Archiv

Timothy Garton Ash
"Ein Jahrhundert wird abgewählt"

Der Essayband über die Hintergründe der Wende in Mittel- und Osteuropa machte den britischen Historiker 1990 bekannt, nun wird er zum Mauerfall-Jubiläum noch einmal aufgelegt – angereichert mit aktuellen Eindrücken.

Von Sabine Adler |
Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989.
Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989 (Hanser Verlag / dpa / picture-alliance / Wolfgang Krumm)
Wenn jemand so genau und so ausdauernd beobachtet wie Timothy Garton Ash, fragt sich vielleicht der eine oder die andere, ob er diese Fähigkeit auch vor 30 Jahren schon besaß. Dass das der Fall war, zeigt die Wiederauflage seiner Essays über die DDR, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn kurz bevor und nachdem der Eiserne Vorhang demontiert wurde. Der Autor interessierte sich bei seinen Reisen vor allem für die damalige Opposition und spürte nach, durch welche Ritzen das Lüftchen der Revolution bereits zog, bevor der Wind überall kräftig blies.
Der Charme der Texte liegt in ihrer Entstehungsgeschichte. Sie sind nicht mit dem Wissen von heute geschrieben, sondern zwischen 1981 und 1990. Bereits in den 1970er Jahren besuchte er die DDR, lebte als Doktorand neun Monate in Ost-Berlin und genoss dabei mehr Freiheiten als die akkreditierten West-Korrespondenten. Bilder aus vergangenen Tagen werden wach:
"Wenn es Morgen wird, sieht man auch die Hunderte von Kabeln, kreuz und quer über die Fassaden gespannt, über die Stuckgesichter, wie Falten des Alters. Antennenkabel zum Empfang der westlichen Sender. Auch der alte Mann ist kein Landstreicher, der nach Essbarem stöbert, sondern ein Rentner auf der Suche nach leeren Flaschen. Er verkauft sie dem Staat für zwanzig bis dreißig Pfennige in einem kleinen Laden direkt unter meinem Balkon und bessert damit seine Rente auf. Und heutzutage schimpfen die Arbeiter in der Kneipe über ihre 'Prämien' und den Betrag, der ihnen für etwas, was sie 'Soli' nennen, abgezogen wird: 'Solidaritätsspende' für Vietnam oder Angola."
"Von quälender Unsicherheit zu quälender Sicherheit"
Der britische Politologe lebte in einem Arbeiterviertel, das 1933 noch mit großer Mehrheit kommunistisch gestimmt hatte, in dem es bei der Kommunalwahl 1979 aber fast 700 Gegenstimmen und 5000 Stimmenhaltungen gab. Bemerkenswert bei sonst 99-prozentigen Wahlergebnissen, die nie und nirgendwo mit dem realen Sozialismus zusammenpassten.
"Vor 50 Jahren hatten die Bewohner kaum Geld, um etwas zu kaufen; heute gibt es kaum etwas zu kaufen. Vor 50 Jahren demonstrierten sie am 1. Mai ihre Solidarität mit den Arbeitslosen, die von der unmenschlichen kapitalistischen Wirtschaft geschaffen wurden. Heute versuchen sie, sich von den obligatorischen Mai-Demonstrationen in die Welt der privaten Vergnügungen, in ihre Schrebergärten oder Autos zurückzuziehen. Vor 50 Jahren lebten sie in quälender Unsicherheit; heute leben sie in quälender Sicherheit."
Anstelle seiner Dissertation über Hitler verfasste der junge Wissenschaftler ein Buch über die DDR unter Honecker. Danach durfte er nicht mehr einreisen. Er hielt trotzdem mit den DDR-Dissidenten Kontakt. Viele ließ Honecker gegen harte Währung in den Westen exportieren und blutete so die DDR-Friedensbewegung aus. Der damals 30-jährige Autor schrieb 1985: "Heute gibt es mehr Jenaer Friedensaktivisten in West-Berlin als in Jena."
Timothy Garton Ashs Sympathie gehört augenscheinlich den Polen. In Danzig hatten Werftarbeiter die unabhängige Gewerkschaft Solidarność gegründet. Ihm imponierte der Widerspruchsgeist unserer östlichen Nachbarn. Deren beste Schriftsteller veröffentlichten in Untergrundverlagen, die besten Lehrer unterrichteten außerhalb der Schulen; die verbotenen Theatergruppen spielten in Klöstern weiter.
