt, es sind Investoren da, die eindeutig daran glauben, dass der Weg Sinn macht, den wir eingeschlagen haben. Und was uns besonders gefreut hat, ist, dass zwei Drittel der Investoren langfristig orientierte Investoren sind, also Pensionsfonds und andere, die also eine Verlässlichkeit und Stabilität uns auch bieten.
Kolbe: Jetzt haben Sie am Freitag die Hauptversammlung und Ihre Aktionäre sollen darüber abstimmen, Ihnen wieder ein Mandat zu geben, eine weitere Kapitalerhöhung durchzuführen. Haben Sie denn da konkrete Pläne?
Hiesinger: Nein. Aber ich denke, in einem heutigen hoch volatilen Umfeld und insbesondere auch in der Situation, in der sich unser Unternehmen befindet, wäre es nicht verantwortungsbewusst, sich dieses Werkzeug nicht vorsorglich zu schaffen. Aber ganz eindeutig, wir haben keine konkreten Pläne. Aber in der Situation muss man sich einfach als Vorstand diese Option offen halten und nicht dann, wenn eine Situation eintreten sollte, erst eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen, sondern vorsorglich proaktiv und ganz ehrlich auf die Aktionäre zugehen und sagen: Bitte, wir beantragen das als eine Vorsorgemaßnahme. Ich denke, das ist ein ganz vernünftiger Umgang zwischen den Gremien des Unternehmens und den Aktionären.
"Langfristiger Aktionär wie die Stiftung erwünscht"
Kolbe: Ihr Unternehmen ist in sofern besonders, als dass Sie einen herausragenden Ankeraktionär haben, die Krupp-Stiftung, die bislang knapp über 25 Prozent an Ihrem Unternehmen hielt und damit eine Sperrminorität hat, also richtungsweisende Entscheidungen verhindern kann. Diese Sperrminorität ist verloren gegangen durch die Kapitalerhöhung im Dezember. Findet da so etwas statt wie eine Emanzipation vom Hügel?
Hiesinger: Also nicht eine Emanzipation, weil wir wollen uns ja von der Stiftung gar nicht emanzipieren. Für uns ist ein verlässlicher und langfristig orientierter Aktionär wie die Stiftung gewollt und gewünscht - das tut uns gut. Was wir unabhängig von der Größe des Anteils gemacht haben, ist, dass wir ja das Verhältnis zwischen Stiftung und Unternehmen schon vor der Kapitalerhöhung auf heutige Standards gestellt haben, auf heutige Governance Standards. Dort waren ja Themen im Raum, wie Jagden, wie Flugzeugbenutzung und viele andere. All das ist vor der Kapitalerhöhung sozusagen so nachvollzogen worden, dass es heutigen ideellen Ansprüchen genügt. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass wir als Unternehmen nicht den Wunsch haben, dass dieser Aktionär, die Stiftung uns auch weiter in diesem Verständnis erhalten bleibt.
Kolbe: Nichtsdestotrotz haben Sie jetzt einen weiteren starken Aktionär im Boot, einen Finanzinvestor aus Schweden namens Cevian, die inzwischen über zehn Prozent an ThyssenKrupp halten. Haben Sie Angst, dass Sie jetzt das Ziel von Heuschrecken werden?
Hiesinger: Nein. Also Cevian würde ich nie und nimmer unter diesem Begriff bezeichnen. Cevian hat, wie viele andere Aktionäre, uns über eineinhalb Jahre verfolgt. Wir haben gemerkt, dass sie sich sehr intensiv mit dem Unternehmen beschäftigen. Den Weg, den wir vorgestellt haben, eigentlich immer sehr positiv bestätigend verfolgt haben und mittlerweile auch das Zutrauen gefunden haben, dass wir als Vorstand mit den nächsten Ebenen auch in der Lage sind, diesen Weg umzusetzen.
"Messbar vorangekommen"
Kolbe: Aber es gibt Analysten, die sind der Meinung, dass die Einzelteile Ihres Konzerns eigentlich mehr wert sind als das Gesamtunternehmen zurzeit an der Börse als Bewertung. Das ist ja ein klassisches Ziel von Heuschrecken, die so ein Unternehmen gerne auch aufkaufen?
