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Tina Walzer/Stephan Templ: Unser Wien - "Arisierung" auf Österreichisch

Die katholische Glaubens- und die nationalsozialistische Rassenlehre umarmten sich in Österreich so intensiv, dass viele meiner Landsleute, denen man im Allgemeinen ja nicht nachsagt, dass sie unter Arbeitswut leiden, in einen bisher unbekannten historischen Tatendrang verfielen. Bei der Vertreibung und Vernichtung jener Mitbewohner, die sie für "minderwertig" hielten, wurden sie zur eifrigsten Bevölkerung des Dritten Reiches. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass 1938, als die österreichischen Nazis endlich mitmachen durften, die politischen Posten schon vergeben waren. In der sich entwickelnden Mordmaschinerie hingegen gab es für "tüchtige" Ostmärker noch jede Menge Karrieremöglichkeiten. Und was hatten sie davon? Sieben Jahre später, als das Land auf seine Ausgangsgröße zurückgekämpft war, konnten sie davon nicht einmal erzählen.

Beatrix Novy |
    Der österreichische Publizist und Literat Josef Hasslinger hat das in einem seiner bissig-bösen Essays geschrieben, die der Frankfurter Fischer Verlag unter dem Titel "Klasse Burschen" herausgebracht hat. Im Berliner Aufbau ist nun ein Wien-Führer der besonderen Art erschienen, der mit Hasslingers Analysen österreichischer Geschichtslügen und Selbstinszenierungen durchaus korrespondiert. "Unser Wien - "Arisierung" auf Österreichisch" ist das Werk überschrieben, als dessen Herausgeber Tina Walzer und Stephan Templ zeichnen.

    Vor einem Jahr erschien im Wiener Magazin "Profil" ein Artikel über den früheren österreichischen Bundespräsidenten Adolf Schärf. Schärf war Sozialdemokrat, in seiner Biographie sind einige Verhaftungen durch die Nazis zwischen 1938 und 1945 vermerkt, die ihn zweifellos ehren. Aber in den Zwischenzeiten muss Schärf beruflich recht erfolgreich gewesen sein, er selbst sprach in seinen Memoiren von "ganz ansehnlichen Honoraren", die ihm in der Zeit nach 38 aus "Zivilrechtssachen" zuflossen. Es gab damals in der Tat eine richtige Schwemme von "Zivilrechtssachen". Schärf hatte 1939 z.B. einen Klienten erfolgreich vertreten, der als sog. "Ariseur" eines "jüdischen" Hauses anerkannt werden wollte. Weiter wird berichtet, dass die früheren Eigentümer nach Kriegsende nur ca. acht Jahre lang warten mussten, ehe ihnen das Haus wieder zugesprochen wurde, dies allerdings um den Preis eines Vergleichs: 10 Jahre Unkündbarkeit für den "Ariseur" und Zahlung von 70.000 Schilling, also 10.000 Mark, für die Rückstellung, zahlbar sofort. Da die Familie sofort nicht konnte, war sie gezwungen, das Haus zu verkaufen. Der Artikel im Profil erwähnte eine alte Dame aus dieser jüdischen Familie, die noch in der Zweizimmerwohnung lebt, in die sie damals hatte einziehen müssen.

    Ein exemplarischer Fall - aus einer Geschichte um allein 70.000 enteignete Wohnungen, um Betriebe, Läden, Praxen, Restaurants, Kunstwerke. Ein Jahr nach dem Profil-Artikel liefert das Buch "Unser Wien" von Tina Walzer und Stephan Templ - nein, auch noch nicht die ganze Geschichte, aber eine Darstellung des Systems, eine Vorstellung vom Ausmaß. Und einen Wegweiser (an manchen Stellen wünscht man sich seine Angaben noch etwas genauer), mit dem man anders auf die schöne Stadt schaut - und auf viele der Wahrzeichen, mit denen sie ihren herausragenden Platz im Tourismusmarketing behauptet. Ins historische Selbstbild wurde das "jüdische Wien" mittlerweile gern integriert. Aber "Unser Wien", das sollten Bewohner und Besucher wissen, ist auch das Erbe Ermordeter und Verjagter.



    Mein Gott, die Wohnung war frei. Wir haben gesehen gehabt, die Wohnung ist frei.

