Musik: Rossini, "Semiramide", Ouvertüre
Ein Interview mit Gustav Kuhn eine halbe Stunde vor der "Semiramide"-Premiere? Kein Problem. Sollen wir nicht doch lieber nachher? "Nein, nein", sagt die Pressereferentin. "Nachher will er feiern."
Über zwei verschiedene Aufzüge und ein Gewirr von Treppen, Türen und Gängen geht es hoch zum Maestro. In sein kleines Reich inmitten seines großen. "Camerino" steht neben der Tür, "Garderobe". Vor genau 20 Jahren hat Gustav Kuhn hier in Erl, wo er schon lange wohnt, ein eigenes Musikfestival aus der Taufe gehoben, ganz ohne fremde Hilfe:
"Ja, am Anfang war ich ganz allein, das wird gerne vergessen, dass ich das acht Jahre völlig allein gemacht hab."
Ein Hauch von Bayreuth in Tirol
Die Wagner-Aufführungen von Erl machten bald von sich reden: die Wagnerianer strömten (und strömen noch) in Scharen. Und jetzt, sagt Kuhn, wird das Unternehmen Tiroler Festspiele endlich auch offiziell von der Politik wahrgenommen:
"Das Beste ist, dass der österreichische Staat, also der Bund, jetzt auch unsere Arbeit sozusagen verstanden hat und als Stifter eingestiegen ist. Das heißt, dass diese Idee jetzt amtlich-staatlich von Bund und Land gefördert wird. Das ist schon mal sehr gut."
Musik: Rossini, "Semiramide", Ouvertüre
Den Bühnenwerken Richard Wagners gehört weiterhin das Passionsspielhaus mit seinen 1.500 Plätzen; heute bietet man, neben einer Wiederaufnahme des "Lohengrin" aus dem Jahr 2012, einen "Ring"-Durchlauf an vier aufeinanderfolgenden Tagen.
Rossinis "Semiramide" hat Wagner’sche Ausmaße
Erste Premiere im Festspielhaus war in diesem Sommer Gioachino Rossinis "Semiramide", mit vier Stunden reiner Musikzeit ein Stück von Wagner‘schen Ausmaßen. Am Pult stand der Maestro selbst; die Regie hatte er diesmal an ein Kollektiv namens "Furore di Montegral" abgegeben – hervorgegangen aus Kuhns eigener Ausbildungsstätte im toskanischen Lucca, seiner Accademia di Montegral. Der Abend begann verheißungsvoll:
Musik: Rossini, "Semiramide", Chor 1. Akt
Chöre in Opern sind optisch oft ein Problem: entweder von öder Statuarik oder von wuselnder Betriebsamkeit ohne erkennbare Choreographie. Als zu Beginn der Erler "Semiramide" der Oberpriester das Volk zusammenruft, damit ihm Semiramide den lang erwarteten Thronfolger verkünden möge, setzen sich vier graugewandete Zehnergrüppchen in Bewegung. Gesichtslose, gleichgeschaltete, entindividualisierte Untertanen, die in immer neuen Formationen taktgenau zur Musik über die Bühne trotten. Ein großes Bild – und ein Versprechen darauf, den "ernsten" Rossini mit Witz und Ironie zu brechen, ohne ihn lächerlich zu machen. Es bleibt beim Versprechen. Das Bewegungsrepertoire der Choristen sieht bald aus wie in anderen Produktionen auch – statuarisch oder wuselnd betriebsam. Schade.
Starke Sängerriege
Wer Rossinis "Semiramide" stemmen will, braucht koloraturfähiges Sängerpersonal in allen Stimmlagen. Das hat Gustav Kuhn: Giovanni Battista Parodi, mit lilafarbenem bodenlangen Mantel und zweifarbigem Haar nach Irokesenart, gibt dem einst geliebten und jetzt geschmähten Liebhaber Assur ein klangschönes und bewegliches Bassfundament. Und Tenor Hui Jin, zurechtgemacht als eine Mischung aus schwarzhaarigem Liberace (nur ohne Hermelinmantel) und einer der Jacob Sisters (nur ohne Hund), schickt als Prinz Idreno seine Spitzentöne mit einer Selbstverständlichkeit und Akkuratesse in den Tiroler Himmel, als hätte er beim Fachkollegen Juan Diego Flórez studiert. Feinfühlig und grazil, schmissig (wo angebracht) und mit erlesener Klangkultur begleitet das überaus jung besetzte Festspielorchester.
Musik: Rossini, "Semiramide", Arie des Idreno, 1. Akt
Vor Jahren hat die babylonische Königin mit Hilfe ihres Geliebten den Ehemann umgebracht. Die ganze Zeit hat sie allein regiert – und jetzt soll sie endlich den neuen König benennen. Sie entscheidet sich – zum Erstaunen aller und zum Entsetzen Assurs – für den jungen Feldherrn Arsace. Der allerdings ist, wie sich schließlich herausstellt, Semiramides totgeglaubter Sohn.
Inszenierung hat Luft nach oben
Leider lässt uns die Regie beim Erzählen dieser Geschichte ein bisschen im Stich: Auftritt links, Arie mit und ohne Händeringen, Abgang rechts – da stehen keine Menschen, sondern von Lenka Radecky fabelhaft eingekleidete Models: Arsace, eine Art Musketier mit Stiletto-Stiefeln bis zu den Oberschenkeln, Semiramide in High Heels und einem schillernden körperbetonten Nichts mit üppiger roter Schleppe. Svetlana Kotina prunkt als Arsace mit fülligem Mezzo. Das vokale Glanzstück der Aufführung ist der in den Koloraturen edel glitzernde Sopran der Bulgarin Maria Radoeva. Was beiden Interpretinnen fehlt, ist die letzte Hingabe an die Rolle, die vokale und schauspielerische Entäußerung. Da ist wunderbarer Gesang, aber da ist wenig Schmerz, wenig Leidenschaft, wenig Entsetzen, wenig Glück.
Musik: Rossini, "Semiramide", Duett Semiramide – Arsace, 2. Akt
Handlungsort ist ein schon etwas abgewrackter Palast – da blättert das Gold von der Wand. Die längst fällige Renovierung steht für noch nicht aufgearbeitete Vergangenheit. Verschiebbare Wände grenzen den Spielort immer wieder ein. Und neben roter Rosenpracht in den hängenden Gärten unserer Titelheldin sehen wir viel Verblühtes. Dass Arsace zum Schluss statt Assur versehentlich seine Mutter tötet, verwundert nicht: in der unübersichtlichen Grabkammer ist es schlicht zu dunkel. Und dabei hat man doch in einigen Szenen dieser Inszenierung mit dem Licht geradezu magische scherenschnittartige Wirkungen erzeugt.
Belcanto in der Wagner-Hochburg Erl. Musikalisch ist das mit der "Semiramide" fulminant gelungen. Inszenatorisch ist noch Luft nach oben.
Musik: Rossini, "Semiramide", Finale 1. Akt