Hiesinger: Aber Sie haben mich ja mehr gefragt, ob Cevian eine Heuschrecke ist. Diese Rechnung, dass die Einzelteile mehr wert sind, da brauchen wir ja niemand externen. Die Rechnung, da wissen auch wir, dass sie stimmt. Aber wir sagen einfach: Gebt uns die Zeit und die Chance, wir werden diesen Wert über die Zeit heben. Das ist eine Momentansituation. Aber mit dem Programm - und Sie wollten mir ja noch die Chance geben, die Fortschritte zu beschreiben - sind wir ja in den anderen Teilen jedes Quartal messbar vorangekommen. Und deshalb werden wir diese Lücke zwischen dem heutigen theoretischen Wert der Einzelteile und dem Wert von ThyssenKrupp über die Zeit auch schließen.
Kolbe: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, mit Heinrich Hiesinger, dem Vorstandsvorsitzenden der ThyssenKrupp AG. Sie haben schon ganz viel Wandel angesprochen in Ihrem Unternehmen. Wandel heißt auch Strukturen verändern, damit Dinge, die in der Vergangenheit - über die wir gerade gesprochen haben - nicht wieder passieren können. Kulturwandel ist da das Stichwort. Was stellen Sie sich darunter konkret vor?
Hiesinger: Also zunächst ist es ja ganz klar, dass wenn wir als Vorstand diese Großbaustellen betrachtet haben, dann muss man sich ja fragen: Wie konnte denn so was passieren, dass, erstens, solche Investitionen so schief laufen, dass dann, obwohl es ja erkennbar Fehlentwicklungen bei Americas gab, die nicht hochkamen in die entsprechenden Entscheidungsgremien und natürlich drittens, dass es so viele Kartellverstöße gibt. Und da war eindeutig natürlich für uns die Analyse, hier ist über die Jahre, Jahrzehnte eine Kultur entstanden, die eben dazu geführt hat, dass Themen nicht mehr offen, ehrlich und transparent überall in der Organisation bekannt sind. Und dem arbeiten wir jetzt entgegen. Wir haben dafür ein Unternehmensleitbild beschrieben, das auch Werte formuliert. Zum Beispiel im Umgang miteinander sind es Werte wie: offen, ehrlich, transparent und gegenseitige Wertschätzung - das ist ganz wichtig.
Kolbe: Aber das gibt es in vielen Unternehmen, so ein Leitbild. Die Frage ist: Wie kriegen Sie das in eine Organisation getragen, die 150.000 Mitarbeiter hat?
"Ohne ein Wertegefüge kann man nicht agieren"
Hiesinger: Erstens mal natürlich durch persönliches Vorleben des Vorstands - das ist absolut wichtig. Das heißt, ist der Vorstand überhaupt in der Lage, mit offenen und ehrlichen Informationen umzugehen, auch wenn sie unbequem ist. Und dann natürlich auch, indem wir investieren. Wir haben zum Beispiel im letzten Jahr für 1.800 unserer Führungskräfte in Workshops ein, zwei Tage zusammengesessen, um genau diese Werte offen zu diskutieren. Was fehlt noch, damit ihr den Mut habt, euch so zu verhalten? Wie übt man denn diese Form des Umgangs miteinander ein? Wie kann man sich selber so ertüchtigen, dass man auch das Thema Wertschätzung oder vernünftiger Umgang miteinander auch in Krisensituationen hält? Also wir investieren schon. Natürlich - das ist ganz klar -, wir mussten auch viele Führungskräfte verändern. Wir haben also auf ersten Ebene, unterhalb des Vorstands, 70 Prozent der Führungskräfte ausgetauscht - zum Glück, 80 Prozent durch interne Leute. Also wir haben tolle Mitarbeiter bei ThyssenKrupp, aber wir mussten schon Leute suchen, die selber das Verständnis haben, dass man sowohl im Privatleben, aber auch im Geschäft ohne ein Wertegefüge nicht agieren kann.
Kolbe: Schwerfällig, traditionalistisch, das sind so Attribute, die Ihrem Konzern zugeschrieben werden. Stimmt das nicht mehr?
