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Tödliche Flucht übers Mittelmeer
Der Junge am Strand

Ein kleiner Junge liegt bäuchlings am Strand - tot. Das Bild von Alan Kurdi ging vor fünf Jahren um die Welt und wurde zum Symbol für die Notlage von Millionen Flüchtlingen aus Syrien. Seine Tante Tima Kurdi hat nun die Geschichte des Kindes aufgeschrieben – ein erschütternder Bericht.

Von Birgit Morgenrath |
 Hinter der Statistik steht eine Geschichte: Tima Kurdis Buch "Der Junge Am Strand" will aufrütteln und Menschen auf der Flucht ihr Gesicht zurückgeben.
Hinter der Statistik steht eine Geschichte: Tima Kurdis Buch "Der Junge Am Strand" will aufrütteln und Menschen auf der Flucht ihr Gesicht zurückgeben. (Buchcover: Verlag Assoziation A, Hintergrund: Deuschlandradio/Gavrilis)
Tima Kurdi, von Beruf Friseurin, hat ein ergreifendes Zeugnis über eine "Familie auf der Flucht" verfasst. Dies sei vor allem für ihren Bruder Abdullah, den Vater des "Jungen am Strand" eine "gigantische Herausforderung" gewesen, schreibt sie. Jeder tote Flüchtling mache ihn traurig.
"Wie können wir unbewegt zusehen wie Menschen im Meer ertrinken? Warum lassen wir zu, dass die See sie verschlingt?"
Diese Frage lässt die beiden Geschwister nie mehr los. Seit Abdullah Kurdi erleben musste, wie seine Frau ertrank und seine beiden kleinen Söhne ihm aus den Händen glitten und im Meer verschwanden.
Tima Kurdi schildert die Familiengeschichte: Sie und ihre vier Geschwister wuchsen in einem säkularen Syrien auf, in einem sehr offenen, toleranten Elternhaus in Damaskus. Auch nachdem Tima Kurdi nach Kanada emigriert war, nahm sie per Telefon und Skype am Schicksal ihrer Familie teil. Die 2000er Jahre hätten auch den jungen Familien ihrer Geschwister Stabilität und Wohlstand gebracht, erzählt sie. 2011 brach dann der Bürgerkrieg über sie herein. Politik sei bis dahin nie ein Thema gewesen:
"Ich bin gegen Gewalt, und ich beziehe politisch keine Stellung. Ich stehe auf der Seite der Menschen, die zwischen den Parteien zerrieben werden. Ich spreche für den Frieden."
Man sieht einen umgestürzten Bus auf einem Straßen-Rondell. Auf den regennassen Straßen laufen Menschen und fahren Autos. Im Hintergrund zerstörte Gebäude unter einem trüben Himmel. 
Aleppo im Dezember 2016. Den Bewohnern der zerstörten Städte in Syrien bleibt meist nur die Flucht. (Sputnik)
Die Welt aus den Augen eines Flüchtlings
Krieg und Zerstörung brachten den Kurdis großes Leid. Eindringlich führt die Syrerin im sicheren Kanada den LeserInnen im sicheren Europa vor Augen, wie ihre Familie und Millionen andere Menschen zunächst im Bombenhagel alles verloren und dann als Geflüchtete überleben mussten. Vier der fünf Kurdi-Familien, darunter 20 Kinder, waren aus Damaskus in die Türkei geflohen. Dort fristeten sie ein Dasein in armseligen Behausungen; Matratzen und Kleidung fischten sie aus dem Müll.
Abdullah Kurdi war noch in Syrien von islamistischen Milizionären festgenommen, tagelang verprügelt und schwer gefoltert worden. Später in der Türkei arbeitete er zu mageren Löhnen auf Baustellen oder in Textilfabriken. 2013 kam sein zweiter Sohn Alan auf die Welt. Ein Lichtblick für den Vater, wie seine Schwester beschreibt.
Rupert Neudeck - "Das Foto zeigt den Zustand der verlassensten Nation der Welt"
Rupert Neudeck befürwortete die massenhafte Veröffentlichung des Fotos eines dreijährigen syrischen Flüchtlingsjungen, der tot an einem türkischen Strand liegt. Zwar könne der emotionale Umgang mit verheerenden Krisen auch gefährlich werden, doch in diesem Fall bewirke das Bild aktives Handeln, sagte der frühere Vorsitzende des Friedenscorps Grünhelme im Jahr 2015 im Deutschlandfunk.
