"Ich hatte ja auch schon damals, mit 17 Jahren, das Gefühl gehabt: Raus! Raus aus diesem Ge ... aus diesem Gemäuer, aus dieser Höhle, die da um mich gebaut wurde, um uns junge Menschen überhaupt, von Lüge, von Heuchelei, was man alles nicht sagen durfte ... was man nicht bemerken durfte … antisemitisch auch noch dazu - kurz und gut: man saß wie in einer finstren Höhle, und ich wenigstens, ich wollte raus …"
Man hört förmlich, welche Entschlossenheit nötig war, um dieser Welt des 19. Jahrhunderts zu entfliehen, einer Welt der sozialen Gängelung, Überwachung und Verstellung. Tilla Durieux aber wollte ihr Leben – das hieß für sie: zum Theater.
Sprung nach Berlin
"Aber ich musste das damals noch ganz geheim halten. Und musste also meine ganzen Studien da sozusagen anonym absolvieren. Ich durfte sogar nicht meinen Namen behalten. Ich heiße eigentlich Godeffroy ..."
Wo immer sie sich in den ersten Jahren vorstellte, in der Provinz, in Olmütz oder Breslau, bekam sie zu spüren und zu hören, dass sie ja "eigentlich" so gar nicht dem lieblich gelockten, zartgliedrigen Schönheitsideal der Zeit entsprach – man erkannte aber auch ihre Begabung. Schon 1903 gelang ihr der Sprung nach Berlin, in Max Reinhardts Theater, und innerhalb weniger Jahre erlebte sie einen kometenhaften Aufstieg.
Die Salome war ihr Durchbruch. Wedekind, Strindberg gehörten ebenso zu ihrem Repertoire wie die großen, klassischen Rollen: Immer die starke, dämonische, verführerische, auch gequälte Frau. Publikum und Kritiker waren hingerissen. Aus heutiger Sicht sind gerade auch kritische Stimmen wie die von Alfred Kerr interessant, der zwar von "ihrer Kraft im Dramatischen" schrieb, aber anmerkte: "… Nur Tränen werden ihr keine fließen. Diese Frau ist geistig so vif, daß ihr die Einfachheit des Schmerzes fehlt."
Angst vor ihrer "zersetzenden" Intelligenz
Man bewunderte die ausdrucksstarke Ikone Tilla Durieux, hatte aber gleichzeitig Angst vor ihrer "zersetzenden" Intelligenz und dem passionierten Nonkonformismus, womit sie der Gesellschaft den Spiegel vorhielt: Sie wollte nicht einfach Illusionen bedienen – sie wollte sie durchleuchten, sich nicht gefühlvoll mit den Figuren identifizieren, sondern zeigen, wie sie funktionieren.
Wenig später begann das zweite Leben der Tilla Durieux als Migrantin und Exilantin – weit weg von der Bühne und vom Theater. An der Seite ihres dritten, jüdischen Ehemanns begann eine Flucht aus Nazideutschland - über Prag, die Schweiz, schließlich nach Zagreb, sie wurde Hotelbesitzerin, Näherin von Puppenkleidern, Partisanin.
Dann, 1952, zunächst auf Probe, zurück nach Deutschland - fast in ihr altes Leben: "Ich hatte 13 Jahre keine Bühne betreten, und als ich bei den Proben über die Bühne ging, dacht ich, ich hätte 13 Füße und 13 Hände - und wo sollt ich damit hin."
Ein Panorama der Moderne
Sie sollte sehr schnell begreifen, was sie tun musste, um wieder Fuß zu fassen. Doch obwohl sie drei Jahre später endgültig nach Berlin zurückkehrte: Trotz aller Wertschätzung wird kein Ensemble sie aufnehmen, kein Intendant sie fest an sein Haus binden. So blieb ihr nichts als durch die Republik zu touren, bestaunt und gefeiert als Virtuosin. Der Kritiker Friedrich Luft: "Die Frau wird in zwei Jahren 90. Und spielt immer noch ... Sie ist zum Ende hin, ist nach mehr als zwei Stunden schwerer Darstellungsarbeit, eigentlich viel besser noch als zu Beginn."
Am 21. Februar 1971, ein halbes Jahr nach ihrem 90. Geburtstag, starb Tilla Durieux. Zusammengenommen ergeben die Phasen ihres Lebens ein Panorama der Moderne: Ein Bild mit Kratzern, Lücken, Bruchstellen, Widersprüchen – und Lebensmut. Vielleicht konnte sie gerade aufgrund dieser Fülle von Erfahrungen Georg Büchners trostloses Märchen im Woyzeck von einem "arm Kind" offener, staunender sprechen:
"... und wie es endlich zum Mond kam - war’s ein Stück faul Holz.
... und wie’s wieder auf die Erde wollt,
war die Erde ein umgestürzter Hafen.
Und es war ganz allein.
Und da hat sich‘s hingesetzt und geweint.
Und da sitzt es noch – und ist ganz allein."