"'Zählen, was verloren gegangen ist und das benutzen, was noch übrig bleibt’. Am Turnier mit diesem Motto nehmen 369 Athleten aus 22 Ländern teil - das Paralympische Turnier körperlich Behinderter."
Der Kommentar des Sprechers ist beladen mit Stolz. Und die Bilder zu diesem Fernsehbericht über die Tokioter Spiele zeigen einen Einmarsch, der auch die Athletinnen und Athleten stolz macht. Rollstuhlfahrer winken zu klatschenden Zuschauern auf den Rängen.
Es ist Herbst 1964. Nach den Olympischen Spielen von Tokio – die ersten auf asiatischem Boden – veranstaltet die japanische Hauptstadt die "Paralympics." Ein Event mit derselben Idee gab es schon seit 1948. Damals parallel zu den Olympischen Spielen von London hatte der Arzt Ludwig Guttmann die "Stoke Mandeville Games" veranstaltet. Damals auf einem Krankenhausgelände, mit 16 querschnittsgelähmten Bogenschützen. Es wurde eine Tradition draus.
Japan deklariert Tokyo 1964 als "Meilenstein für den Behindertensport"
1960 in Rom fand das Ereignis erstmals am selben Ort und im selben Jahr wie die Olympischen Spiele statt. Und "Tokyo 1964" wurden dann die ersten Paralympischen Spiele, die auch so hießen. Dies ist in Japan minutiös aufgearbeitet.
"Tokyo Paralympic: ai to eiko no saiten." Übersetzt heißt das: Das Zelebrieren von Liebe und Ruhm. Die Dokumentation des Großverlags Kadokawa, die 2019 erschien, also ein Jahr vor dem ursprünglich geplanten Start der Tokioter Spiele, erweckt einen klaren Eindruck: Mit den 1964er Spielen habe alles begonnen. Auch in Japans Olympiamuseum, direkt neben dem neugebauten Nationalstadion, wird betont, wie die Tokioter Spiele ein Meilenstein für den Behindertensport gewesen seien.
Aber die Fakten sehen anders aus: Zwar gehört Japan bei Olympischen Spielen zu den stärksten Ländern der Welt, steht im historischen Medaillenvergleich auf Platz zehn. Bei den Paralympischen Spielen reicht es aber nur für Rang 17. Und das liegt nicht daran, dass das ostasiatische Land später angefangen hat und jetzt aufholt. 2016 in Rio holten Japans Parasportler keine Goldmedaille. Im Nationenvergleich stand das Land tief in der unteren Hälfte.
Yokosawa: "Bei sozialen Themen wie Sport hinken wir hinterher"
Takanori Yokosawa hat eine Erklärung dafür. Der Abgeordnete im japanischen Oberhaus für die oppositionelle Verfassungsdemokratische Partei war 2010 in Vancouver als Skifahrer selbst bei den Paralympics. Und es habe immer wieder an Unterstützung gemangelt:
"Japan ist noch nicht so weit wie andere Länder, die USA oder Deutschland. Es ist schon besser geworden, aber nur teilweise. Als ich ein Kind war, gab es zum Beispiel kaum Rolltreppen und Aufzüge. Heute ist die harte Infrastruktur relativ gut. Aber bei sozialen Themen wie Sport hinken wir immer noch hinterher. Die Elitesportler werden heute gefördert, durch die staatlich finanzierte nationale Akademie. Das ist ein Fortschritt."
Durch gezielte Trainingsprogramme dürfte Japan diesen Sommer auch bei den Paralympischen Spielen historische Erfolge einfahren. Aber für eine auch sozial nachhaltige Wirkung des Behindertensports brauche es mehr als Elitenförderung, findet Yokosawa:
"Was wir bisher machen, reicht nicht. Wenn man ein Hobbysportler ist, muss man zum Beispiel seinen Rollstuhl selbst bezahlen. Das kann sich aber nicht jeder leisten. Das ganze Geld im Behindertensport geht nur an die Allerbesten, für Medaillengewinne."
Takanori Yokosawa setzt sich schon länger für mehr Inklusion ein, besonders in der Bildung, was auch den Sportunterricht angeht. Aber gleichzeitig hält er die Hürden hier für besonders hoch. Denn die Denkweise, dass Menschen mit einer Behinderung eben generell anders seien, ist noch immer tief verankert.
Tiefsitzende Diskriminierungsgeschichte in Japan
Über Jahrzehnte sind Menschen mit einer Behinderung in Japan in Anstalten gesteckt und vom gesellschaftlichen Leben ferngehalten worden. Bis zur Mitte der 1990er-Jahre erlaubte es ein Gesetz sogar, Menschen mit einer intellektuellen Behinderung zu sterilisieren. Und bis heute gibt es – anders als in der EU – kein Anti-Diskriminierungsgesetz, was Ungleichbehandlungen generell verbieten würde.
Und diese tiefsitzende Diskriminierungsgeschichte macht sich auch heute noch im Sport bemerkbar – findet Heinrich Popow. Der ehemalige Paralympionik, der für Deutschland jeweils Gold im Sprint und im Weitsprung holte, berät seit einigen Jahren den japanischen Parasport.
Popow sagt: "Die Technologie ist da. Das theoretische Wissen ist auch da. Nur die praktische Umsetzung hat so ein bisschen gefehlt. Was denen auf jeden Fall gefehlt hat, im Zusammenhang mit meinen Athleten: die Körpersprache, die Aggressivität. Ich hab zu meinen Athleten gesagt: Wenn ich dich das nächste Mal sehe, dann will ich, dass du zwei Meter groß bist. Hier bei den Paralympics geht es nicht mehr darum, wer ist physisch der Beste, sondern wer ist mental der Beste. Und das ist das größte Problem der Japaner. Weil sie auch kulturell bedingt das Thema Behinderung ja auch nicht so salonfähig in der Öffentlichkeit war."
Die jahrzehntelange Geringschätzung versuchen jetzt auch große Medienanstalten zu kompensieren. Der öffentliche Rundfunksender NHK hat im Vorfeld der Spiele eine an Kinder gerichtete Animeserie namens "Anipara" ausgestrahlt. Darin lassen sich Jugendliche in jeder Episode eine paralympische Sportart erklären, von der sie am Ende hellauf begeistert sind. Ob Boccia, Rollstuhlbasketball oder der Sprint sehbehinderter Personen. Am Ende fragt immer eine Stimme aus dem Off: "Und wer ist dein Held?"