2014 dann besuchte Tima Kurdi ihre Angehörigen in Istanbul. Ihr Geschwister waren gealtert, ihre Nichten und Neffen abgemagert:
"Dort lernte ich, die Welt mit den Augen eines Flüchtlings zu sehen. Irgendwohin hat es dich verschlagen, irgendwo bist du. Doch du hast das Gefühl, dass das Leben ohne dich weitergeht. Du bist ein Phantom in einer Welt, die nicht deine ist."
Mehrere Geschwister entschlossen sich zur Flucht nach Deutschland. Der älteste Bruder hatte es schon dorthin geschafft.
Abdullah Kurdi wollte mit seiner Familie auf einem Boot vom türkischen Bodrum auf die griechische Insel Kos übersetzen. Tima Kurdi ließ ihnen das nötige Geld zukommen und verfolgte fast täglich die Probleme mit den Schleppern vor Ort, die Todesängste bei zwei abgebrochenen Versuchen und die Furcht vor den plötzlichen Böen des Meltemi-Windes – ein quälend langer Monat zwischen Warten, Hoffen und Zweifeln.
Flüchtlinge entsteigen einem Schlauchboot und gehen an Land.
Flüchtlinge bei ihrer Ankunft auf der Insel Kos. (picture alliance/dpa/Yannis Kolesidis)
Dann kam der dritte Versuch:
"Am 2. September 2015 hatte ich meine weinende Schwägerin […] am Telefon. "Wo ist Abdullah?", habe ich sie gefragt. "Er ist im Krankenhaus", sagte sie, "und steht vor drei Leichen." Ich ließ das Telefon fallen und begann zu schreien, schlug mir ins Gesicht, zog mir an den Haaren. Ich schrie, so laut ich konnte, die ganze Welt sollte mich hören. So viele unschuldige Menschen sind gestorben, aber die Welt schwieg, war still."
"Dieses Bild soll die Welt aufrütteln"
Tima Kurdi erzählt, wie das Foto des Leichnams innerhalb kürzester Zeit um die Welt ging. Und noch in diesen Stunden des Schocks sagte ihr Bruder Abdullah den Satz, der die Geschwister bis heute leitet:
"Inschallah wird es ein Weckruf für die Welt sein. […] Dieses Bild soll die Welt aufrütteln. Dieser Krieg muss enden. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand mehr sein Leben lässt."
Das Foto des ertrunkenen syrischen Flüchtlingskindes Aylan Kurdi dient als Vorlage für ein gesellschaftskritisches Graffiti, das am 11.03.2016 auf der Osthafenmole in Frankfurt am Main (Hessen) zu sehen ist. Rund 40 Stunden haben die Künstler Justus Becker und Oguz Sen an dem rund 120 Quadratmeter großen Motiv gearbeitet.
Das erschütternde Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes wurde zum Symbol und zur Ikone für die verzweifelte Notlage der syrischen Flüchtlinge - hier auf einem Graffito der Künstler Justus Becker und Oguz Sen in Frankfurt. (picture-alliance/Arne Dedert/dpa)
Abdullah Kurdi setzt sich für die Rechte Schutzsuchender ein. 2016 gründete er zusammen mit seiner Schwester die Stiftung "Kurdi Foundation", die praktische Hilfen für Flüchtlingskinder leistet.
Er lebt inzwischen im Nordirak, hat wieder geheiratet und einen kleinen Sohn bekommen. Er heißt Alan. Die übrige Familie Kurdi lebt über die Erdkugel verstreut.
Tima Kurdi ist inzwischen stark ernüchtert, was den "Weckruf" und die Appelle an die Politiker dieser Welt betrifft, Kriege zu beenden und Geflüchteten zu helfen. Am diesjährigen Gedenktag an den "Toten Jungen am Strand" sagte sie:
"Ich frage mich nur, wie viele Bilder die Welt sehen muss, damit die Menschen handeln und sagen: Es ist genug, wir müssen etwas tun!"
Tima Kurdi hat ein aufrüttelndes, unbedingt lesenswertes Dokument verfasst – aufrichtig und in einfacher Sprache. Und gerade darum sehr überzeugend.
Tima Kurdi: "Der Junge am Strand",
Assoziation A, 248 Seiten, 19,80 Euro