Hiesinger: Das stimmt in vielen Feldern schon nicht mehr. Und jetzt muss ich einfach die Chance nutzen, weil Sie die Frage einfach nicht stellen, wo wir dokumentieren können, dass es sich verändert. Wir kommen ja wirklich voran. Und wenn Sie mir einfach erlauben, um auch dieses Bild, neben den Großbaustellen, auf die andere Seite zu legen. Wir sagen ja, wir bauen ThyssenKrupp um zu einem Konzern - wir nennen den diversifizierten Industriekonzern. Ich kann Ihnen nachher noch beschreiben, was das ist. Ich will Ihnen jetzt …
Kolbe: … also U-Boote, Industrieanlagen, Rolltreppen, Aufzüge, Autoteile - Sie wollen nicht unbedingt nur Stahl kochen?
Hiesinger: Eben nicht nur Stahl. Aber was mir viel wichtiger ist, jetzt erst mal nachzulegen, dass wir dort vorankommen. Das muss man einfach sagen, dass wir ja in einem Umfeld agieren, wo der Markt uns im Moment wenig Chancen gibt. Deshalb haben wir uns vorgenommen, zunächst mal unsere Kosten in Ordnung zu bringen. Wir hatten uns für letztes Jahr vorgenommen, 500 Millionen zu sparen - wir haben 600 Millionen erreicht. Wir haben sechs Geschäftsfelder, davon sind fünf heute schon profitabel - nur Steel Americas ist noch nicht profitabel. Wir haben in der Vergangenheit - und Sie hatten vorher auf unseren Schuldenstand hingewiesen - immer mehr Geld ausgegeben, als wir eingenommen haben. Wir haben im letzten Jahr - zum ersten Mal nach sechs Jahren - wieder mehr Geld eingenommen, als wir ausgegeben haben. Und deshalb konnten wir unseren Schuldenstand, der ja im Jahr 2012 noch 6,5 Milliarden betragen hat, letztes Jahr auf 5 Milliarden reduzieren. Nach der Kapitalerhöhung wird er noch mal deutlich runter gehen. Und wenn wir dann noch das Geld bekommen für unser Stahlwerk in Americas, werden wir die Schulden auf knapp über drei Milliarden reduziert haben. Also auch hier ein deutlicher Schritt nach vorne. Was aber viel wichtiger ist - man kann ja nicht nur sparen und Geld einnehmen -, ist, dass wir, obwohl wir eine angespannte Lage haben, im letzten Jahr 1,4 Milliarden in neue Werke und in die Ertüchtigung von unseren existierenden Werken investiert haben und dass wir schon im zweiten Jahr in Folge unsere Entwicklungsausgaben um mehr als 10 Prozent erhöht haben. Das heißt, im letzten Jahr haben wir 630 Millionen für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Also das ist mir ganz wichtig. In der Außenwirkung werden sehr stark die Großbaustellen geschrieben. Da arbeiten bei ThyssenKrupp nur wenige Menschen daran. Die Mehrzahl der Menschen bei ThyssenKrupp - 150.000 -, die arbeiten an diesen Zukunftsthemen, und die kommen eigentlich ganz gut voran.
"Wieder als erfolgreiches Unternehmen dastehen"
Kolbe: Aber aus den Führungskräften hört man schon, dass die aber sehr viel auch damit beschäftigt gewesen sind, erst mal intern die Strukturen zu verändern. Man hört, die sind ausgelaugt, müde und man hört auch, dass sie bei all den Veränderungen nicht immer genug Zeit hatten, sich auf Märkte, Produkte, Kunden zu konzentrieren. Haben Sie da jetzt ein Defizit, was Sie aufholen müssen?
