Die Berührung eines Sterbenden - das ist für gläubige Menschen mehr als ein körperliches Geschehen. In der leibhaftigen Präsenz eines anderen Menschen könne sich Gottes Nähe vermitteln, sagt der katholische Theologe Andreas Lob-Hüdepohl. Er erinnert daran: Die Krankensalbung, die in der katholischen Kirche früher als Letzte Ölung bezeichnet wurde, sei ein Sakrament. Das deutsche Seuchenschutzgesetz nehme darauf Rücksicht, so Lob-Hüdepohl:
"Das Infektionsschutzgesetz, das geltende, sieht vor im Paragraf 30 Absatz 4, dass neben Notaren immer auch Seelsorgern der Zugang zu abgeschirmt Isolierten, zu 'Abgesonderten', wie das im Gesetz heißt, zu gewähren ist. Vorausgesetzt, dass die Schutzkleidung tragen. Das ist natürlich völlig klar. Daran zeigt sich eigentlich, dass der Gesetzgeber um die höchste Bedeutsamkeit eigentlich von der zumindest seelsorgerischen Begleitung von Sterbenden und schwer Erkrankten, also von Abgesonderten auch ausgeht."
Hautkontakt im Christentum
Der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse will sich allerdings mit Schutzkleidung für Seelsorgerinnen und Seelsorger in Zeiten der Pandemie nicht abfinden. Kruse leitete einst eine Expertenkommission der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Themen rund ums Altern. Er begleitet auch Demenzkranke beim Sterben. Er fordert, in der jetzigen Phase der Pandemie müssten endlich Schnelltests die Schutzkleidung am Sterbebett ersetzen, damit ein Hautkontakt möglich werde:
"Wir sagen natürlich immer, da geht er mit Schutzkleidung rein und so weiter. Aber das ist natürlich schon auch nicht nur etwas, was einen Menschen sozusagen körperlich von einem weghält und entfremdet, sondern ist es natürlich auch ein großer geistiger Verzicht. Und ich glaube auch, wenn man das in die Dimension des Glaubens hebt: Dass sich natürlich auch in dieser körperlichen Berührung natürlich auch etwas zutiefst Geistiges und natürlich auch etwas Göttliches zum Ausdruck bringt. Und man muss das benennen. Man muss es benennen, um auch klarzumachen, was wir Menschen vorenthalten, wenn wir eine nicht-tiefgreifende Begleitung eines Sterbenden betreiben."
Hilfreiche Brücken im Islam
Im Islam wird das Sterben eines Menschen mit der Hadsch verglichen – der Pilgerreise nach Mekka, sagt die muslimische Theologin Muna Tatari, Junior-Professorin an der Universität Paderborn. So sei es Tradition, das Gewand, das jemand während seiner Hadsch trug, später zum Totenhemd zu machen. Außerdem werden Füße und andere Körperteile parfümiert.
"Was in der islamischen Tradition, glaube ich, eine hilfreiche Brücke ist für den Moment, wo halt keiner wirklich weiß, was dann kommt, auch wenn es viele so Nahtod-Erzählungen gibt. Aber es ist ein Übergang in eine Welt, wo wir keine Geschichten zu haben. Und wenn jetzt sozusagen der Trauerprozess über die Toten-Bekleidung und über das Parfümieren zurückgebunden ist an die Hadsch-Rituale, wo ich, wenn ich zur Hadsch aufbreche, die Auflage bekomme, bevor ich überhaupt aufbrechen darf, unter anderem mich mit all denen zu versöhnen, mit denen ich im Clinch bin, zumindest ernsthaft zu versuchen, mich zu versöhnen. Dann ist das auch etwas, was ich mittrage im Sterbeprozess und was helfen soll, demjenigen, der stirbt und denjenigen, die ihn oder sie begleiten, an Rituale anknüpfen zu können, die sie vorher schon kennen und die in dem Moment möglicherweise Halt geben können."
Rituale des Abschiednehmens
Die Seelsorge reicht in allen großen monotheistischen Religionen traditionell über den Todestag hinaus. Sie bieten eine Vielzahl von Ritualen an, die den Angehörigen das Abschiednehmen erleichtern. Der katholische Theologe Andreas Lob-Hüdepohl erinnert an das sogenannte "Sechswochenamt" – eine etwas vergessene Messfeier im zweiten Monat nach dem Tod eines Menschen. Einst diente dieser Gottesdienst dazu, weiter entfernt lebenden Angehörigen die Möglichkeit zu geben, anzureisen und Abschied zu nehmen. Ein Trauerangebot, das in Pandemie-Zeiten hilfreich sein könnte, so Lob-Hüdepohl.
Muna Tatari wiederum beschreibt, muslimische Trauerrituale nach dem eigentlichen Todestag würden denen im Christentum ähneln:
"Es folgen dann traditionell drei größere Trauerphasen. Das ist zum einen die dreitägige Phase, in der es vor allem darum geht, den Tod bekannt zu machen unter Verwandten, Angehörigen, Betroffenen. Die Familie wird in der Zeit nach Möglichkeit nicht alleine gelassen. Es ist immer jemand bei ihr. Die Familie und die Angehörigen und die Betroffenen empfangen Besucher und sind aber nicht in der Verpflichtung, die Gäste bewirten zu müssen, sondern sind alleine da, um Anteil nehmen zu spüren. Und all das andere tun die anderen Besuchenden."
Würdevolles Sterben trotz Pandemie
Dann schließe sich eine Trauerphase von ungefähr 40 Tagen an, die von der Vorstellung getragen sei, es brauche diese Zeit, bis die Seele ganz das irdische Dasein verlassen habe. Regelmäßige Koranrezitationen und Erzählungen über die Verstorbenen prägen diese Phase, in der nach Möglichkeit keine große, fröhliche Feier veranstaltet werden sollte, so Tatari. Nach Abschluss eines Trauerjahres werde in der Regel noch einmal das Grab besucht. Muna Tatari und Andreas Lob-Hüdepohl sind Mitglieder im 26-köpfigen Deutschen Ethikrat – ebenso wie der Gerontologe Andreas Kruse.
Er greift auf den antiken Philosophen Plotin zurück, um noch einmal den existentiellen Prozess des Sterbens zu betonen, der auch in einer Pandemie so würdevoll wie möglich gestaltet werden müsse. In seiner Mystik habe Plotin von der individuellen Seele gesprochen, die beim Sterben wieder in der Weltseele aufgehe – genauso sei es mit dem Geist:
"Deswegen hat Plotin gesagt: Das Verlassen der Welt ist einer der größten Übergänge, die der Mensch zu gestalten hat. Es gehört mit zu dem größten, was der Mensch erlebt, gestaltet. Und dann wird klar, wenn wir dann in der völligen Einsamkeit der Kriege, der Konzentrationslager oder jetzt eben in der völligen Einsamkeit eines Zimmers, das von anderen Menschen, vor allen Dingen vertrauten Menschen, nicht betreten werden darf, sterben. Das ist eine uns auch existenziell zutiefst berührende Situation."