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Timo Berger (Hrsg.): "Buenos Aires"
Die Hauptstadt als unerschöpfliche literarische Quelle

Die Literatur Argentiniens ist auch ein Spiegel der Krise, in der sich das Land seit Jahrzehnten befindet. Timo Bergers Band stellt 20 kurze Texte von ebenso vielen Autorinnen und Autoren vor, in denen das Lebensgefühl nicht nur der Hauptstadtbewohner sichtbar wird.

Von Dirk Fuhrig |
Buchcover: Timo Berger (Hrsg.): „Buenos Aires. Eine literarische Einladung"
Kein Kulturreiseführer, sondern ein Buch auch über die Abgründe und Ängste der Bewohner von Buenos Aires (Foto: dpa/Julian Stratenschulte, Buchcover: Verlag Klaus Wagenbach)
Die Literatur, in der die Stadt Buenos Aires eine Hauptrolle spielt, ist unerschöpflich. Ähnlich wie Paris für Frankreichs Schriftsteller, ist die Metropole am Rio de la Plata ein Mythos für argentinische Autoren. César Aira ist einer der bekanntesten und wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Lateinamerikas. Er ist ein Meister der kleinen Form. "Der Hund" heißt der brillante Kurztext, mit dem dieser Band eröffnet wird: Ein Hund rennt in Buenos Aires neben einem Stadtbus her. Nach und nach merkt der Ich-Erzähler, dass das verzweifelte Bellen ihm gilt:
"Dieser Hund hatte mich erkannt und war hinter mir her. Und obwohl ich mir unter dem augenblicklichen Druck schwor, es zu leugnen, alles zu leugnen, nichts zuzugeben, wusste ich tief im Innern, dass er Recht hatte und ich nicht. Denn in der Vergangenheit hatte ich mich diesem Hund gegenüber einmal übel verhalten, ihn zur Zielscheibe einer wirklich unbeschreiblichen Gemeinheit gemacht."
Diese Verfolgungsjagd besitzt existentielle Wucht. Den Ich-Erzähler holt ein Vergehen aus früheren Zeiten ein. Eine Schuld, die nicht vergeht.
"Ich muss gestehen, dass ich nie besonders feste moralische Prinzipien hatte. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber eine Erklärung dafür liegt in dem unaufhörlichen Überlebenskampf, den ich von frühester Kindheit an zu bestehen hatte. Dieser Kampf hat meine Skrupel abstumpfen lassen."
Überlebenskampf als Leitmotiv
Das Stichwort "Überlebenskampf", das in dieser furios verdichteten Erzählung von César Aira fällt, ist eine Art Leitmotiv für die von Timo Berger herausgegebene Anthologie. Der Titel "Buenos Aires. Eine literarische Einladung" kommt leicht und lockend wie eine Art Kulturreiseführer daher. Die überwältigende Urbanität und Schönheit der Stadt taucht in vielen Texten zwar auf. Aber auch die Abgründe und Ängste ihrer Bewohner, Gewalt und Traumata:
"Mein Vater ist bei einem Anschlag gestorben, der allgemein bekannt ist und an den sich die Leute erinnern. Es ist die Art von Tod, bei der es genügt, das Datum zu nennen, damit man die Ursache kennt: 18. Juli 1994."
An jenem Tag wurden bei einer Terrorattacke auf das jüdische Gemeindezentrum AMIA 85 Menschen getötet. Die Aufklärung ist bis heute nicht abgeschlossen. Vieles, was mit dem AMIA-Attentat zu tun hat, wirkt, als habe es sich ein Romanschriftsteller ausgedacht. Tamara Tenenbaum, die dieses Ereignis als Element ihrer jüdischen Familiengeschichte literarisch aufgreift, zählt mit ihren 30 Jahren zur jüngsten argentinischen Schriftsteller-Generation:
"Letztes Jahr haben wir uns New York angesehen, und dieses Jahr fahren wir nach Spanien: Barcelona, Madrid und Sevilla, mindestens. Meine Mutter reist gern. In ihrer Jugend hat sie das nie gemacht, mit meinem Papa hat sie es vorsichtig angefangen, und mit uns lebt sie es jetzt aus, immer an Orte, die ihr keine Angst machen: auf dieser Seite von Greenwich und bevorzugt auf der anderen des Äquators."
