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Tochter über Leonard Bernstein
"Er liebte Worte genauso wie Noten"

Es sei nicht immer einfach gewesen, einen so berühmten Vater wie Leonard Bernstein zu haben, sagte dessen Tochter Jamie im Dlf. Besonders herzzerreißend sei es für sie gewesen, wenn er musikalische Misserfolge einstecken musste. Aber sein Enthusiasmus und seine Herzlichkeit hätten sie nachhaltig geprägt.

Jamie Bernstein im Gespräch mit Susann El Kassar |
    Jamie Bernstein bei einem Festival auf Schloss Johannisberg
    "Es war ein unglaubliches Geschenk, diesen Vater zu haben", sagte Jamie Bernstein im Dlf-Interview (RMF/Ansgar Klostermann)
    Susann El Kassar Ihr Vater war unglaublich vielseitig begabt: er hat komponiert, er konnte Klavier spielen, dirigieren, er war ein außergewöhnliches Kommunikationstalent, er hatte Humor, ... das Wort Genie liegt bei ihm nahe. Wie ist das für die Familie, wenn der Vater genial ist, ist das Segen oder Fluch?
    Jamie Bernstein:Es ist beides, natürlich! Es hat wunderbare Seiten an sich, einen überlebensgroßen Vater zu haben - und manchmal ist es eine Herausforderung, weil sein Licht so hell leuchtet, dass alle anderen in der Familie kämpfen müssen, um ihr eigenes Licht zu finden. Genau darum geht es auch in meinem Buch. Wie ich dorthin gefunden habe.
    Aber vor allem würde ich sagen: Es war ein unglaubliches Geschenk, diesen Vater zu haben, weil er nicht nur so vielseitig begabt war, sondern auch weil er so ein großes Herz hatte. Er war so herzlich, er war so voller Liebe und diese Liebe hat alles durchdrungen, was er gemacht hat. Und deshalb, in diesem Jahr, seinem 100. Geburtstag: auf den Konzerten oder Veranstaltungen, zu denen ich hingehe, haben die Leute, die die Konzerte besuchen, und die Musiker, die die Werke spielen, diese unglaublich emotionale Verbindung zu Leonard Bernstein! Es ist sehr berührend! Aber sie wurden von ihm berührt! Tief! Irgendwie wurden ihre Herzen von der Art meines Vaters geöffnet und so ist dieses Jubiläum selbst sehr emotional, sehr berührend.
    "Plötzlich war er nur ein Mensch, war er sterblich"
    Susann El Kassar In Ihrem Buch zeigen Sie uns das normale Familienleben bei den Bernsteins, da gibt es so einige witzige Szenen zu Anfang, später dann beschreiben Sie den Verfall dieser charismatischen Figur Leonard Bernstein, seine Tablettenabhängigkeit. Und man spürt öfters Ihre Ohnmacht dabei. Wann war für Sie der Wendepunkt? Wann ist der tolle Ruhm in ein schlechtes Gefühl, in eine Belastung für ihn umgeschlagen?
    Berstein: Es gab mehrere Wendepunkte, über die ich sprechen könnte. Meine frühesten Kindheitserinnerungen sind so golden, dass ich mich an keine Schatten erinnern kann. Bis zum 22. November 1963, dem Tag, an dem Präsident Kennedy ermordet wurde. Wenn ich auf meine Jugend zurückblicke, denke ich immer an diesen Tag als den Wendepunkt für die Familie und für meine Wahrnehmung der Welt: Plötzlich konnte ich Schatten sehen, meine Eltern weinten, meine Verwandten weinten, alle Erwachsenen weinten - und ich hatte noch nie Erwachsene weinen gesehen. Das war ein Wendepunkt für uns alle.
    Dann würde ich sagen, ein weiterer großer Wendepunkt für uns war, als mein Vater sein Musical "1600 Pennsylvania Avenue" präsentierte, und es krachend floppte! Es wurde nur sieben Mal aufgeführt. Es war einfach eine totale Katastrophe, es gab keine Aufnahme, also war die ganze Musik verloren, es war herzzerreißend. All die großartigen Erfolge meines Vaters als Komponist fanden statt, als ich entweder noch nicht geboren oder sehr jung war.
    Als ich alt genug war, um den Arbeitsprozess meines Vaters zu beobachten, hatte ich das Gefühl, dass Leonard Bernstein dieser ungeheuer erfolgreiche Mensch war, und als ich Anfang zwanzig war, hatte er dieses gigantische Desaster. Das bedeutete, dass unsere Familie, mein Bruder, meine Schwester und ich unseren Vater auf eine neue Weise ansehen mussten, als jemanden, der nicht unverwundbar war. Plötzlich war er nur ein Mensch, war er sterblich. Er hatte einige Erfolge und einige Misserfolge und das bedeutete, dass wir ihn auf eine komplexere Weise wahrnehmen mussten.
    El Kassar: Sie haben gerade beschrieben, dass es kompositorisch Misserfolge gab, die Leonard Bernstein stark beschäftigt haben, aber er war insbesondere als Musikvermittler einer der größten, den wir bislang hatten. Er hat wahnsinnig viele Menschen für Musik begeistert mit seinem Sie nennen das in Ihrem Buch einmal "Laser beam charm". Jetzt würde ich gerne wissen, wie war das bei Ihnen zuhause? Wie hat er Sie an klassische Musik herangeführt?
    Bernstein: Im Grunde war es so, dass mein Vater in erster Linie Lehrer war, ein Kommunikator. Und alles, was er tat, war eine Form des Unterrichtens und Kommunizierens. Ob er mit einem Orchester probte oder ein "Young People's Concert" im Fernsehen präsentierte oder aus Shakespeare zitierte oder einen wirklich guten jüdischen Witz erzählte; es war der gleiche grundlegende Impuls, dich am Ärmel zu packen und zu sagen, hör zu! Ich muss das mit dir teilen, weil ich das so spannend finde!
    Zu Hause konnte er diese Eigenschaft niemals abstellen. Mein Bruder, meine Schwester und ich, wir wurden also ständig mit Informationen bombardiert und er erzählte uns immer Dinge. Und man musste sehr vorsichtig sein, welche Frage man
    ihm stellte, denn es konnte eine einstündige Antwort folgen!
    El Kassar: War das manchmal auch mal nervig?
    Bernstein: Ja, manchmal konnte es anstrengend sein, aber insgesamt war es eine fantastische Erfahrung, ständig Dinge zu lernen, weil unser Vater so voller Enthusiasmus war und weil er Worte genauso liebte wie Noten. So erfuhren wir viel über Poesie und Liedtexte, und überhaupt Literatur. Es gab ständig Diskussionen über Wörter und Wortspiele! Wir machten immer Wortspiele im Auto, am Strand, im Wohnzimmer, überall! Und er löste gerne Kreuzworträtsel. Sein Leben drehte sich gleichermaßen um Worte und um Noten.
    "Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich wusste, wie es geht"
    El Kassar: Nach dem Tod von Leonard Bernstein haben Sie angefangen Konzerte zu moderieren, Musikvermittlung zu machen. Das ist doch interessant, dass sich diese Begabung erst nach dem Tod Ihres Vaters gezeigt hat, hat Sie das gewundert?

