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Krieg in der Ukraine
EU-Kommissar Timmermans lehnt Gas- und Ölboykott vorerst ab

Ein sofortiger Importstopp für Öl würde die EU härter treffen als Putin und sei daher nicht zielführend, sagte der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans im Dlf. Die EU müsse unabhängig von Energieexporten werden, das sei aber nur langfristig erreichbar.

Frans Timmermans im Gespräch mit Stephanie Rohde |
Frans Timmermans vor einer Flagge der EU
Die Energieversorgung der EU müsse sowohl aus politischen Gründen als auch zum Klimaschutz umgestellt werden, sagte Timmermans im Interview (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Die USA und Großbritannien beziehen wegen des Kriegs in der Ukraine kein Öl mehr aus Russland und auch in der EU wird ein solcher Schritt diskutiert. Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, hält das aber nicht für zielführend.
Man müsse bei Sanktionen stets sicherstellen, "dass diejenigen, die von den Sanktionen getroffen werden, härter getroffen werden als wir selber", sagte er im Deutschlandfunk. 23 Prozent des Öls, das in der EU verwendet werde, komme aus Russland. Wenn man diesen Anteil plötzlich nicht mehr einführen würde, habe das "ganz weitgehende Konsequenzen". Der Krieg habe inzwischen "barbarische Formen" angenommen und die EU könne weitere Sanktionen verhängen. Die bisherigen Sanktionen hätten die russische Wirschaft bereits schwer getroffen.

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Putin selbst sei mit Sanktionen allerdings nicht mehr zu beeindrucken. "Er gibt nie nach. Der wird immer weitergehen. Der legt immer noch mehr drauf", sagte Timmermans. Er hoffe aber, dass die russischen Eliten unter dem Druck ihre Haltung ändern. Und die wiederum könnten Einfluss auf Putin nehmen, dass er diesen Krieg beendet.

Ziel der EU ist Unabhängigkeit der Energieversorgung

Die EU müsse schnellstens die erneuerbaren Energien ausbauen, um unabhängig von Energieimporten zu werden – und um wirksame Klimapolitik zu machen. Das seien allerdings langfristige Ziele. Kurzfristig müsse es darum gehen, Lieferanten zu finden, die die russischen Importe ersetzen können. "Wir müssen unsere Abhängigkeit von der russischen Energie jetzt schnell abbauen", sagte Timmermans.
Timmermans betonte auch, dass die Ukraine zur Europa gehöre. Die Ukrainer kämpften mit viel Mut für Demokratie und Freiheit. Es gebe noch zahlreiche Hürden für einen Beitritt zur EU, die könne man aber gemeinsam lösen. Demokratie und Rechtsstaat müssten in der Ukraine über Reformen gestärkt werden.

Das Interview im Wortlaut:

Stephanie Rohde: Die USA und Großbritannien senden ein ganz klares Signal an Russland und stoppen Ölimporte. Warum schafft die EU das nicht?
Frans Timmermans: Wenn man Sanktionen macht, dann muss man dafür sorgen, dass diejenigen, die von den Sanktionen getroffen werden, härter getroffen werden als wir selber. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Putin es schwermachen, aber nicht, dass wir Sanktionen treffen, die unsere Gesellschaft schwächen. Wir brauchen eine starke Gesellschaft jetzt.
Alles liegt noch auf dem Tisch. Wir haben noch Möglichkeiten, weitere Sanktionen einzuführen. Aber wir müssen das so tun, dass Putin getroffen wird und nicht wir selber.
Rohde: Wenn Sie sagen, alles liegt noch auf dem Tisch, heißt das, ein sofortiger kompletter Importstopp ist weiterhin eine Option?
Timmermans: Alle Optionen gibt es jetzt. Ich denke aber, dass es heute nicht zu einer Schlussfolgerung in diesem Sinne kommt. Aber wir müssen noch die Möglichkeit haben, weitere Sanktionen zu treffen. Der Krieg hat jetzt wirklich barbarische Formen angenommen. Wenn Krankenhäuser bombardiert werden und so weiter, dann müssen wir auch die Möglichkeit haben, noch weitere Sanktionen zu treffen, und wir müssen dafür sorgen, dass wir zuhause unsere Hausaufgaben machen, damit wir nicht uns selber schwächen, wenn wir entscheiden würden, auch einen Gas- oder Ölboykott einzuführen.

