Im Auftrag des Landtags in Magdeburg haben die beiden Juristen Jerzy Montag und Manfred Nötzel monatelang Akten des Falls Oury Jalloh ausgewertet und Gespräche geführt. Ansätze für Mord-Ermittlungen sehen die beiden derzeit nicht. Sie stellen aber ein erschreckendes Ausmaß von Missständen bei der Polizei Sachsen-Anhalt damals fest: insbesondere im baulichen Bereich, bei der Ausbildung der Polizeibeamten und bei der Unkenntnis grundlegender rechtlicher Normen. Bei der Vorstellung ihres Abschlussberichts betonten sie, von der Festnahme bis zu Jallohs Tod sei so gut wie jede polizeiliche Maßnahme fehlerhaft oder rechtswidrig gewesen. Für die Verhaftung etwa habe es keine rechtliche Grundlage gegeben. Für die Dauer der Fixierung des Mannes auf einer Zellenpritsche hätte eine Sitzwache angeordnet werden müssen, die bei Erstickungsgefahr oder Selbstverletzung oder eben auch beim Versuch, ein Feuer zu entfachen, hätte eingreifen können. Wären diese Fehler unterblieben, wäre Oury Jalloh mit größter Wahrscheinlichkeit noch am Leben, so die Sondergutachter.
Zudem bemängeln sie, dass aus dem Fall Mario Bichtemann keine Konsequenzen gezogen worden seien. Bichtemann starb im Jahr 2002 in der gleichen Zelle wie später Oury Jalloh. Einige der Polizeibeamten, die an dem Vorfall damals beteiligt waren, hätten auch unmittelbar mit Oury Jalloh zu tun gehabt.
Der Asylbewerber aus Sierra Leone war in das Polizeirevier Dessau eingeliefert worden, weil er in stark alkoholisiertem Zustand Frauen belästigt haben soll. Polizisten brachten ihn in eine Ausnüchterungszelle im Keller der Polizeistation. Er wurde an Händen und Füßen auf eine Matratze gefesselt. Am 7. Januar 2005 wurde der 36-Jährige tot in der Zelle aufgefunden – er war verbrannt.
Seitdem beschäftigt der Fall die Öffentlichkeit und die Justiz - vollständig aufgeklärt wurde er nie. Es geht um die Frage, ob Jalloh seine Matratze selbst mit einem Feuerzeug angezündet hat – eine lange von den Ermittlungsbehörden verfolgte These - oder ob die Polizisten ihn getötet haben – etwa als Vertuschungstat. Vor allem die Jalloh-Gedenkinitiative geht von einem Mord aus, weil Jalloh betrunken und gefesselt war und sich deshalb nicht selbst angezünet haben könne. Die Initiative protestiert in Dessau regelmäßig gegen die Version vom selbst verursachten Brand. "Oury Jalloh – das war Mord" ist zum altbekannten Ruf geworden.
Schon früh wurde über rassistische Motive spekuliert. Auch in der aktuellen Debatte um strukturellen Rassismus bei der Polizei und unverhältnismäßige Polizeigewalt wird immer wieder an den Fall Oury Jalloh erinnert. Die Sondergutachter Jerzy Montag und Manfred Nötzel stellen in ihrem Bericht auf unterschiedlichen Ebenen Alltagsrassismus, institutionellen Rassismus und menschenverachtende Äußerungen der Polizei fest, auch auf Führungsebene.
Zwei Jahre nach dem Tod Oury Jallohs begann vor dem Landgericht Dessau-Roßlau der Prozess gegen zwei der diensthabenden Polizeibeamten. Die Angeklagten wurden im Dezember 2008 freigesprochen. Das Gericht hätte "trotz intensivster Bemühungen" den Tod nicht aufklären können, sagte der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff damals.
Im Januar 2010 hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil auf und gab den Fall dem Landgericht Magdeburg zur Neuverhandlung. Dieses verurteilte den verantwortlichen Dienstgruppenleiter der Polizei in Dessau wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe, weil er Jalloh besser hätte überwachen müssen. Im Urteil wurde davon ausgegangen, dass Jalloh seine Matratze selbst angezündet hatte.
Sowohl die Verteidiger eines verurteilten Polizisten als auch die der Angehörigen Jallohs stellten infrage, ob das Urteil frei von Rechtsfehlern zustande kam. Der BGH bestätigte die Verurteilung jedoch 2014. Das Landgericht Magdeburg habe nach der Aufhebung des ersten Freispruchs durch das Landgericht Dessau eine umfassende Beweisaufnahme vorgenommen. Bei der Würdigung der Beweise habe es keine Rechtsfehler gegeben, auch nicht bei der Feststellung der Brandursache.
Zwischenzeitlich hatte die Gedenk-Initiative beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Anzeige wegen Totschlags oder Mordes gegen unbekannte Polizeibeamte erstattet und ein neues privat finanziertes Brandgutachten in Auftrag gegeben. Der Sachverständige rekonstruierte den Zellenbrand und kam zu dem Schluss, dass Brandbeschleuniger eingesetzt worden sein müssen. Anders lasse sich eine feuerfeste Matratze nicht derart in Brand stecken.
Die Bundesjustiz verwies die Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft in Dessau-Roßlau, die Ermittlungen zogen sich hin. Im Sommer 2017 übertrug die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg das Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft Halle an der Saale - zur Begründung verwies sie unter anderem auf die hohe dienstliche Belastung der Mitarbeiter in Dessau.