Weg wollen und zurückkommen
In Buenos Aires leben, heißt weg wollen - und doch immer wieder zurückkommen in diese Stadt, die auf die Einwanderer aus Europa und anderen Teilen der Welt seit 200 Jahren eine so große Anziehung ausübt. An kaum einem anderen Ort ist die kulturelle Bindung an Spanien, Italien, Frankreich, aber nicht zuletzt auch an Deutschland so groß wie dort.
In der Stadt verschmelzen unterschiedliche kulturelle Prägungen. Anders als die sozialen Unterschiede, die immer größer zu werden scheinen. Der Journalist und Schriftsteller Martín Caparrós schildert in seinem Text "Die bedrückte Stadt" die desolate Lage der Papiersammler, die nachts mit Handwagen durch die Straßen der besseren Viertel ziehen:
"Menschen - Männer, Frauen, manchmal ihre Kinder -, die diese kleinen Karren des Glücks vor sich herschieben, in denen sie sammeln, was der Müll noch hergibt. Sie werden 'Cartoneros' genannt, weil sie 2001, während der vorletzten Krise, Kartons und Papier zu sammeln begannen und auf diese Weise ein Teil der Stadt wurden, zum bleibenden Symbol."
In diesen Zeilen spiegelt sich der scheinbar unaufhaltsame Abstieg der Metropole, die vor einem Jahrhundert zu den reichsten und prächtigsten der Welt gehörte. Wer durch die nördlichen Stadtteile Recoleta oder Palermo streift, wo viele Schriftsteller und Intellektuelle wohnen, wo ein belebtes Café sich an das nächste Restaurant reiht und sich große Parks erstrecken, der fühlt sich wie in einer lebensfrohen mediterranen Sommerfrische. Doch der Rio de la Plata, an dem diese Viertel entlangwachsen und der Argentinien von Uruguay trennt, erweist sich, so bei Martín Kohan, als trügerisches, verschlingendes Meer:
"Im Fernsehen wurde es angekündigt, und meine Augen bestätigen es. Ein extremes Niedrigwasser - der Fluss fast nicht mehr da".
Der Erzähler lässt sich dazu verführen, den Weg über den Fluss, der sonst mittels Schnellboot in einer Stunde zurückgelegt wird, zu Fuß zu wagen. Doch dann legt sich der Sturm, der das Wasser verdrängt hat. Die Flut kommt zurück. Und es zeigt sich, dass er nicht - wie einst Jesus - die Fähigkeit besitzt, über Wasser zu gehen:
"Das Wasser des Río de la Plata ist Süßwasser. Der Río de la Plata ist ein süßes Meer. Und wenn man so will, ist er auch ein Rotes Meer. (…) In einem Punkt jedoch habe ich mich offenbar geirrt - in diesem Meer bin ich nicht der Jude. In diesem Meer bin ich der Ägypter. Wie es scheint, war das mein Fehler."
Scheitern, Trauer, Verlorenheit
In den 20 Texten begegnen uns Scheitern, Trauer und Verlorenheit. Spurensuche nach der Vergangenheit der Militärdiktatur ebenso wie nach den Lebensorten des literarischen Übervaters Jorge Luis Borges. Der Herausgeber des Bandes, Timo Berger, hat sehr klug eine äußerst überzeugende Mischung aus neuen und älteren Texten zusammengestellt. Roberto Arlts Hymne auf die Magistrale "Corrientes" lässt Buenos Aires' Glanz der 30er-Jahre aufscheinen. An einem Text von Julio Cortázar lässt sich studieren, wie stilbildend er bis heute auf die argentinischen Literaten wirkt. Daneben stehen weitere wichtige zeitgenössische Autorinnen wie Samanta Schweblin und Pola Oloixarac. Oder Ariel Magnus, der mit Romanen über seine deutsch-jüdischen Vorfahren auch hierzulande bekannt ist.
Das Buch lässt die Stadt mit der größten Schriftstellerdichte Lateinamerikas in vielen Facetten leuchten. Es ist auch eine Einladung, die Literatur des gesamten Kontinents, die in den 70er-Jahren einen weltweiten Boom erlebte, in jüngster Zeit aber eher wenig Beachtung fand, neu zu entdecken. Die sozialen Bewegungen und Unruhen sind ein Indiz dafür, dass sich diese aus europäischer Perspektive so entfernte Weltregion in Zukunft wieder mehr zu Gehör bringen wird. Was die Literatur betrifft, wird Buenos Aires - und auch das lässt sich aus dieser Sammlung frischer und anregender Texte erspüren - eine ungebrochen große Rolle spielen.
Timo Berger (Hrsg.): "Buenos Aires. Eine literarische Einladung"
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 144 Seiten, 18 Euro.