Polen war das Land, in dem die Kommunistische Partei wegen der starken katholischen Kirche nicht unbeschränkt herrschen konnte. Johannes Paul II., dem Papst aus Polen, misst Garton Ash größte Bedeutung für den Fall der Mauer zu. Karol Józef Wojtyła habe die Arbeiter ermutigt, so wörtlich, mit der Reformation ihrer selbst zu beginnen. Er erschreckte die kommunistische Regierung, als er den Polen sagte, dass sie ein Recht auf Unabhängigkeit haben, auf nationale Souveränität, auf gerechte Löhne, freie Gewerkschaften, auf Sicherheit. Eine Anspielung auf General Jaruzelski, der 1981 das Kriegsrecht verhängte und das erste ungeschriebene Gesetz der polnischen Tradition brach: Polen sollen keine Polen töten.
Anders als in Tschechien, wo die Katholische Kirche ausgelöscht wurde, 10.000 Mönche in Arbeitslagern verschwanden, Bischöfe, Priester und Theologen inhaftiert wurden und die wenigen Übrigen im Sold des Staates standen, gewann die Kirche in Polen kurz vor dem Ende des Kommunismus gehörig an Einfluss. Die Zahl der aktiven Gläubigen wuchs von 65 Prozent auf 95 Prozent. 1983 resümiert Timothy Garton Ash:
"Was immer sich in Polen während der nächsten Jahre entwickeln wird, es wird sich von allem bisher Dagewesenen unterscheiden. Auch wenn die Polizei auf den Straßen regiert, dieses Land kann nicht 'normalisiert' – das heißt, den sowjetischen Normen wieder angepasst werden. Auch wenn das kommunistische System äußerlich erhalten bleibt, im Inneren wird es weiter demoliert werden."
Erstaunlich aktuell
Der Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford verglich die sogenannten Bruderstaaten, die bis auf den gemeinsamen Übervater im Kreml nicht viel verband.
Die Texte sind stellenweise so aktuell, lassen Parallelen zu heute zu, dass man an den Anfang manches Essays zurückblättert, wo jeweils das Entstehungsjahr vermerkt ist. Ein Beispiel: Der Schlüssel bei allem, was die DDR-Regierung tat, lag im Kreml, deswegen hatte die Bundesrepublik ein spezielles Interesse an guten Beziehungen zur Sowjetunion. Man musste sich zunächst mit Moskau, und dann erst mit Ost-Berlin verständigen.
"Während der vergangenen fünf Jahre war allerdings zu beobachten, wie der Kreml diese besondere Aufgabe auszunützen versuchte, indem er sie gegen die Verpflichtungen der Bundesrepublik gegenüber der NATO ausspielte. Wenn ihr Cruise Missiles und Pershing II aufstellt, dann könnt ihr nicht erwarten, dass eure Beziehungen zum Osten davon unberührt bleiben, war die unmissverständliche Nachricht aus Moskau."
Unterschiedliche Akteure provozierten Zerfall
Die Sozialdemokraten hatten verstanden. Garton Ash zitierte deren Sicherheitspolitiker Karsten Voigt: Falls die SPD morgen an die Regierung käme, würde sie die Vereinigten Staaten auffordern, die Aufstellung der Raketen zu unterlassen.
Timothy Garton Ashs Essay-Band dreht sich immer wieder um die Frage, welche Ereignisse jeweils zu irreparablen Rissen im kommunistischen Gemäuer führten. War es in Budapest zum Beispiel das Staatsbegräbnis des 1956 gehenkten Imre Nagy, die Durchtrennung des Zauns zwischen Ungarn und Österreich, die Selbstauflösung der KP? So gleichzeitig und hastig der Zerfall des Ostblockes vonstattenging, so sehr Michail Gorbatschow dafür gebraucht wurde, so unterschiedlich waren die Akteure, waren die Diktaturen.
Timothy Garton Ash sagt nicht wie man verhindert, dass aus Demokratien Autokratien werden, aber er schreibt uns ins Stammbuch, dass der Kampf für die Freiheit in jeder Generation neu ausgefochten werden muss.
Timothy Garton Ash: "Ein Jahrhundert wird abgewählt. Europa im Umbruch 1980-1990",
Carl Hanser Verlag, 544 Seiten, 26 Euro.