Die Staatsanwaltschaft in Halle an der Saale stellte die Ermittlungen 2017 schließlich unter Hinweis auf fehlende Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter am Geschehen ein. In einer Pressemitteilung hieß es, der Ausbruch des Brandes, dessen Verlauf und das Verhalten Oury Jallohs habe nicht eindeutig bewertet werden können. Die rechtsmedizinischen Sachverständigen gingen davon aus, dass Oury Jalloh bei Brandausbruch gelebt habe und seine Handlungsfähigkeit und mithin eine Brandlegung durch ihn selbst nicht ausgeschlossen werden könne.
Die Einstellung des Verfahrens sorgte bei der Jalloh-Initative für Empörung. Kurz darauf berichtete das ARD-Magazin "Monitor" von einer "dramatischen Wende" im Fall Oury Jalloh: Unter Verweis auf Ermittlungsakten heißt es in dem Fernsehbeitrag, der frühere leitende Oberstaatsanwalt in Dessau, Folker Bittmann, halte es inzwischen für wahrscheinlich, dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers tot oder mindestens handlungsunfähig war und mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden sei - möglicherweise als Vertuschungstat. Laut Bericht äußerte Bittmann in einem Schreiben vom April 2017 einen begründeten Mordverdacht und benannte gar konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizeibeamten.
Dem Bericht zufolge kamen neue Gutachten von Sachverständigen aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie zu dem Schluss, dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als die These einer Selbstanzündung. Oberstaatsanwältin Geyer aus Halle erklärte daraufhin, als man die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens getroffen habe, seien alle Gutachten von Sachverständigen aktenkundig gewesen. Es gebe keine neuen Erkenntnisse. Die Linke dagegen forderte, der Generalbundesanwalt müsse sich mit dem Fall befassen.
Die Anwälte der Familie des Opfers legten Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein. Die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg wies diese im Jahr 2018 zurück. Anschließend scheiterte noch eine dagegen eingereichte Klage vor dem Oberlandesgericht von Sachsen-Anhalt in Naumburg, mit der eine Wiederaufnahme von Ermittlungen doch noch erzwungen werden sollte. Die Richter wiesen diese 2019 Jahr als unbegründet und unzulässig ab.
Mit Abschluss der juristischen Aufarbeitung nahmen die beiden vom Landtag in Sachsen-Anhalt bestellten Sondergutachter ihre Arbeit auf, um die Vorgänge, Vorwürfe und Aktennotizen noch einmal zu durchleuchten.
Schon der erste Aufklärungsversuch vor dem Dessauer Landgericht scheiterte. Warum? Aus Angst vor der Wahrheit? Aus Rücksicht auf den Ruf der Polizei? Wegen institutionellem Rassismus, wie Menschenrechtsgruppen vermuten? Die Polizei hatte vor allem gemauert: Es sei verheimlicht, vertuscht und verdrängt worden, an Aufklärung sei nicht zu denken gewesen, bekannte damals der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff. Er beurteilte das Aussageverhalten der Polizeibeamten mit den Worten: "Das Ganze hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun."
Im ARD-Magazin "Monitor" äußerten Sachverständige in einer ungewohnten Deutlichkeit, dass die Tötung von Oury Jalloh viel wahrscheinlicher sei, als die von den Ermittlungsbehörden verfolgte These, dass sich der Asylbewerber selbst angezündet hätte und daran gestorben sei. Ein früherer Dessauer Staatsschützer sagte in dem Bericht: "Widersprüche wurden nicht zugelassen, es gab nur die Version: Oury Jalloh hat sich angezündet. Jeder, der etwas anderes sagt, wurde geschnitten, schikaniert. Galt als Nestbeschmutzer."
Verschiedene Landespolitiker in Sachsen-Anhalt äußerten auch Unzufriedenheit über die über die Ermittlungsarbeit. Gerade bei der Dessauer Polizei laufe einiges schief, sagte etwa die Grünen-Fraktionschefin im Landtag, Cornelia Lüddemann. Auch im Fall einer ermordeten jungen Chinesin habe es etliche Ungereimtheiten gegeben - hier waren die Eltern des Tatverdächtigen ranghohe Polizisten. "Das sind viele Zufälle, das sind zu viele Zufälle", so Lüddemann. "Ich glaube auch, dass die Strukturen hier zu klein sind. Dass also auch die Kontrolle der einzelnen Reviere nicht stringent genug vonstatten geht. Ich denke, dass wir größere Einheiten schaffen müssen, wo diese enge Zusammenhalt und dieser Korpsgeist – muss man ja fast schon sagen – nicht gelebt werden kann." Die Grünen-Landespolitikerin befürchtet, dass der Fall Jalloh möglicherweise nie aufgeklärt wird. "Es sei denn, diejenigen, die dabei gewesen sind, brechen ihr Schweigen."
Im Mai 2020 veröffentlichte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) eine Feature-Reihe mit neuen Erkenntnissen zum Tod von Oury Jalloh. Die fünfteilige Reihe legt nahe, dass der Asylbewerber aus Sierra Leone im Januar 2005 von Polizisten in Dessau getötet worden ist. In einem Interview sagte die Autorin Margot Overath: "Nach meinen Recherche wurde Oury Jalloh schwer misshandelt. Er verlor das Bewusstsein, es wurde kein Arzt geholt, was unbedingt nötig gewesen wäre, und nachdem vermutet wurde, dass er nicht wieder aufwacht, wurde sein Suizid inszeniert." Informanten hätten ihr berichtet wie Polizisten der Dessauer Wache ihre Machtgelüste an hilflosen Schutzbefohlenen auslebten. Ihr Verhalten sei von Vorgesetzten gedeckt worden.
(Quellen: Christoph Richter, André Damm, Dlf-Nachrichtenredaktion, Nina Voigt)