Es ist ein bewährter literarischer Ansatz, das Innenleben einer Diktatur aus einer vermeintlich naiven, unbekümmerten Perspektive zu beschreiben und ein Regime auf diese Weise zu entlarven. Tijan Silas Protagonist und Ich-Erzähler heißt Ambrosio und ist zum Zeitpunkt der erzählten Handlung 16 Jahre alt. Gleich zu Beginn allerdings erfahren wir durch einen Telefonanruf aus Ambrosios Heimat, dass der mittlerweile erwachsene Ambrosio dort noch Jahre später als ein Held des Sports gefeiert wird. Mittlerweile lebt er im Ausland. Der Roman also ist eine Erinnerung an seine lang zurückliegende Jugendzeit.
Das Land, aus dem Ambrosio stammt, ist der fiktive Staat Crocutanien. Sila präsentiert ihn als eine in den letzten Zügen liegende Diktatur, die von der sogenannten spiroistischen Partei beherrscht wird. Man kann sich darunter eine Mischung aus sämtlichen sozialistischen Ostblock-Diktaturen vorstellen. Ambrosio ist Halbwaise, der Vater bereits vor Jahren gestorben. Die Mutter gleitet zunehmend in die geistige Umnachtung ab.
Er hat sich verwartet
Ambrosio trainiert. Er ist Radrennfahrer, ein hoffnungsvolles Nachwuchstalent. Als er bemerkt, dass seine persönliche Situation nicht mehr erträglich ist, nimmt er das Angebot der Partei an, lässt die Mutter zurück und zieht um in ein Sportinternat.
"Mir wurde klar, dass ich das zurückliegende Jahr blindlings verwartet hatte, in vager Hoffnung auf eine Besserung; ich ahnte inzwischen, dass der Irrsinn meiner Mutter unumkehrbar war, und konnte mir, so sehr es noch immer an mir nagte, nicht mehr vorstellen, weiter mit ihr zusammenzuleben."
Ambrosio ist im Übrigen der Name einer bekannten Fahrradreifenmarke. Silas Ich-Erzähler ist ein etwas tumber, leicht manipulierbarer Naivling. Und schon mit der Anlage der Hauptfigur beginnt das Dilemma dieses alles in allem hoffnungslos missglückten Romans.
Denn was im Vorgängerroman "Tierchen unlimited" bei allen Konstruktionsschwächen wenigstens sprachlich noch bestens funktionierte, stößt in "Die Fahne der Wünsche" an seine Grenzen. Der flotte Kosmos aus Lustigkeit, skurrilen Szenen und Pulp-Effekten genügt nicht, um dem Stoff gerecht zu werden. Oder anders gefragt: Was will Tijan Sila überhaupt genau erzählen?
Abgedroschene sozialistische Plattitüden
Ansätze gibt es viele, doch keiner wird vernünftig ausgeführt. Ein klassischer Sportroman ist "Die Fahne der Wünsche" schon deshalb nicht, weil der Sport weder anschaulich beschrieben noch zu einer Metapher wird. Wenn man einmal davon absieht, dass Sila der einen oder anderen Figur abgedroschene sozialistische Plattitüden über das Verhältnis von körperlicher Leistungsfähigkeit und politischem Gehorsam in den Mund legt:
"Da er Spiroist war, verstand er Erfolg als das zwingende Ergebnis richtiger Haltung. Sport sei eine Variante politischen Strebens und eine Metapher für den Kampf der Weltanschauungen. Jacupó behauptete, ein jeder Spiroist könne sich etwas von uns Wettkämpfern abschauen – unsere Disziplin etwa oder unsere Bereitschaft, Qualen und Entbehrungen auf uns zu nehmen."
Der Pseudoschelm Ambrosio enthüllt also nichts, was nicht jeder schon wusste. Stattdessen reiht Sila in seinem gefälligen Tonfall eine Reihe von Einfällen und Szenen aneinander, die nicht so recht zünden mögen. Warum Ambrosio und seine Freunde ausgerechnet der Faszination von Flipperautomaten verfallen und warum das Flippern von Staatsseite daraufhin als zersetzende Tätigkeit eingeordnet und verboten wird, bleibt im Dunkeln.
Das gilt auch für den Umstand, dass sich die weiblichen Mitglieder einer einflussreichen Familie für den zwar zähen, aber körperlich nicht sonderlich attraktiven Ambrosio zu interessieren beginnen. Auch die Wendung, dass Ambrosio sich später als Spitzel der Geheimpolizei anheuern lässt, um die Flipperszene auszuspionieren, kommt unmotiviert und willkürlich daher.
Was man dem Autor unterstellen darf
Überzeugend ist Sila dann, wenn er die unmittelbare, rohe und unberechenbare Gewalt der omnipräsenten Geheimdienstmitarbeiter schildert und es sich verkneift, seine Schilderungen umgehend zu vertrashen und dadurch zu entwerten. Ambrosios Spitzname "Der Goldene" beispielsweise ist nicht das Resultat seiner sportlichen Erfolge – vielmehr nennt man ihn so, weil er bei einer Befragung durch die Obrigkeit ordentlich in die Mangel genommen wurde und seitdem eine Reihe von Goldzähnen im Mund trägt.
"Er machte einen Satz und schlug mir mit der Faust auf den Mund. Ich kippte mit dem Stuhl nach hinten, wurde aber von dem Dürren aufgefangen; er wippte mich einmal, bevor er mich losließ – es schmerzte, als hätte er mir mit einem Messerstreich die Oberlippe abgeschnitten. Diesmal ertastete meine Zunge sofort, dass mehrere der Vorderzähne abgebrochen waren."
Es darf Tijan Sila unterstellt werden, dass er seinem Roman einen theoretischen Unterbau angedacht hat: Der Titel "Die Fahne der Wünsche" ist ein Zitat aus Klaus Theweleits 1978 veröffentlichter Dissertationsschrift "Männerphantasien".
Ein merkwürdig matter Roman
Es sollte also offensichtlich darum gehen, ein fragiles, in seiner Entwicklung problematisches Ich zu zeigen, das sein labiles Innenleben in einem Körperpanzer einschließt. Und vorzuführen, wie der Sport als Hochleistungsapparat mit dem Funktionieren eines faschistisch grundierten Systems einhergehen kann.
Sich über die in ideologischen Stahl gegossene Einheit von Totalitarismus und totaler Verausgabung mit anarchischem Witz lustig zu machen und deren Protagonisten als lächerliche Pappkameraden bloßzustellen, ist ein Vorhaben, das nach wie vor Aktualität besitzt. Aus diesem Anspruch ist allerdings ein merkwürdig matter und über weite Strecken öder Roman geworden.
Tijan Sila: "Die Fahne der Wünsche"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 310 Seiten, 22 Euro
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 310 Seiten, 22 Euro