    Sagte in den 80er Jahren die Dame, die 1938 die Wohnung Berggasse 19 übernommen hatte, heute als Freud-Museum in jedem Reiseführer. Sigmund Freud war emigriert; seine Schwestern wurden später deportiert und ermordet. Geflüchtet oder deportiert auch die Inhaber der Traditions-Confiserie Altmann und Kühne am Graben, des Café Bräunerhof, des Riesenrads im Prater, des Kaufhauses Gerngroß auf der Mariahilfer Straße, des Majolikahauses von Otto Wagner, des Café Schottentor, des Café Dobner... Unter den Enteigneten viele, die man kennt. Unter den Profiteuren auch: der Dirigent Karl Böhm, der Schriftsteller Heimito von Doderer, der Cafetier Leopold Havelka, leider, und viele, viele kleinere Leute.

    Nach Jahren harter und schwerer Arbeit habe ich endlich das Glück gehabt, eine sichere und dauernde Existenz zu erwerben, ohne ein Kapital investieren zu müssen, das man sonst für ein solches Geschäft braucht. Ich bitte um gütige Genehmigung.

    Schrieb die Kellnerin, die das Büffet im Kolosseum-Kino gleich nach dem Anschluss im März 1938 übernommen, "wild arisiert" hatte, wie das hieß. Nun musste sie ihr Unternehmen "legalisieren" lassen, denn die Nazis wollten auch ihren Profit. Dieser Ordnung halber wurde die Vermögensverkehrsstelle gegründet. Sie nahm den jüdischen Besitzern das Ihrige um ein Spottgeld ab und verkaufte es den Volksgenossen teurer weiter - oder auch schon mal billig, wenn es darum ging, einer verdienten Person eine Existenz zu bieten.

    Die Enteigneten sahen sowieso meist nichts von einem Kaufpreis. Der wurde auf ein Sperrkonto überwiesen und mit der sog. Reichsfluchtsteuer verrechnet und mit anderen der vielen eigens zu diesem Zweck ersonnenen Abgaben, solange, bis oft die Ausreise gar nicht mehr möglich war. Und ist es schon unerträglich, die vielen Geschichten dieser in ausweglose Enge getriebenen Menschen zu lesen, so trägt die Fortsetzung der Quälerei für diejenigen, die nach dem Krieg zurückkehrten, surreale Züge. Da wurde dieselbe Reichsfluchtsteuer von der Forderung des Geschädigten abgezogen; da suchten Gerichte jahrelang zu beweisen, dass ein Erwerb "unredlich", aber "anständig" vor sich gegangen war; da mussten gestandene Apotheker ein einjähriges Praktikum absolvieren, um ihren Betrieb wieder übernehmen zu dürfen. Es machte sich bemerkbar, dass die Nazi-Dichte in Österreich so hoch war; über Jahre wagte keine Partei, schon gar nicht die Sozialdemokraten, eine offensive Abgrenzung. Daher der pragmatische Rat eines SPÖ-Innenminister zu Restitutionsforderungen:

    Ich wäre dafür, die Sache in die Länge zu ziehen.

    Der Rat wurde meistens befolgt. - Ein eigenes Kapitel ist dem Raub von Kunstwerken gewidmet, ein internationales und komplexes Thema mittlerweile, mit dem Wien sich beschäftigen muss, seit zwei Gemälde von Egon Schiele in New York beschlagnahmt wurden. Sie waren ausgeliehen aus der Sammlung Leopold, die gerade im Vorzeigeprojekt Museumsquartier ihr eigenes Haus bekommen hat. Rudolf Leopold gilt als gutgläubiger Käufer, woran gewisse Zweifel erlaubt sind. Das ist nur die medienöffentliche Spitze des Eisbergs: Im Buch werden insgesamt nicht weniger als 68 geraubte Kunstsammlungen aufgelistet.

    In diesem Jahr hat Österreich einen Entschädigungsfonds für die Enteigneten beschlossen. Ein später Anfang nach der langen Phase, in der ein starrer Opferkonsens die Österreicher zusammenhielt: Wieso, den Juden ging's doch gut in der Emigration, und wir haben hier so gelitten."

    Tina Walzer/Stephan Templ, "Unser Wien - "Arisierung" auf Österreichisch". Der Band ist im Berliner Aufbau Verlag erschienen, umfasst 292 Seiten und kostet 22.40 Euro.