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Tokio 2020
Olympia-Skepsis steigt

Über Jahre schien der Rückhalt der japanischen Bevölkerung für Olympia unerschütterlich. Nun scheint eine Mehrheit gegen "Tokyo 2020" zu sein. Größere Probleme haben die Organisatoren zu lange ignoriert.

Von Felix Lill |
Olympische Ringe vor dem Olympiastadion in Tokio.
Olympische Ringe vor dem Olympiastadion in Tokio (imago images / Sven Simon)
Japan ist die Lust vergangen. Dieser Eindruck entsteht, wenn man einer Umfrage aus diesem Monat glaubt. Noch bevor die Olympia-Organisatoren zu Beginn der vergangenen Woche die Verschiebung der Spiele verkündeten, hatte die Nachrichtenseite Yahoo Japan ihre Nutzer gefragt, wie sie die Sache sehen: Sollte Olympia wie geplant stattfinden, so wie es die Organisatoren lange noch beteuerten?
Die überraschende Antwort: unter 76.000 Usern befürworteten mehr als 65 Prozent, dass "Tokyo 2020" nicht etwa verschoben, sondern ganz abgesagt wird. Die Umfrage genügt nicht dem wissenschaftlichen Kriterium der Repräsentativität. Aber bei einer so hohen Teilnehmerzahl lässt sich immerhin dies sagen: Die Olympia-Euphorie hat in Japan einen deutlichen Dämpfer erlitten.
Es ist eine überraschende Entwicklung, wenn man sich an die letzten Jahre erinnert. In Japan konnte sich die olympische Bewegung, so schien es jedenfalls, immer großer Unterstützung sicher sein. Nach der Tsunami- und Atomreaktorkatastrophe von 2011 um Fukushima hatte Premierminister Shinzo Abe die Spiele von "Tokyo 2020" zu den "Spielen des Wiederaufbaus" erklärt. Die Mehrheit der Bevölkerung ließ sich überzeugen. Im September 2013, als Tokio gegen Istanbul und Madrid das Rennen ums Austragungsrecht gewann, waren 92 Prozent der Japaner für Olympia in ihrer Hauptstadt.
,,Spiele als politische Ressource eingesetzt“
Es gab zwar immer Bedenken. Aber besonders viel Presse bekamen die Kritiker nie. Einer von ihnen ist Hiroki Ogasawara. Der Professor für Soziologie an der Universität Kobe ist Verleger des Sammelbands "Han Tokyo Olympic Sengen", auf Deutsch: Anti-Tokio-Olympisches Manifest. Dass die Skepsis gegenüber Olympia nun wächst, wundert Ogasawara nicht:

"Bei Olympischen Spielen sollte es eigentlich um das Zelebrieren der Menschheit gehen, um Athletik, Respekt Fairplay und so weiter. Es ist eine Veranstaltung für Athleten. Das ist es, was Olympia eigentlich ist. Aber Shinzo Abe und dem IOC gefällt die Vorstellung, dass Olympia mehr als das sein könnte. Es soll um fukkou gehen, also den Wiederaufbau von der Krise in Fukushima. Aber ich frage mich: Warum brauchen wir dieses Konzept dabei? Wiederaufbau ist eine andere Sache, völlig unverbunden mit Sport. Die Olympischen Spiele werden hier also als politische Ressource eingesetzt."
Indem die Organisatoren nun wochenlang darauf beharren wollten, dass Olympia trotz allem in diesem Juli beginnen würde, glaubt Ogasawara, stellen sich immer mehr Menschen in Japan diese Frage: Sollte Olympia nicht zuletzt als PR-Spektakel dienen, durch das sich Japan als eine nach der Katastrophe von 2011 wiederaufgebaute Nation feiern und damit dieses Kapitel endlich hinter sich lassen kann? Und um dieses Narrativ erzählen zu können, glaubt Ogasawara, schienen die Organisatoren lange Zeit bereit, die Gesundheitsrisiken hintanzustellen.
"Die Menschen in den beschädigten Gebieten in Tohoku fühlen sich schon lange verlassen. Sie fragen sich, warum all die Baumaterialien nach Tokio gegangen sind, wenn es doch die "Spiele des Wiederaufbaus" werden sollten. Beschädigt war ja nicht Tokio. Im Nordosten, also Tohoku, ist unter den Menschen der Eindruck verbreitet, dass ihre Leben nicht zählen.
Und jetzt, wo die Olympischen Spiele verschoben werden, will Premierminister Abe sich noch als Retter aufspielen. Er hat es in der Presse so dargestellt, als wäre er es gewesen, der die Olympischen Spiele verschiebt. Dabei hat er damit viel zu lang abgewartet und wollte sie eigentlich unbedingt noch diesen Sommer stattfinden lassen. Die Menschen merken das mittlerweile", sagt Ogasawara.
Alte Vergangenheit wird ausgeblendet
So hat das Projekt "Tokyo 2020" nun wohl eine Menge Schadensbegrenzung vor sich. Es könnte sogar sprichwörtlich zu einem historischen Problem werden. Bisher haben die Organisatoren gern die Parallele zu den Olympischen Spielen von 1964 bemüht. Damals beeindruckte Tokio die Welt mit moderner Infrastruktur und - 19 Jahre nach Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg - mit einem wiederaufgebauten Land.
Nun aber drängt sich eine andere Parallele auf. Der erste asiatische Olympiastandort wäre Tokio nämlich eigentlich schon 1940 gewesen. Weil Japan damals aber seine Ressourcen in einen Eroberungskrieg in China steckte, sagte man Olympia kurzerhand doch ab. An dieses dunkle Kapitel erinnern Museen und Zeitungen heute kaum.
"Keiner spricht von 40. Es wird, wenn überhaupt, in den Ausstellungen mal am Rande erwähnt, dass es da auch was gab. Es wird dann so heruntergespielt: Aufgrund des Krieges hat es nicht stattgefunden und deswegen beschäftigen wir uns auch nicht damit. Es ist alles 1964, der Fokus ist komplett auf 64", erklärt Torsten Weber.
Der Historiker am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der Erinnerungskultur im Land auseinandergesetzt. Jetzt beobachtet Weber, dass sich die Organisatoren, Premierminister Shinzo Abe und Tokio-Gouverneurin Yuriko Koike bemühen, dass Gedanken an die gescheiterten Spiele von 1940 gar nicht erst aufkommen:
"Was Abe gestern gesagt hat, klang ja auch schon klar in die Richtung: bloß keine Vergleiche ziehen. Denn 1940 sind sie ja gecancelt worden. Aber jetzt wird überall betont, ob von Abe oder Koike: Die gute Nachricht ist, dass sie nicht gecancelt worden sind. Als hätte das jemals zur Debatte gestanden. Aber dieser Spin wird jetzt reingebracht.
So soll es in die Geschichte eingehen: Abe und Koike haben es gerettet. Sie sind nicht gescheitert, deshalb hat das auch nichts mit 1940 zu tun. Sondern sie werden einfach nur ein bisschen später stattfinden. Es soll jedenfalls keine Parallele dargestellt werden mit 1940", so Weber.
Ogasawara fordert Referendum
Nun ist fraglich, wie viele Menschen in Japan die Verschiebung tatsächlich wie eine Rettung durch die Regierung sehen. Hiroki Ogasawara wüsste es gern. Schließlich wird eine Olympia-Verschiebung um ein Jahr laut einer Schätzung Kosten in Höhe von 5,8 Milliarden US-Dollar verursachen.
Der Schaden wäre also knapp halb so hoch wie das ursprünglich für "Tokyo 2020" veranschlagte Budget. Ogasawara fordert daher, dass nun die Bevölkerung entscheiden darf:
"Bisher hat die Bevölkerung der Austragungsorte immer gedacht, dass Olympische Spiele unbedingt ein Erfolg werden müssen. Aber durch die Coronakrise hat sich jetzt gezeigt, dass das Veranstalten von Olympia eine Entscheidung ist. Wir haben eine Wahl.
Und mit der Verschiebung wird das Ganze jetzt noch einmal teurer. Wir müssen also darüber sprechen, ob wir das wollen. Ich glaube, ein Referendum wäre jetzt eine gute Option."