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Desinformation zum Ukraine-Krieg auf Tiktok
Vom Popgenerator zur Propagandaschleuder

Tanzeinlagen, nachgesungene Lieder, Lustiges – für solche Unterhaltung ist Tiktok bislang vor allem bekannt. Doch dieses Bild ändert sich. Auch Nachrichtenmedien wollen hier junge Menschen erreichen. Und im Ukraine-Krieg wird die App zunehmend zum Ort für Propaganda.

Text: Michael Borgers | Marcus Bösch im Gespräch mit Pia Behme |
Ein Smartphone mit dem Symbol der Tiktok-App
Ende 2021 vermeldete die App Tiktok eine Milliarde aktive Nutzerinnen und Nutzer (picture alliance/dpa/CTK)
Eben noch zu Discomusik wild die Arme von links nach rechts schwenkend mit Sonnenbrillen im Garten, jetzt mit militärgrünen Helmen und Oberteilen vor einem zerstörten Wohnhaus. Wie sich für die Ukraine die Welt verändert hat, zeigt eindrucksvoll der Tiktok-Kanal von Antytila, einer Band, die bis vor kurzem wohl nur Menschen in der Ukraine kannten. Und über die Medien nun weltweit berichten, seitdem Ed Sheeran ihr auf eine Videoanfrage geantwortet hat.
Die drei Musiker, inzwischen als Soldaten im Einsatz, wollten von der Front per Videoschalte aus am „Concert for Ukraine“ teilnehmen und fragten deshalb den britischen Superstar um Unterstützung. Die Organsiatoren des Benefizkonzertes erteilten der Anfrage zwar eine Absage. Doch Sheeran meldete sich und dankte Antytila für ihre Nachricht – ebenfalls auf Tiktok.
Es sind unter anderem Geschichten wie diese, die sich aktuell auf der Plattform abspielen: Videos mit positiven Nachrichten und individuellen Einblicken in den Ukraine-Krieg. Dann gibt es aber auch die andere, negative Seite, die eigentlich alle Sozialen Medien kennen – die aber im Zusammenhang mit Tiktok bislang noch nicht im Vordergrund gestanden hat. Es geht um Falschnachrichten. Und um die Frage, wie schnell sich die Desinformation inzwischen auch dort verbreitet.

Von Beginn des Ukraine-Kriegs an Desinformation

Erste Berichte gab es schon früh, seit Beginn des russischen Angriffs. Wie etwa den über ein Video, das angeblich aktuelle Schusswechsel zwischen russischen und ukrainischen Soldaten zeigt. Und das tatsächlich bereits seit 2014, also seit der Annexion der Krim, online zu sehen ist. Ein Beispiel unter vielen von Desinformation, mit dem Journalisten den Konzern dann auch früh konfrontiert haben.

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Neben solchen Videos mit falscher zeitliche Einordnung geben es auch solche, die "auf Sound geschnitten" würden, sagte Marcus Bösch im Deutschlandfunk. Doch auch bei diesen "Remixen" sei am Ende nicht klar, ob diese vermeintlichen Kriegsbilder tatsächlich aus der Ukraine stammen. Der Medienwissenschaftler forscht in Hamburg zu Tiktok und informiert mit einem eigenen Newsletter seit gut zwei Jahren zum Thema.
Das Besondere an Tiktok gegenüber anderen Plattformen sei, so Bösch, dass hier verbreitete Inhalte eine größere Chance hätten, "viral zu gehen". Menschen könnten auch bereits mit ihrem ersten Video am Ende Hunderttausende Andere erreichen.
Das liege zum einen an einer Verbreitung, bei der es nicht auf eine Anzahl von Followern ankomme. Und zum anderen sei Tiktok auf eine "Cross-Plattform-Verbreitung" ausgelegt, bei der Inhalte dann auch auf Messengern wie Telegram oder Sozialen Netzwerken wie Twitter landen würden.

Untersuchung stützt Kritik an Tiktok

Mittlerweile hat Newsguard, eine private Initiative von Datenanalysten rund um den ehemaligen Herausgeber des „Wall Street Journal“ Gordon Crovitz, eine Untersuchung vorgelegt. Dort heißt es gleich zu Beginn, Tiktok liefere seinen Nutzern innerhalb von 40 Minuten nach der Anmeldung „falsche und irreführende Inhalte über den Krieg in der Ukraine, unabhängig davon, ob sie eine Suche auf der Plattform durchführen“. Unter diesen Behauptungen seien „sowohl pro-russische als auch pro-ukrainische Unwahrheiten“.
In seiner Analyse geht Newsguard auch auf die Geschichte der Plattform ein. Nach einem „kometenhaften Anstieg der Popularität“ seit ihrem Start (bis hin zu einer Milliarde Nutzerprofilen Ende 2021) sei schon bald Kritik laut geworden. So hätten 2019 durchgestochene interne Dokumente gezeigt, dass Inhalte im Zusammenhang mit China zensiert worden seien.

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Außerdem hätten Nachrichten-Websites, die von China unterstützt werden, „kritiklos die Kreml-Propaganda“ verbreiten können. Dabei sei Tiktok in China selbst gar nicht verfügbar, obwohl es von ByteDance, einem chinesischen Internetkonglomerat, das sich teilweise im Besitz der chinesischen Regierung befinde, betrieben werde. Tiktok unternehme insgesamt zu wenig gegen gezielte Desinformation, so die Bilanz von Newguard.

Correctiv will Tiktok künftig monitoren

In Deutschland haben zahlreiche Medien über die Untersuchung berichtet: Tiktok werde zum „gefährlichen Schauplatz des Krieges“, titelte etwa das „Handelsblatt“. Und interviewte eine Faktencheckerin beim stiftungsfinanzierten Journalismusprojekt Correctiv. Die bestätigte, dass auf Tiktok immer mehr Falschnachrichten verbreitet würden. Ihr Team arbeite deshalb nun an einem eigenen „Monitoring für Fake News“, so das „Handelsblatt“. 
Die Zeitung zitierte zudem eine Sprecherin von Tiktok, die erklärte, es handele sich nicht um „das normale Sehverhalten“ der eigenen Nutzerinnen und Nutzern. Man reagiere auf den Krieg in der Ukraine weiterhin mit "erhöhten Sicherheitsressourcen, um schädliche Fehlinformationen zu entfernen“.

Experte Bösch: Russland ist attraktiver Markt für Tiktok

Tiktok sei einem internen Bericht zufolge zunächst von der Situation überfordert gewesen, erklärte Medienwissenschaftler Bösch im Dlf. Doch dann habe man konkrete Maßnahmen getroffen. "So werden beispielsweise vom russischen Staat kontrollierte oder gelenkte Accounts mit einem Banner versehen", sagte Bösch. Auch könne man seit dem 6. März in Russland keine internationalen Inhalte mehr sehen oder eigene hochladen.
Mit diesen Maßnahmen sei man einer Zensur zuvorgekommen, so Bösch. Außerdem wolle sich das Unternehmen das Geschäft in Russland nicht dauerhaft zerstören. Denn mit zwischen 30 und 50 Millionen Nutzerinnen und Nutzern sei Russland für Tiktok ein "attraktiver Markt".

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„TikTok ist zum WarTok geworden“, überschreibt der WDR seine Analyse. Und rät angesichts einer sehr jungen Nutzergruppe: "Eltern und Pädagogen sollten das wissen und mit ihren Kindern darüber sprechen - und den TikTok-Konsum sorgfältig überwachen."