Tod in der Zelle
Warum der Fall Oury Jalloh trotz Gutachter-Vorwürfen nicht aufgeklärt ist

Zum 20. Mal jährt sich der Tod von Oury Jalloh. Der Asylbewerber verbrannte 2005 in einer Dessauer Polizeizelle. Der Fall ist ungeklärt, trotz schwerer Vorwürfe von Gutachtern gegen Polizei, Justiz und Regierung. Die Unterstützer kämpfen weiter.

    Demonstranten nehmen an einer Kundgebung zum Gedenken an den Asylbewerber Oury Jalloh teil. Es ist der 20. Todestag des Mannes aus Sierra Leone der am 7. Januar 2005 bei einem Feuer in einer Polizeizelle gestorben war.
    Demonstranten gedenken dem Asylbewerber Oury Jalloh, der vor 20 Jahren am 7. Januar 2005 in einer Polizeizelle verbrannte. (picture alliance / dpa / Heiko Rebsch)
    Vor 20 Jahren ist Oury Jalloh, ein Asylbewerber aus Sierra Leone, in einer Zelle im Dessauer Polizeigewahrsam verbrannt. Wie es dazu kam, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Freunde, Anwältinnen und Journalisten sind überzeugt, dass Oury Jalloh von Polizisten getötet oder ermordet wurde. Der Fall gilt als einer der größten Polizei- und Justizskandale in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
    Bei einer Demonstration in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt gedachten am 7. Januar 2025 rund 700 Menschen Oury Jalloh, der vor 20 Jahren in einer Polizeizelle verstarb. Die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ als Veranstalterin sprach von rund 1.000 Teilnehmern.
    Anlässlich des Todestags von Oury Jalloh erschien eine sechsteilige Fernsehserie, die derzeit in der ARD-Mediathek zu sehen ist: „Warum verbrannte Oury Jalloh?“.

    Inhalt


    Worum geht es im Fall Oury Jalloh?

    Der Asylbewerber aus Sierra Leone war in das Polizeirevier Dessau eingeliefert worden, weil er laut Polizei in stark alkoholisiertem Zustand Frauen belästigt haben soll.
    Polizisten brachten den Flüchtling in eine Ausnüchterungszelle im Keller der Polizeistation. Er wurde an Händen und Füßen auf eine Matratze gefesselt. Am 7. Januar 2005 wurde der 36-Jährige tot in der Zelle aufgefunden – er war verbrannt.
    Seitdem beschäftigt der Todesfall die Öffentlichkeit und die Justiz – vollständig aufgeklärt wurde er nie. Es geht um die Frage, ob Jalloh seine Matratze selbst mit einem Feuerzeug angezündet hat, wie es die Ermittlungsbehörden lange annahmen, oder ob Polizisten ihn töteten, möglicherweise um etwas zu vertuschen.
    Vor allem die Jalloh-Gedenkinitiative geht von einem Mord aus. Schon früh wurde über rassistische Motive und Polizeigewalt spekuliert.

    Wie verlief die juristische Aufarbeitung des Falls bisher?

    Im ersten Prozess zwei Jahre nach dem Tod Oury Jallohs vor dem Landgericht Dessau-Roßlau werden die beiden angeklagten diensthabenden Polizeibeamten im Dezember 2008 freigesprochen. Das Gericht habe „trotz intensivster Bemühungen“ den Tod nicht aufklären können, heißt es damals.
    Im Januar 2010 hebt der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil auf und gibt den Fall dem Landgericht Magdeburg zur Neuverhandlung. Dieses verurteilt den verantwortlichen Dienstgruppenleiter der Polizei in Dessau wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe, weil er Jalloh besser hätte überwachen müssen. Im Urteil wird davon ausgegangen, dass Jalloh seine Matratze selbst angezündet hat.
    Nach Zweifeln am Urteil wegen möglicher Rechtsfehler bestätigt der BGH die Verurteilung aber 2014.
    Zwischenzeitlich erstattet die Gedenk-Initiative beim Generalbundesanwalt Anzeige wegen Totschlags oder Mordes gegen unbekannte Polizeibeamte und beauftragt ein neues, privat finanziertes Brandgutachten. Der Sachverständige rekonstruiert den Zellenbrand und kommt zu dem Schluss: Es muss Brandbeschleuniger eingesetzt worden sein.
    Nach mehreren Stationen landet das Ermittlungsverfahren schließlich im Sommer 2017 in Halle an der Saale. Dort werden die Ermittlungen im selben Jahr unter Hinweis auf fehlende Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter am Geschehen eingestellt. Der Ausbruch des Brandes, dessen Verlauf und das Verhalten Oury Jallohs hätten nicht eindeutig bewertet werden können, heißt es. Die rechtsmedizinischen Sachverständigen gingen davon aus, dass Oury Jalloh beim Brandausbruch noch gelebt habe und seine Handlungsfähigkeit sowie eine Brandlegung durch ihn selbst nicht ausgeschlossen werden könnten.

    Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher

    Das ARD-Magazin "Monitor" berichtet kurz darauf unter Verweis auf Ermittlungsakten, dass der frühere leitende Oberstaatsanwalt in Dessau, Folker Bittmann, es inzwischen für wahrscheinlich halte, dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers tot oder mindestens handlungsunfähig war und mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden sei – möglicherweise als Vertuschungstat. Laut dem Bericht äußert Bittmann in einem Schreiben vom April 2017 einen begründeten Mordverdacht und benennt gar konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizeibeamten. Dem Bericht zufolge kämen neue Gutachten von Sachverständigen aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie zu dem Schluss, dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als die These einer Selbstanzündung.
    Von der Oberstaatsanwaltschaft Halle heißt es darauf, alle Gutachten seien bei der Verfahrenseinstellung aktenkundig gewesen.
    Die Anwälte der Familie des Opfers legen Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein. Die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg weist diese im Jahr 2018 zurück. Anschließend scheitert 2019 noch eine dagegen eingereichte Klage vor dem Oberlandesgericht von Sachsen-Anhalt in Naumburg.