Stopp von Gaslieferungen "können wir verkraften"

Rohde: Wie sehr, nehmen Sie an, würde man sich selber schwächen? Es gibt Berechnungen von den Universitäten Köln und Bonn, die zu dem Schluss kommen, dass selbst bei einem vollständigen Stopp von Gasimporten zumindest die deutsche Wirtschaftsleistung um bis zu drei Prozent sinken würde. Das wäre weniger als der Wirtschaftseinbruch bei Corona. Können Sie da nicht die deutsche Regierung davon überzeugen, dass man dieses Opfer jetzt wirklich bringen sollte?
Timmermans: Ja. Die Russen haben auch gedroht damit, dass sie uns kein Gas mehr liefern. Das würde uns keine ganz großen Schwierigkeiten machen. Das können wir verkraften.

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Bei Öl ist es eine andere Geschichte, ist es komplizierter. Die Amerikaner nehmen ja fast kein Öl aus Russland. Das sind nur drei oder dreieinhalb Prozent. Bei uns kommen 23 Prozent des Öls aus Russland. Wenn man das über Nacht nicht mehr einführt, das hätte ganz weitgehende Konsequenzen.
Wir können uns aber darauf vorbereiten. Das machen wir jetzt auch. Wir müssen unsere Abhängigkeit von der russischen Energie jetzt schnell abbauen und dazu haben wir ja auch Pläne vorbereitet.

"Putin spielt jetzt Vabanque"

Rohde: Herr Timmermans, wenn Sie jetzt sagen, wir können uns darauf vorbereiten, glauben Sie, dass das Putin beeindruckt?
Timmermans: Ich glaube, Putin spielt jetzt Vabanque. Auch die amerikanischen Sanktionen beeindrucken den nicht mehr. Die haben aber eine Konsequenz, so wie unsere Sanktionen auch. Wir haben schon drei sehr schwere Pakete beschlossen und die haben – das kann man in der russischen Wirtschaft sehen – einen ganz, ganz großen Einfluss aufs Land. Ich hoffe, dass das dann auch bei den Eliten in Russland zu einer Änderung der Position führt und dass man vielleicht Putin davon überzeugen kann, dass er so nicht weitermachen muss.
Ich kenne Putin schon seit 1991. Der gibt nie nach. Der wird immer weitergehen. Der legt immer noch mehr drauf. Der wird das selber nicht machen. Aber wenn Russland so leidet wie jetzt, wirtschaftlich, hoffentlich haben die Eliten dann einen Einfluss auf ihn, dass er vielleicht mit diesem schrecklichen Krieg aufhört.
Rohde: Die EU will jetzt bis Ende des Jahres ihre Erdgasimporte um zwei Drittel senken. So ist zumindest ihr Plan.
Timmermans: Ja.

"Schnellstens Photovoltaik ausbauen"