Hiesinger: Also wir haben ein Defizit, was wir aufholen müssen. Da haben Sie vollkommen recht und das ist auch, was wir offen mit unseren Führungskräften, aber auch mit den Mitarbeitern diskutieren. Wir sind in vielen unserer Geschäfte oder Funktionen in der Vergangenheit nicht wettbewerbsfähig gewesen. Und wenn sie natürlich etwas hinterher hängen, dann müssen sie tatsächlich aufholen. Insofern kann ich den Mitarbeitern und Führungskräften nur danken, dass sie das auf sich nehmen. Aber umso wichtiger ist es ja, dass wir auch die Erfolge ihnen beschreiben und zeigen. Denn das Schlimmste wäre ja, wenn unsere Mitarbeiter und Führungskräfte all diesen Mehraufwand auf sich nehmen und nicht sehen würden, da kommt eine Wirkung an. Also das war schon ein ganz wichtiges Signal und auch eine Bestätigung für unsere Mitarbeiter und Führungskräfte zu sagen: Mensch, das hat ja was gebracht, nach sechs Jahren haben wir das erste Mal wieder richtig Geld eingenommen und konnten wieder unsere Schulden aus eigener Kraft tilgen. Das ist ein enormer Motivationsschub. Und nur deshalb können die Mitarbeiter auch sagen: Okay, dann lass es uns jetzt noch mal anpacken, und es ist zwar hart, das stimmt, aber wir schließen die Lücke und wenn wir jetzt noch ein, zwei Jahre in diese Richtung agieren, dann werden wir den Schuldenstand noch weiter reduzieren, in Richtung schuldenfrei gehen. Aber vor allen Dingen, das Ergebnis wird irgendwann so hoch sein, dass die positiven Beiträge aus unseren Zukunftsgeschäften die Negativelemente der Großbaustellen sozusagen, ja, nicht mehr relevant machen lassen und wir dann wieder als ein erfolgreiches Unternehmen dastehen.
Kolbe: Da würde ich gerne mit Ihnen einmal auf das Prüfverfahren der EU-Kommission zu sprechen kommen, die die Rabatte, die auch Ihr Unternehmen genießt, bei der EEG-Umlage auf den Prüfstand gestellt hat. Wie sehr beunruhigt Sie das?
Hiesinger: Das beunruhigt uns und wir finden also die Diskussion schlichtweg nicht angemessen. Zunächst muss ich sagen, dass wir hier nicht eine Neiddebatte angehen. Die EEG-Umlage hat dazu geführt, dass der Strom sowohl für Privathaushalte wie für Industrien zu teuer wird. Wenn wir also als Industrie über die Ausgleichsregelung, über die weiterführende Ausgleichsregelung reden, dann reden wir nicht im Sinne: Die Privathaushalte sollen es bezahlen, sondern wir kämpfen dafür, dass generell die Kosten für alle, und zwar relativ schnell wieder in Grenzen gehalten werden. Was mir bei dem Bestreben der EU völlig unverständlich ist, ist der Begriff Beihilfe. Durch die EEG-Umlage sind für die energieintensiven Industrien in Deutschland Mehrkosten entstanden, die andere nicht haben außerhalb von Deutschland. Und die Ausgleichsregelung ist nichts anderes, als diesen Wettbewerbsnachteil, den wir haben, zum Teil wieder zu kompensieren. Es ist also alles andere, als eine Beihilfe, um Vorteile zu schaffen gegenüber anderen, sondern um einen in Deutschland generierten Wettbewerbsnachteil so weit zu kompensieren, dass wir hier nicht Arbeitsplätze abbauen müssen.
Kolbe: Sie haben einmal …
Hiesinger: Und das macht mir schon Sorgen. Ich kann Ihnen auch eine Größenordnung geben. Wir bei ThyssenKrupp haben im letzten Jahr - und die Zahl kann ich ja nennen, sie ist offiziell - im Stahl ein Ergebnis gemacht von 146 Millionen.
EEG-Umlage: "Wettbewerbsfähigkeit der Industrie erhalten"
Kolbe: Gewinn?
Hiesinger: Gewinn. Wir haben aber im gleichen Zeitraum knapp 100 Millionen EEG-Umlage gezahlt, trotz der Ausgleichsregelung, die wir haben. Wenn die Ausgleichsregelung vollumfänglich wegfallen würde, müsste ThyssenKrupp circa 300 Millionen Euro pro Jahr bezahlen. Also wir müssten doppelt so viel EEG-Umlage bezahlen, wie wir noch Gewinn gemacht haben.