    Sonderermittler: Rassismus bei Polizei

    Der Landtag von Sachsen-Anhalt ernennt 2018 zwei Sonderermittler, die allerdings nicht mit allen Beteiligten sprechen dürfen. Ein Ergebnis des Sonderberichts 2020: Rassismus und erschreckende Missstände bei der Polizei Dessau 2005. Aber: keine neuen Ermittlungsansätze.
    Sie betonen aber bei der Vorstellung ihres Abschlussberichts, dass von der Festnahme Jallohs bis zu seinem Tod so gut wie jede polizeiliche Maßnahme fehlerhaft oder rechtswidrig gewesen sei. So habe es beispielsweise für die Verhaftung keine rechtliche Grundlage gegeben. Für die Dauer der Fixierung des Mannes auf einer Zellenpritsche hätte eine Sitzwache angeordnet werden müssen, die im Falle von Erstickungsgefahr, Selbstverletzung oder auch beim Versuch, ein Feuer zu entfachen, hätte eingreifen können. Wären diese Fehler unterblieben, wäre Oury Jalloh mit größter Wahrscheinlichkeit noch am Leben, so die Sondergutachter.
    Im November 2021 erscheint ein weiteres Gutachten, zu dem auch ein Film des Brandversuchs gehört. Es verstärkt die Zweifel an der offiziellen Version des Tods von Oury Jalloh.
    2023 bestätigt dann auch das Bundesverfassungsgericht die Einstellung der Ermittlungen.
    Der Versuch der Oury-Jalloh-Initiative , Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einzureichen, scheiterte an einer verpassten Frist. Nun soll über einen anderen Dessauer Fall der Komplex Oury Jalloh wieder taufgerollt werden. Es geht um den Tod von Jürgen Rose, bei dem es auch den Verdacht auf massive Polizeigewalt gibt. Und wieder gerät das Dessauer Polizeirevier in den Blick.

    Warum ist es so schwer, den Fall aufzuklären?

    Schon der erste Aufklärungsversuch vor dem Dessauer Landgericht scheitert. Warum? Aus Angst vor der Wahrheit? Aus Rücksicht auf den Ruf der Polizei? Wegen institutionellen Rassismus, wie Menschenrechtsgruppen vermuten? Die Polizei hat vor allem gemauert: Es wurde verheimlicht, vertuscht und verdrängt, an eine Aufklärung war nicht zu denken, bekennt damals der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff. Er beurteilt das Aussageverhalten der Polizeibeamten mit den Worten: „Das Ganze hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun.“
    Im ARD-Magazin „Monitor“ sagt ein früherer Dessauer Staatsschützer: „Widersprüche wurden nicht zugelassen, es gab nur die Version: Oury Jalloh hat sich angezündet. Jeder, der etwas anderes sagt, wurde geschnitten, schikaniert. Galt als Nestbeschmutzer.“

    Grünen-Politikerin: "Zu viele Zufälle"

    Auch Landespolitiker in Sachsen-Anhalt äußern Unzufriedenheit über die Ermittlungsarbeit. Gerade bei der Dessauer Polizei laufe einiges schief, sagt im Sommer 2016 etwa die Grünen-Fraktionschefin im Landtag, Cornelia Lüddemann. Auch im Fall einer ermordeten jungen Chinesin habe es etliche Ungereimtheiten gegeben – hier seien die Eltern des Tatverdächtigen ranghohe Polizisten gewesen.
    „Das sind viele Zufälle, das sind zu viele Zufälle“, sagt Lüddemann. „Ich glaube auch, dass die Strukturen hier zu klein sind. Dass also auch die Kontrolle der einzelnen Reviere nicht stringent genug vonstattengeht. Ich denke, dass wir größere Einheiten schaffen müssen, wo dieser enge Zusammenhalt und dieser Korpsgeist – muss man ja fast schon sagen – nicht gelebt werden kann.“ Die Grünen-Landespolitikerin befürchtet, dass der Fall Jalloh möglicherweise nie aufgeklärt wird. „Es sei denn, diejenigen, die dabei gewesen sind, brechen ihr Schweigen.“
    Der Fall Oury Jalloh ist inzwischen Gegenstand mehrerer Serien und Bücher. Im Mai 2020 veröffentlichte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) eine fünfteilige Feature-Reihe mit neuen Erkenntnissen zum Tod von Oury Jalloh. Sie legt nahe, dass der Asylbewerber aus Sierra Leone im Januar 2005 von Polizisten in Dessau getötet worden ist.
    Zum 20. Todestag Jallohs ist die True-Crime-Serie der ARD „Warum verbrannte Oury Jalloh“ erschienen. Es sei ihnen wichtig gewesen, bisher nicht oder kaum gehörte Perspektiven zu zeigen, sagt Anna Herbst, eine der Autoren. So kommen etwa Jallohs Freunde zu Wort, „die als abgelehnter Asylbewerber sehr lange sich nicht getraut haben, öffentlich zu sprechen“.

    Nina Voigt, abr