Rohde: Man möchte mehr strategische Unabhängigkeit und zum Beispiel dann Flüssiggas aus Ländern wie Ägypten, aber auch Westafrika bekommen. Wie soll die EU denn unabhängiger werden, wenn man sich abhängig macht von Energie aus undemokratischen Ländern wie Ägypten oder Krisenregionen wie Westafrika?
Timmermans: Wir werden natürlich erst richtig unabhängig, wenn wir unsere eigene Energie erzeugen. Dazu müssen wir schnellstens Photovoltaik ausbauen, wir müssen Wind auf dem Meer ausbauen, wir müssen auch Biogas ausbauen. Es ist auch richtig, dass die deutsche Bundesregierung dazu 200 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Das ist die richtige langfristige Lösung. Aber kurzfristig müssen wir dieses russische Gas ersetzen mit anderem Gas. Dazu brauchen wir auch Kontrakte mit anderen Ländern. Darum bemühen wir uns. Meine Kollegin Simson ist schon weitgehend damit beschäftigt, diese Kontrakte zu schließen. Es gibt eine langfristige Sache, die wir machen können, unsere eigene Energie erzeugen. Das wird dann erneuerbare Energie. Kurzfristig müssen wir andere Lieferanten finden, damit wir kurzfristig schon weniger abhängig sind von Russland.
Rohde: Ist da die EU-Infrastruktur gut aufgestellt und bereit? Wenn man das Beispiel Spanien anschaut, das soll eine wichtige Rolle spielen, weil dort Gas aus Algerien ankommt. Allerdings hat Spanien nur zwei Pipelines und die können sehr, sehr, sehr viel weniger durchlassen als Nord Stream 1. Ist die EU nicht allein schon von ihrer Infrastruktur her gar nicht soweit, dass sie jetzt unabhängig werden kann?
Timmermans: Ja, wir müssen unsere Infrastruktur jetzt schnellstens verbessern. Dazu haben wir auch Pläne, dazu haben wir auch jetzt das Geld. Aber ich muss dazu auch sagen: Frankreich hat lange Zeit aus wirtschaftlichen Gründen nicht wirklich daran mitarbeiten wollen, damit wir diese Konnektoren zwischen Spanien und Frankreich bauen. Jetzt ist es aber nötig, nicht nur für Gas, auch für Erneuerbare. Spanien und Portugal machen mehr Erneuerbare, als sie selbst benutzen, und die können damit nicht nach Europa. Das macht überhaupt keinen Sinn. Das müssen wir sehr schnell ändern.

"Von dieser Klimakrise mehr motiviert als von sonst etwas"

Rohde: Herr Timmermans, noch eine grundsätzliche Frage. Sie haben gerade von mehr Klimaschutz gesprochen und haben gesagt, dass das nicht beschlossene Klimapaket vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges schneller umgesetzt werden soll. Wenn jetzt ganz grundsätzlich wir mal fragen: Warum motiviert Sie Putin eigentlich mehr als eine Klimakrise, die langfristig den Planeten zerstört?
Timmermans: Nee! Ich bin natürlich von dieser Klimakrise mehr motiviert als von sonst etwas.
Rohde: Aber warum sagen Sie, dass es jetzt schneller umgesetzt werden muss, vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges, und nutzen dieses Momentum?
Timmermans: Wir gehen so schnell als möglich, was unsere Mitgliedsstaaten uns bisher erlaubt haben, und wir müssen dafür sorgen, dass wir gut hören auf unsere Wissenschaft, damit wir diese Temperatursteigung auf 1,5 Grad beschränken. Aber jetzt wird auch unsere Sicherheit unmittelbar von Putin bedroht. Das gibt ein Extra-Motiv, damit wir noch härter daran arbeiten müssen, und da können wir hoffentlich auch alle Mitgliedsstaaten davon überzeugen, dass wir jetzt mehr Dampf machen müssen.

