Sollten die Spiele von Tokio diesen Sommer stattfinden, wird man sie in der Zukunft ganz bestimmt als "historisch" bezeichnen. Es werden die ersten Spiele sein, die in einer Pandemie stattgefunden haben. Niemals zuvor mussten Zuschauer aus dem Ausland ausdrücklich draußen bleiben. Und bei keinen Spielen wird es im Gastgeberland so viel Opposition gegen die Veranstaltung gegeben haben.
Aus Sicht der Organisatoren sind dies natürlich die falschen Gründe, um in die Geschichtsbücher einzugehen. Die wünschenswerten wären: eine reibungslose Vorbereitung und Durchführung, weltgewandte Jubelstimmung und vor allem - sportliche Höchstleistungen.
Die Vorbereitung hat durch Lockdowns gelitten
Aber kann das diesmal gelingen? In diversen Ländern können sich Sportler kaum angemessen vorbereiten. Lockdowns versetzen den Alltag in Stillstand, Sporthallen blieben teils lange geschlossen. Den mentalen Fokus aufs Training zu setzen, scheint schwer.
Ob dies zu Spielen der Mittelmäßigkeit führen wird, das traut sich Daniel Memmert nicht allgemein vorherzusagen. Der Professor für Trainingswissenschaft der Deutschen Sporthochschule Köln sagt:
"Ich glaub, das muss man sehr differenziert sehen. Auf der einen Seite hatten die Topathleten natürlich die Chance, sich top vorzubereiten, auch länger vorzubereiten, weniger Wettkämpfe zu machen, was auch ein Vorteil sein kann tatsächlich, um die Trainingsplanung auf so ein Lebensereignis hinzuoptimieren. Auf der anderen Seite braucht man auch Wettkämpfe, um ein bisschen Druck auszuhalten, um das auch zu transportieren in der Wettkampfsituation."
Und diese Wettkämpfe fanden lange nicht statt. Welcher Effekt überwiegen wird - Ausgeruhtheit oder Wettkampfmangel - sei zu diesem Zeitpunkt Spekulation. Laut Memmert ist auch unklar, wie die Auswirkung des Publikums sein wird, beziehungsweise dessen Abwesenheit:
"Da kann ich nur aus der Sportart Fußball berichten: Wir haben uns das angeschaut, und tatsächlich muss man sagen, dass sich das Spiel an sich ohne Zuschauer nicht groß verändert hat. Wie die jetzt laufen, wie die Passquote ist, und … sowas wie Raumkontrolle, wie Pressing… Es ist nicht zu erwarten, dass es ohne Zuschauer irgendwelche Auswirkungen hat auf die Leistungen, auf Rekorde. Das heißt, der Einfluss der Zuschauer wird jedenfalls im Fußball systematisch überschätzt. Andererseits gibt es natürlich so etwas wie den Heimvorteil."
Der Heimvorteil könnte Japan zugutekommen
In Tokio müsste so ein Heimvorteil dann zu einem stärkeren Abschneiden der japanischen Athletinnen und Athleten führen. Das holländische Sportanalyseunternehmen Gracenote prognostiziert genau das: Gegenüber der schon starken Ausbeute von 2016 in Rio dürfte sich Japan um 18 Medaillen verbessern. Mit 59 Medaillen, davon 34 Mal Gold, würde es im Nationenvergleich für Platz vier hinter den USA, China und den russischen Athleten reichen. Für Japan wäre das ein historischer Rekord.
Aber nicht jeder ist überzeugt. Satoshi Sasamori, Sportjournalist bei der Tageszeitung Sankei Shimbun, fällt vor allem die gedämpfte Stimmung unter den Athleten auf:
"Viele Menschen im Land halten diese Olympischen Spiele in der Pandemie für gefährlich. Es ist auch schwieriger als sonst, sich mental gut vorzubereiten. Und viele Athleten können jetzt nicht richtig ihre Meinung sagen. Oft werden sie vom Japanischen Olympischen Komitee finanziert. Sie wollen ihren Geldgeber nicht reizen. Die Öffentlichkeit ist ja mehrheitlich gegen die Spiele. Die Sportler können sich also kaum kritisch über die Spiele äußern, aber auch nicht von der Gesellschaft fordern: unterstützt uns, jubelt für uns!"
Wenn die Spiele beginnen, fällt die Skepsis
In Umfragen haben viele der japanischen Athleten zuletzt angegeben, dass sich die Unsicherheit und die Unzufriedenheit in der heimischen Öffentlichkeit negativ auf ihre Motivation auswirkt.
Satoshi Sasamori erwartet aber, dass sich die Stimmung im Land ändern wird, sobald die Spiele begonnen haben:
"Wenn es erst losgeht, werden sich die Leute wahrscheinlich ganz plötzlich doch freuen. Es wird für die japanischen Teilnehmenden gejubelt werden. Das Infektionsrisiko wird immer dableiben. Aber es wird vielleicht nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Dann wird der Heimvorteil natürlich stärker. Und es wird wohl viele japanische Goldmedaillen geben. Ich fände es schade, wenn die japanische Öffentlichkeit dann vergisst, unter welchen Umständen diese Erfolge erreicht werden."
Denn die Möglichkeiten, sich möglichst gut auf diese Olympischen Spiele vorzubereiten, unterscheiden sich je nach Land stark. Sportler aus Ländern, in denen die Pandemie aktuell stärker wütet, werden es in Tokio wohl schwerer haben, aufs Podest zu kommen. So prognostiziert es Sportwissenschaftler Daniel Memmert:
"Natürlich gibt es generell Länder dieser Welt, bei denen die Infrastruktur nicht so gut ist, auch ohne Corona, wie jetzt in anderen Ländern, die dann auch im Medaillenspiegel weiter vorne sind. Das muss man ja auch ehrlich sagen. Das wird spannend zu beobachten sein, wie groß dieser Effekt ist, ob dieser Effekt sichtbar ist.
So ist die Lage für die Sportlerinnen und Sportler aus Japan doppelt schwierig: Die Medaillengewinne, die es wohl geben wird, könnten böse Zungen als nur bedingt aussagekräftig bezeichnen.