    Bernstein: Das ist eine interessante Frage. Es kam tatsächlich durch Zufall dazu, dass ich Konzerte moderiert und überhaupt mit dem Sprechen über Musik angefangen habe. Das war vorher überhaupt nicht mein Leben!
    Der Verlag meines Vaters fragte unsere Familie, ob ein Konzert nach dem Vorbild der Young People's Concerts entwickelt werden dürfte, über Werke von Leonard Bernstein. Und irgendwie erhob sich meine Hand, ich meldete mich freiwillig, um dieses Konzert zu schreiben. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich wusste, wie es geht. Vielleicht war es so ein Prozess der Osmose, weil ich die Young People's Concerts meines Vaters in all den Jahren während meiner Jugend besucht hatte. Weil ich irgendwie davon absorbiert hatte, wie sie zusammengesetzt wurden.
    Aber natürlich konnte ich den musikalischen Part nicht machen, ich konnte nur schreiben und sprechen und so bat ich einen Freund, Michael Barrett - mein Vater hatte ihn als Dirigent gefördert - er sollte den musikalischen Teil übernehmen. Wir teilten also den Job meines Vaters in zwei Hälften. Und ich plante nicht einmal, selbst die Erzählerin zu sein, sondern erst als ich Manuskript schrieb, hörte ich meine Stimme und dachte, ich könnte es schaffen.

    El Kassar: Zu welcher Komposition Ihres Vaters haben Sie eigentlich die stärkste Verbindung oder die stärkste Erinnerung?

    Bernstein: Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, schrieb mein Vater die "Chichester Psalms", und ich denke, das war das erste Stück, bei dem ich alt genug war, seinen Kompositionsprozess wahrzunehmen und das Gefühl zu haben, an der Entwicklung des Stücks beteiligt zu sein. Und mein Vater merkte, dass sowohl ich als auch mein Bruder alt genug waren, um an diesem Prozess teilhaben zu können. Also nahmen unsere Eltern uns mit zur Premiere des Stücks in der Kathedrale von Chichester in England. Das war so ein fantastisches Abenteuer und wir haben es einfach geliebt, diesen Trip zusammen zu machen. Das war das erste Stück, mit dem wir eine echte Verbindung hatten.
    Aber wir hatten eine noch größere Verbindung zu seinem nächsten Stück: Mass! Mass enthält eine Menge populärer Musik und Rock'n'Roll , er wollte damit gezielt junge Leute erreichen, also benutzte er Elemente der Musik, die junge Leute in der Zeit im Radio gehört oder als Aufnahme gekauft haben. Und das traf natürlich auch auf mich und meinen Bruder zu, und so waren wir direkt mit Mass verbunden, sogar durch die Art der Musik selbst.