Timmermanns: Menschheit kämpft ums Überleben

Rohde: Zur Sicherheit gibt es jetzt auch die Frage der Lebensmittelversorgung. Da sagen jetzt schon viele in der EU, wir müssen mehr Nahrungsmittel in Europa erzeugen und müssen auch helfen, dass global die Ernährungssicherheit dargestellt wird. Müssen Sie angesichts dieser wichtigen Herausforderung jetzt nicht Ihre Green Deal Pläne aufgeben, zum Beispiel Flächen stillzulegen oder Düngemittel zu reduzieren?
Timmermans: Nein! Denn wenn es uns nicht gelingt, unsere Biodiversität zu schützen, dann wird es mit der Landwirtschaft auch völlig schiefgehen. Wir müssen nicht die Analyse vernachlässigen, dass die Art und Weise, worauf wir heute Landwirtschaft betreiben, uns Schwierigkeiten macht, auch langfristig zu Schwierigkeiten führt. Wir müssen dafür sorgen, dass wir weniger Pestizide benutzen, dass wir mehr Biodiversität schützen. Das ist für unsere Gesundheit, fürs Überleben der Menschheit unheimlich wichtig. Und es gibt damit auch viele neue Möglichkeiten für unsere Landwirte.
Rohde: Aber wie soll das denn zusammengehen? Der DIW-Präsident Marcel Fratzscher sagt, die Nahrungsmittelpreise werden deutlich steigen. Wird das dann nicht noch alles viel teurer, wenn man das klimafreundlicher macht?
Timmermans: Nein, es wird teurer, wenn man so weitermacht wie jetzt und dann unserer Biodiversität so schadet, dass es ganz große Pandemien geben wird. Was ist dann teurer? – Ich muss sagen, ich bin nicht erstaunt, dass diejenigen, die vorher schon keine Änderung in der Agrarpolitik wollten, jetzt diese Krise benutzen, um zu sagen, jetzt müssen wir das nicht mehr machen. Das habe ich mit dem Green Deal auch erlebt. Da hat es auch beim Covid Leute gegeben, die sagen, schön, dieser Green Deal, aber jetzt müssen wir das mal vergessen, denn jetzt haben wir eine andere Krise. Dann haben wir zeigen können, dass wir genau jetzt diesen Green Deal brauchen, damit wir auch diese Herausforderungen bewältigen können. Wir müssen nicht den Blick darauf verlieren, dass unsere Menschheit auch kämpft fürs Überleben, weil unser Klima leidet, weil unsere Biodiversität leidet. Da haben wir auch eine ganz, ganz große Pflicht unseren Kindern und Enkelkindern gegenüber.

Timmermans: Ukraine gehört zu uns

Rohde: Herr Timmermans, lassen Sie uns noch auf eine Beitrittsperspektive für die Ukraine schauen. Die Ukraine wünscht sich einen schnelleren Beitritt. Jetzt heißt es allerdings in dem Entwurf für die Abschlusserklärung des Gipfels, die Ukraine gehört zur europäischen Familie. Es gibt aber keine konkreten Zusagen. Hat Ursula von der Leyen der Ukraine letzte Woche zu voreilig Hoffnungen gemacht?
Timmermans: Nein! Ich glaube, auch die Schlussfolgerung, die wir jetzt sehen – die ist im Entwurf –, führt dazu, dass wir als Kommission jetzt eine Analyse machen werden, was ist möglich und was sind die kurzfristigen Sachen, die wir machen können, und was muss langfristig geschehen. Ich glaube, Ursula von der Leyen hat richtig gesagt, die Ukraine gehört zu Europa.
Wenn man sieht, mit wieviel Mut die ukrainischen Frauen und Männer kämpfen für Demokratie, für Freiheit, dann können wir nicht anders als die Schlussfolgerung ziehen, die gehören zu uns.

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Rohde: Gleichzeitig muss man auch sagen, dass die EU immer wieder beklagt hat, dass es zu wenig Reformanstrengungen gibt. Im letzten Jahr hat der Rechnungshof noch gesagt, dass die Ukraine trotz zwei Jahrzehnten Förderung durch die EU immer noch besetzt ist von Oligarchen und Staatsdienern und korrupten Menschen. Müssen Sie der Ukraine da nicht ganz klar jetzt sagen, sorry, ihr seid einfach noch nicht soweit?
Timmermans: Was wir sagen müssen ist: Wie können wir diese Probleme lösen? Gemeinsam! – Das haben wir ja in der Vergangenheit auch zwischen 1998 und 2004 mit Polen, mit der Tschechei, mit der Slowakei gemacht. Das ist die Möglichkeit, die die EU immer hat, Reformen zu erzwingen, die dazu führen, dass Demokratie und Rechtsstaat gestärkt werden, und das können wir auch mit der Ukraine machen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.