Kolbe: Was heißt das dann für den Stahlstandort Deutschland?
Hiesinger: Das ist ja das, was ich in einigen Interviews schon gesagt habe. Wir kommen dann in eine Situation, wo wir möglicherweise diese Geschäfte in der Größenordnung nicht mehr werden halten können. Denn wenn Sie die Rechnung einfach aufmachen, das heißt ja, wir würden ja dann in die Verlustzone gehen.
Kolbe: Aber das heißt, Sie sind zuversichtlich, dass Sie diese Rabatte bei der EEG-Umlage behalten können? Oder haben Sie schon Rückstellungen gebildet für den Fall der Fälle, dass die EU-Kommission die Beihilfe - wie sie sie nennt - rückwirkend dann einfordert?
Hiesinger: Nein, das haben wir nicht gemacht. Was erst mal positiv ist, obwohl wir das Verfahren als solches natürlich alles andere als begrüßen, ist, dass zunächst mal nur der Zeitraum seit der EEG-Novelle 2012 in Betracht kommt, nicht nach hinten. Sodass eben auch sozusagen der betrachtete Zeitraum, die Risiken beschreibbar und begrenzt sind. Aber wir gehen einfach davon aus - und deshalb gibt es auch keine Rückstellungen -, dass man hier Lösungen findet, die weiterhin diese Wettbewerbsfähigkeit der Industrie erhalten wird.
"Gegen eine branchenunabhängige Quote"
Kolbe: Ein anderer Beschluss der Großen Koalition betrifft die Frauenquote in Aufsichtsräten, die soll bis 2016 auf 30 Prozent steigen. Im Augenblick haben Sie 15 Prozent, es sind sogar weniger geworden, weil Sie eine Frau - Beatrice Weder di Mauro - durch René Obermann ersetzt haben. Haben Sie keine Frau gefunden?
Hiesinger: Ich glaube, es geht - da müssen Sie natürlich den Normierungsausschuss fragen, das ist ja nicht der Vorstand, der den Aufsichtsrat besetzt, sondern da gibt es natürlich verschiedene Kriterien - eines ist sicher das Thema Diversität. Aber lassen Sie mich einfach sagen, das ist sicher eine politisch motivierte Zielsetzung. Für uns ist ja nicht entscheidend nur die Quote im Aufsichtsrat. Sondern wenn wir über nachhaltige Entwicklung von Frauen in der Industrie oder in der Wirtschaft reden, dann geht es ja um die anderen Funktionen. Wir bei ThyssenKrupp sind eindeutig gegen eine branchenunabhängige Quote. Da würden wir uns zum Beispiel als ein Unternehmen, das aus energieintensiven, aus Stahl, aus mechanischen Komponenten besteht, schwertun.
Kolbe: … männerdominiert ist?
Hiesinger: Ja. Wo es einfach unglaublich viel Ingenieur- und Technikertätigkeiten gibt und dort einfach wenige Frauen diese Themen studieren. Aber wo wir uns klar committed haben, ist, dass wir ein Ziel öffentlich bekannt geben müssen - das haben wir als ThyssenKrupp getan. Wir haben ja gesagt, wir streben bis 2020 eine Frauenquote von 15 Prozent an, und zwar in den Führungsebenen. Wie sind wir auf die 15 Prozent gekommen? Das ist ganz einfach der Anteil der Frauen an der Belegschaft. Und ich denke, das ist eigentlich die richtige Zielsetzung. Wenn wir die 15 Prozent erreichen, haben wir keinerlei Diskriminierung in keine Richtung. Würde der Anteil der Frauen in der Belegschaft auf 20 Prozent gehen, würden wir das Ziel auf 20 Prozent erhöhen. Ich glaube, das ist ein guter auch Anspruch für die Mannschaft, und da kann keiner sagen, dass er bevorzugt oder benachteiligt ist. Die Frauen in der Belegschaft, die müssen sich auch über die Zeit an der Führungsmannschaft abbilden.
