Wenn Studierende in Vorlesungen konzentriert zuhören, kann es sein, dass sie kreativ werden, dass sie Blumen oder Kreise auf Blätter malen oder dafür vielleicht auch die Arbeitstische nehmen. Das ist ärgerlich für die, die die Tische wieder saubermachen. Aber man kann die Kritzeleien auch als Kunstwerke betrachten. Die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe stellt die schönsten Tisch-Kunstwerke von Studierenden der Medienproduktion online aus.
Kleine Kunstwerke des Alltags
Michael Minge ist Professor für Innovationspsychologie an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Er hält die Skizzen nicht nur für "ein Zeichen für die Stimmung, in der sich gerade jemand befindet, sondern auch ein Zeichen dafür, in welche Stimmung eine Person vielleicht sich gerade durch die Zeichnung hineinversetzen möchte." Zudem könne man durch das Nebenbei-Skizzieren zu einer erhöhten Konzentrationsfähigkeit kommen - auch wenn das im ersten Moment kontraproduktiv oder kontraintuitiv sei.
Das Interview im Wortlaut:
Britta Mersch: Was macht die Skizzen so besonders?
Michael Minge: Bei diesen Zeichnungen handelt es sich um Tische, die im Fachbereich Medienproduktion entstanden sind über einen langen Zeitraum von mehreren Jahren. Und gerade im Bereich der Medienproduktion, das ist zwar nicht mein Hintergrund, aber im Bereich der Medienproduktion, einem sehr kreativen Studiengang, sind Zeichnungen entstanden, die zwar beiläufig in Vorlesungen gezeichnet worden sind, die aber tatsächlich in Richtung Kunstwerk gehen, die teilweise sehr formatfüllend sind und wirklich eine sehr hohe Qualität haben – und die auch von der Interpretation her, was vielleicht bei der Zeichnerin oder dem Zeichner durch den Kopf ging, während er oder sie der Vorlesung lauschte, besondere Ergebnisse liefern kann, sehr interessante Befunde liefert.
Mersch: Was lässt sich denn aus den Zeichnungen lesen?
Minge: Diese Zeichnungen, die wir so nebenbei skizzieren, man kann ja durchaus sagen, ist das etwas, das vielleicht eher von Langeweile oder Desinteresse zeugt oder ist das etwas, was vielleicht die Aufmerksamkeit auch erhöht? Es gibt viele Ergebnisse, die in die Richtung deuten, Zeichnen nebenbei erhöht eher die Aufmerksamkeit.
Und wenn man sich unter dem Gesichtspunkt die Zeichnungen anschaut, die beiläufig entstehen, ist das für die Psychologie, auch für die Wirtschaftspsychologie natürlich von besonderem Interesse zu versuchen, herauszufinden, mit welcher Stimmung, mit welchen Nebengedanken oder mit welchen Erfahrungen hat vielleicht eine Person dieser Vorlesung zugehört und beigewohnt.
Skizzen sind auch aus psychologischer Sicht spannend
Mersch: Das heißt, das sieht man zum Beispiel, ob man Blumen zeichnet oder ob man geometrische Formen zeichnet, das wäre ja zum Beispiel ein Unterschied im Alltag, wo man lesen kann, welche Stimmung man hat.
Minge: Richtig. Es gibt so drei grundsätzliche Typen an Zeichnungen, die man immer wieder findet, das eine sind die Blumen, florale Muster, das andere sind eher geometrische Muster, Gitter, Würfel und dergleichen. Und das Dritte sind Gesichter, hier vor allem auch emotionale Gesichtsausdrücke. Und das ist deswegen auch für die Psychologie sehr spannend, weil es nicht nur ein Zeichen für die Stimmung ist, in der sich gerade jemand befindet, sondern auch ein Zeichen dafür, in welche Stimmung eine Person vielleicht sich gerade durch die Zeichnung hineinversetzen möchte.
Und das ist tatsächlich auch mein Ansatz, zu sagen, es ist eine Nebentätigkeit, wenn sie unterbewusst stattfindet, wenn sie beiläufig ist, wenn sie also mit wenig Aufmerksamkeit versehen wird. Das ist auch eine Möglichkeit für den einen oder anderen, durch das Nebenbei-Skizzieren zu einer erhöhten Konzentrationsfähigkeit zu kommen, auch wenn das vielleicht im ersten Moment etwas kontraproduktiv oder kontraintuitiv ist.
Mersch: Das heißt, es bezieht sich gar nicht unbedingt auf die Inhalte, sondern es ist so eine Methode, da noch mal vielleicht stärker sogar in die Inhalte reinzukommen. Kann man das so beschreiben?
Minge: Stärker in die Inhalte reinzukommen, das auf der einen Seite, wenn ich das mit Inhalten verknüpfe, oder allein die Tatsache, dass ich mich aktiviere, dass ich also eine Tätigkeit habe, in der ich nicht passiv über 90 Minuten einer Vorlesung nur zuhöre, gerade im Zusammenhang auch aktuell mit vielen Zoom-Konferenzen oder Online-Konferenzen haben wir die Erfahrung gemacht, das funktioniert nicht lange, wenn wir in der Passivität sind. Wir müssen etwas haben, eine Tätigkeit, mit der wir uns selber auch aktivieren können, eine Strategie, die uns dazu bringt, einen größeren Topf an Aufmerksamkeit zu haben.
Aufmerksamkeit ist ja nie immer statisch gleich groß, sondern wir haben eine ganze Menge Möglichkeiten, auch aktiv mehr Aufmerksamkeit zu holen und uns in der Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Und solche Strategien, sich selber zu aktivieren, beispielsweise über das Zeichnen, das ist etwas, was zu einer erhöhten Aktivität führt. Und erhöhte Aktivität heißt immer, ich habe einen größeren Topf an Aufmerksamkeit zur Verfügung für die Aufgaben, die eigentlich gerade im Moment wichtig sind.
Studierende im Fachbereich Medienproduktion kritzeln unbeschwerter
Mersch: Jetzt haben Sie aber gesagt, diese Tische von den Studierenden in diesem Fachbereich Medienproduktion sind schon ganz besonders. Was ist denn daran das Besondere an den Zeichnungen, die auf diesen Tischen sind?
Minge: Die Zeichnungen im Bereich der Medienproduktion sind von der Kreativität und auch von der Qualität der Ausführung sehr besonders. Es sind auch Zeichnungen, die nebenbei entstanden sind, aber an vielen Stellen merkt man, das ist tatsächlich so eine Unbefangenheit, mit dem Stift umzugehen. Das, was wir im Alltag häufig beobachten, wenn wir nicht alleine zeichnen, am Telefon beispielsweise, ist, dass wir uns doch sehr einschränken und mit dem Stift uns bestimmte Dinge nicht trauen, überhaupt einen Strich anzusetzen oder skizzieren oder wir verwerfen das sehr schnell und sagen, ich bin kein Zeichentalent.
Diese Hürden, die wir häufig bei vielen Personen im Alltag beobachten, sind in der Medienproduktion in dem Fall nicht zu beobachten. Da ist eine sehr große Unbefangenheit, mit dem Stift umzugehen, und es werden Dinge tatsächlich ausprobiert. Und teilweise sind diese Zeichnungen auch sehr formatfüllend, also wirklich über einen ganzen Klapptisch hinweg, das muss man sich vorstellen wie so zwei DinA4-Seiten, die nebeneinander liegen. In diesem Format tatsächlich komplett auch eine Zeichnung zu füllen, das ist durchaus eine große Besonderheit an dieser Stelle.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.