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Tobias Arand
"1870/71"

Der Deutsch-Französische Krieg rundet als letzter der drei "Einigungskriege" den blutigen Weg zur Gründung des deutschen Nationalstaats ab. Tobias Arand beschreibt ihn aus Sicht der kleinen Leute und großen Lenker und portraitiert Opfer dieses Kriegs, aber auch die Kriegsprofiteure.

Von Peter Kapern |
    Cover-Collage: Buchcover: "1870-71" von Tobias Arand, Osburg Verlag. Hintergrund: Fichtenwald in Oberbayern mit qualmenden kleinen Brandherden.
    Arand hat eine umfassende Geschichte des Krieges von 1870/71 vorgelegt. Sein Buch ist gleichermaßen politische und Militärgeschichte. (Buchcover: Osburg Verlag, Hintergrund: imago/S.Derder)
    Am 15. Januar 1871 dreht der Historienmaler Anton von Werner auf Schlittschuhen ein paar Runden auf der Karlsruher Schießwiese. Eine kurze Pause, die er sich an diesem Tag gönnt, nach intensiver Arbeit an einem Monumentalgemälde. "Moltke mit seinem Stabe vor Paris". Es zeigt den deutschen Generalstabchef Graf von Moltke in dem Moment, als seine Truppen Mitte September 1870 Paris einschließen. Anton von Werner, der monatelang als Schlachtenmaler im Tross des deutschen Generalstabs unterwegs war, zieht also seine Bahnen auf dem Eis, als ein Bote auftaucht und ihm ein Telegramm in die Hand drückt, das gerade aus Versailles eingetroffen ist. Absender: Der Hofmarschall des preußischen Kronprinzen:
    "Seine königliche Hoheit der Kronprinz lässt ihnen sagen, dass Sie hier Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben würden, wenn Sie vor dem 18. Januar hier eintreffen könnten."
    Von Werner macht sich umgehend auf den Weg. Was dieses Etwas sein würde, das ahnt er nicht einmal.
    Bismarcks Falle
    Ein halbes Jahr zuvor waren Züge auf neu angelegten Trassen Richtung Westen gerollt, hatten die deutschen Truppen an den Rhein gebracht. An jedem Bahnhof wurden sie mit Freibier und patriotischen Liedern begrüßt. Mit kühler Berechnung hatte Bismarck Napoleon III. eine Falle gestellt, in die der schwache Herrscher und sein kriegslüsternes Umfeld nur zu begierig hineinstolperten. Die Emser Depesche. Der Auftakt zum dritten jener Kriege, die die Einigung des Deutschen Reiches brachten. Der Deutsch-Französische Krieg, der im historischen Gedächtnis der beteiligten Länder, aber auch in der Geschichtsschreibung weitgehend vergessen und durch die beiden Weltkriege verdrängt worden ist. Nur Rudimente dieses Kriegs sind heute noch präsent:
    "Preußen schlägt Frankreich - deutsche Einheit. Das ist das, was ungefähr heute noch in den Schulbüchern steht. Oder die Verkürzung auf das Ergebnis, nämlich die deutsche Reichseinigung als kleindeutsche Reichseinigung."
    Sagt Tobias Arand, Historiker an der pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Ausgerechnet im Jahr des Gedenkens an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren hat Arand eine umfassende Geschichte des Krieges von 1870/71 vorgelegt. Ein gute Fügung, weil so die direkten Verbindungslinien ins Blickfeld gerückt werden, die vom Deutsch-Französischen Krieg zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts führen. Arands Buch ist gleichermaßen politische Geschichte und Militärgeschichte.
    Der letzte französische Kaiser Napoleon III. (l) in einer zeitgenössischen Darstellung während einer Unterredung mit Fürst Otto von Bismarck in Donchery nach der Schlacht bei Sedan.
    Napoleon III mit Fürst Otto von Bismarck in Donchery nach der Schlacht bei Sedan in einer zeitgenössischen Darstellung (picture alliance / dpa)
    Was sein Buch aber vor allem auszeichnet, ist die multiperspektivische Darstellung. Er lässt am Krieg Beteiligte erzählen, er zitiert aus Kriegserinnerungen, die zu Dutzenden im Kaiserreich publiziert wurden, aus Briefen und Zeitungsartikeln, die auf beiden Seiten der Front geschrieben wurden. Er macht den König der Preußen und den Kaiser der Franzosen zu Zeugen, aber auch Karl Klein, den Pfarrer von Fröschweiler im Elsass, dazu einfache Soldaten beider Seiten. Er portraitiert Opfer dieses Kriegs, aber auch die Kriegsprofiteure. Er erzählt von Schlachtenbummlern, die mit den Truppen von Gemetzel zu Gemetzel ziehen. Und Arand folgt den Kriegsreportern auf die Schlachtfelder, etwa William Howard Russell von der "Times":
    "Er beschafft sich Pferde, die zu diesem Zeitpunkt […] fast unerschwinglich teuer sind, vor allem aber das Spesenbudget der "Times" belasten. […] Neben dem Jockey für seine Pferde stellt Russell noch einen sprachgewandten Luxemburger Kammerdiener ein. Sein Gepäckwagen wird zum eigentümlichsten Gefährt der 3. Armee. Durch einen Berliner Kunstmaler lässt er auf den Gepäckwagen in Ölfarbe und in großem Maßstab das Wappentier der Russells, eine Ziege, aufmalen und mit dem Zusatz: 'Doctor Russell, Hauptquartier' versehen."