Kolbe: Aber Sie sind der Mann an der Spitze, seit drei Jahren jetzt bei ThyssenKrupp. Im vergangenen Jahr hat es da mächtige Veränderungen gegeben. Der langjährige Aufsichtsratschef, Gerhard Cromme, ist zurückgetreten, Firmenübervater - muss man sagen - Berthold Beitz ist gestorben. Ist Ihnen die Machtfülle, die Sie bei diesem Konzern haben, inzwischen unheimlich?
Hiesinger: Das ist ja eine Sichtweise von außen, dass sich meine Machtposition durch die Veränderungen im Aufsichtsratsvorsitz und durch sozusagen den Tod von Herrn Beitz verändert hätte. Das sehe ich überhaupt nicht so, denn meine sozusagen Funktion als Vorstandsvorsitzender hat sich ja in keinster Weise verändert.
Kolbe: Dann anders gefragt: Macht heißt ja auch Verantwortung - 150.000 Mitarbeiter haben wir genannt. Wie gut schlafen Sie denn nachts?
Hiesinger: Ich schlafe sehr gut. Ich glaube, es ist schon wichtig, dass man dieser Verantwortung sich immer bewusst ist, weil sie dann einem die entsprechende Sorgfalt auferlegt, weil sie einen auch zwingt, sich bei Entscheidungen nicht von einer Headline in einer Zeitung oder wegen einem Quartalsstichtag treiben zu lassen. Aber ich glaube, man muss schon in diesen Funktionen, wenn man Vorstand wird oder insbesondere auch Vorstandsvorsitzender, über die Jahre eine Art, mit diesem Druck, mit dieser Verantwortung umzugehen, finden, die einem trotzdem erlaubt zu schlafen und auch ohne Angst mit Ruhe die Entscheidungen zu treffen. Dass natürlich eine Anspannung da ist, dass ein Druck da ist, das darf man nie verneinen. Aber mit dem muss man wirklich so umgehen können, dass man ruhig, besonnen überlegt und verantwortungsvoll entscheidet, aber eben auch noch eine Lebensbalance hat und die ist auch - muss ich ganz ehrlich sagen - dadurch bestimmt, ob man schlafen kann.
"Fehlverhalten wird nicht mehr toleriert"
Kolbe: Ihr Vertrag läuft jetzt noch bis zum Herbst kommenden Jahres. Wollen Sie den Druck weiter aushalten darüber hinaus?
Hiesinger: Also über die Verlängerung entscheidet ja der Aufsichtsrat und in sofern werden wir beide uns Ende dieses Kalenderjahres - Sie wissen ja, man kann ja erst ein Jahr früher sich unterhalten. Aber ich hoffe, Sie haben nicht den Eindruck, dass ich amtsmüde bin.
Kolbe: Sie hätten wieder mehr Zeit für die Familie, vielleicht auch mehr Zeit zum Motorradfahren - das steht für Sie noch nicht im Vordergrund?
Hiesinger: Das steht für mich nicht im Vordergrund. Das ist eine Aufgabe hier bei ThyssenKrupp, da kommen wir gut voran, aber sie ist noch nicht abgeschlossen. Und Sie haben es ja vorher gesagt, die Großbaustellen sind noch nicht beendet. Und wir müssen natürlich in die Situation kommen, dass der Gewinn aus den Geschäften all die negativen überwiegt und wir als profitables, innovatives Unternehmen dastehen und auch als Unternehmen, wo auch außen glaubhaft eben eine Kultur stattfindet, die für Mitarbeiter attraktiv ist und wo Fehlverhalten nicht mehr toleriert wird.
Kolbe: ThyssenKrupp ohne Krise, wird Ihnen da nicht langweilig?
Hiesinger: Also, wer in der Wirtschaft ist, weiß, gänzlich ohne Krisen wird es nicht gehen, weil das wirtschaftliche Umfeld sich ständig verändert und damit auch Märkte und Kundenbedürfnisse. Aber was wir eben wollen, ist, dass die Krisen im Verhältnis zu den Geschäften, die stabil laufen, einfach überschaubar und beherrschbar sind. Aber der Traum, jemals ein Unternehmen zu haben, in dem es keine Krisen gibt, der ist utopisch.
Kolbe: Herr Hiesinger, wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.
Hiesinger: Ich danke für das Interview.