    "Hier wird versucht, den Krieg 'von unten' lesbar zu machen, bei den normalen Menschen, denn das sind ja die, die den Krieg letztlich führen müssen - aber gleichzeitig zu schauen: Was denken sich denn die, die diesen Krieg befehlen, die in der Verantwortung stehen. Was denkt sich die deutsche Seite? Was denkt sich die französische Seite? So wird versucht, einen Krieg, der ein Kosmos von Ereignissen ist, sozusagen lesbarer zu machen aus verschiedensten Perspektiven, nicht nur in der klassischen Form: Große Männer machen Geschichte."
    Sagt Tobias Arand. Das Konzept geht voll und ganz auf.
    Zeichnung der Schlacht in Fröschweiler-Woerth (Bataille de Reischoffen) am 6. August 1870, Privatsammlung,
    Der Autor macht den König der Preußen und den Kaiser der Franzosen zu Zeugen, aber auch den Pfarrer von Fröschweiler im Elsass und einfache Soldaten. (imago / Leemage)
    Mythos von der Opferbereitschaft
    Die deutschen Truppen dringen in Frankreich ein, fügen den Franzosen eine schwere Niederlage nach der anderen zu. Weißenburg, Wörth, Spichern - noch heute sind Straßen und Plätze überall in Deutschland nach diesen Schlachten benannt, die, was den Blutzoll angeht, schon auf den Ersten Weltkrieg verweisen.
    Zahlenmäßig überlegene Deutsche rennen gegen französische Verteidiger in ihren besseren Stellungen an. Oft verlieren die deutschen Regimenter binnen weniger Stunden die Hälfte ihrer Soldaten und einen noch größeren Teil der Offiziere. Im Kaiserreich wird aus dieser Hurra-Taktik später der Mythos von der Opferbereitschaft deutscher Soldaten geschmiedet. Tatsächlich aber hatte das Anrennen gegen überlegene feindliche Stellungen profane Gründe:
    "Die Deutschen haben eine extrem disziplinierte Armee, der hat man antrainiert zu gehorchen. Dazu kommt noch ein heute schwer verständliches Männlichkeitsideal, die Angst, vor den Kameraden als feige dazustehen. Und diese Mischung aus Disziplin, Gehorsam und natürlich auch Untertanenmentalität bewirkt, dass die Männer das machen."
    Mit dem nächsten Sieg der Deutschen ändert der Krieg seinen Charakter. In Sedan wird Napoleon III. gefangen genommen. Die Deutschen glaubten, dass damit der Krieg beendet sei. Stattdessen aber wird in Paris die Republik ausgerufen, die ihre Legitimation aus der Fortsetzung der Kämpfe zieht. Hunderttausende Soldaten wirft die neue französische Regierung an die Front. Deren schlechte Ausbildung wird kompensiert durch antideutsche Hassparolen, die motivieren sollen.
    "Aus einem Krieg zwischen Armeen zweier Völker wird nun ein ‚Volkskrieg‘, auf welchen die deutsche Seite mit immer stärkerer Brutalität reagiert. Die deutsch-französischen Gewalterfahrungen der Jahre 1870 und 1871 sowie der folgenden Jahre der Okkupation sind ein in der Geschichtswissenschaft bis heute für das Verständnis der Katastrophen der beiden Weltkriege häufig übersehenes Phänomen."
    Tiefer Einblick in deutsch-französische Erbfeindschaft
    Im September 1870 schließen die deutschen Truppen Paris ein. Bismarck fordert im Hauptquartier in Versailles den Beschuss der Hauptstadt, um den Krieg zu beenden, bevor andere europäische Staaten einen Verhandlungsfrieden fordern können. Moltke zögert. Gleichzeitig wird beschlossen, Elsass und Lothringen zu annektieren. Bismarck manipuliert die deutschen Zeitungen, um den patriotischen Überschwang zu erzeugen, der zur deutschen Einheit führen soll. Arand beschreibt die Intrigen, den Streit im deutschen Hauptquartier und den Widerwillen des preußischen Königs, sich zum Kaiser ausrufen zu lassen.
    Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal zu Versailles am 18. Januar 1871: Die erste Fassung des Gemäldes von Anton von Werner
    Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal zu Versailles am 18. Januar 1871: Die erste Fassung des Gemäldes von Anton von Werner (Imago/Imagebroker)
    Bis Wilhelm I. dann doch einwilligt, an jenem 18. Januar 1871, an dem der Maler Anton von Werner gerade noch rechtzeitig im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles ankommt, um Skizzen anzufertigen, die später als Vorlage für das berühmte Gemälde von der Kaiserproklamation dienen. Die Deutschen bekommen ihre Einheit. Von oben verordnet, ohne Demokratie, aber durchsetzt mit einem Übermaß an Militarismus:
    "Von Militarismus reden wir dann, wenn militärische Umgangsformen und Ehrenkodizes ins zivile Leben hineingreifen. Dass sie zum Beispiel nichts werden konnten als Jurist, wenn sie nicht mindestens Reserveleutnant waren. Das ist sehr deutsch und das ist natürlich ein Ergebnis dieses Krieges."
    Arands Buch ist eine fesselnde Darstellung des Deutsch-Französischen Kriegs und der Reichsgründung. Nur hin und wieder ist seine Darstellung allzu detailverliebt. Die unterschiedlichen Farben der Knöpfe und Stoffe der deutschen Uniformen dürften nur wenige Leser wirklich interessieren. Außerdem war der Verlag etwas knauserig bei der Ausstattung des Buchs mit Kartenmaterial und Bildern.
    Das ist zu verschmerzen, denn Arands Buch liefert einen tiefen Einblick in den stinkenden Gärbottich der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Ein Blick, der beim Leser alle Alarmglocken schrillen lässt, wenn etwa anlässlich der Unterzeichnung des Aachener Vertrags AfD und Marine Le Pen versuchen, die alten nationalistischen Ressentiments wiederzubeleben.
    Tobias Arand: "1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen",
    Osburg Verlag, 693 Seiten, 30 Euro.