"Ich stehe dazu, dass wir jedes Jahr ganz unterschiedliche Regiekonzepte und –Handschriften präsentieren. Damit möchte ich dem Publikum beweisen, dass es sehr viele Wege zu den Werken von Händel gibt. Wir können es historisch inszenieren, postmodern oder ganz modern, oder avantgardistisch, es geht alles, sobald es einen Bezug zu der Geschichte hat."
Sagt Michael Fichtenholz, der künstlerische Leiter der Händel Festspiele Karlsruhe. In der Tat bildet die diesjährige Opern-Neuproduktion mit Händels Tolomeo in der ruhigen und in psychologische Tiefen gehenden Regie von Benjamin Lazar einen ungeheuer starken Kontrast zum turbulenten, in der Glitzerwelt von Las Vegas spielenden "Serse" des Vorjahres in der Regie von Max Emanuel Cencic. Dass beide Produktionen in dieser Festival-Ausgabe zu sehen sind, zeigt die Offenheit der Festspiele in Karlruhe.
Ein Antiheld, der an Hamlet erinnert
Händels "Tolomeo" von 1728 steht relativ selten auf den heutigen Opern-Spielplänen. Und das mag am so gar nicht heldenhaften Charakter der Titelfigur liegen. Die Mutter des ägyptischen Königs Ptolemaios des IX. liebt seinen jüngeren Bruder Alessandro mehr und setzt diesen auf den Thron, sie treibt Ptolemaios, italienisch Tolomeo, ins Exil nach Zypern und nimmt ihm auch noch die Geliebte Seleuce. Genügend Gründe für Tolomeo, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch am Ende siegt sein Edelmut.
"Dieser Antiheld erinnert ein wenig an Hamlet in seiner Intensität, seiner Zögerlichkeit, seinen Zweifeln, seinem Hin und her Schwingen zwischen Leben und Tod. Das macht ihn dynamisch und sehr interessant, denn das sind Kräfte, mit denen wir ja auch heute selbst jeden Tag kämpfen.
Erklärt Regisseur Benjamin Lazar. Und Dramaturgin Deborah Maier ergänzt:
"Genau das ist das Spannende, dass er eben nicht der klassische Held ist, sondern eben ein Antiheld, der eigentlich mit dem Leben abgeschlossen zu haben scheint, und gleich zu Beginn vom Leben überflutet wird, im wahrsten Sinne des Wortes, und ihn das Leben positiv überrascht, und ihn die Menschen ins Leben zurückholen."
Unerfüllte Liebe, Wut und Eifersucht
Wie durch ein Wunder wird der Bruder Alessandro schiffbrüchig an den Strand von Zypern "gespült". Tolomeo widersteht dem Impuls seinen Bruder zu töten. Er fristet als Hirte Osmin verkleidet sein Dasein auf der Insel und ahnt nicht, dass seine mutige Verlobte Seleuce als Schäferin Delia verkleidet bereits in der Nähe ist, um ihn zu retten. Die Verkleidungen sorgen für Verwirrung. Der zyprische König Araspe liebt Delia, seine Schwester Elisa liebt Osmin alias Tolomeo. Alessandro, Tolomeos Bruder verliebt sich in Elisa. Keine Liebe stößt auf Gegenliebe, was Wut und Eifersucht zur Folge hat.
Als sich die wahren Identitäten enthüllen, sollen Tolomeo und Seleuce sterben, doch Elisa rettet Tolomeo, indem sie das Gift im Becher in Schlafmittel umtauscht.
Nur fünf Personen agieren in diesem Psychodrama. Händel leuchtet mit den einfachsten, aber wirkungsvollsten Mitteln tief in die seelischen Abgründe der Personen. Dirigent Federico Maria Sardelli kristallisierte am Pult der Deutschen Händel-Solisten mit unglaublicher Energie die einzelnen Emotionen heraus.
"Die Insel Zypern ist für Händel ein Mittel um einen magischen Ort zu kreieren, wo sich Passionen stark ausdrücken können. Mir ist dabei ein Hotel im Badeort Trouville in den Sinn gekommen, es heißt "Die schwarzen Felsen" (Les roches noires). In diesem abgelegenen Ort haben Künstler ein intensives Leben geführt und sind ihren Fantasien nachgegangen, inspiriert von der Kraft des Meeres. So ähnlich geht es den Figuren bei Händel. Wir versuchen zu zeigen, wie sich wirkliches Leben und Wünsche vermischen. Vergeblich liebenden Menschen erscheinen ihre Sehnsuchtsfiguren als Fantasmen."
Die Villa am Meer wird von den Wellen verschluckt
Regisseur Benjamin Lazar zeigt die Gefühle jedes einzelnen dieser Psycho-Gruppe brennglasartig. Fast immer sind alle Personen anwesend. Lazar deutet die geheimen, aber nicht ausgeführten Wünsche an - etwa die Liebessehnsucht oder den Wunsch, den Kontrahenten zu töten. Die Bewegungsregie ist sehr sparsam und scheint inspiriert von barocker Gestik und modernem Tanz. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, wird aber im Verlauf immer intensiver.
Die Bühne von Adeline Caron ist die Halle einer großen Villa unmittelbar am Meer. Je nach Tagesszeit kann man durch eine Fensterwand den brausenden Ozean auf einem Video im Hintergrund sehen. Je nach Gefühlslage verändert sich die Bewegung der See. Auf dem Höhepunkt der Emotionsstürme verschlucken die Wellen die Villa. Fortan spielt die Geschichte unter Wasser. Ein paar Quallen hängen glockenartig als Lampen von der Decke. Am Schluss beim "Happy End" tauchen aber alle wieder auf.
Facettenreiche Stimme, berührende Ausdruckskraft
Sängerisch waren alle fünf Partien dieser Produktion hochklassig besetzt. Im Zentrum stand jedoch, sowohl schauspielerisch und sängerisch, der polnische Countertenor Jakub Józef Orlińsky. Tolomeos Verzweiflungen und inneren Kämpfe vermittelte er mit seiner facettenreichen Stimme und ihrem so warmen und runden Timbres, und vor allem mit berührender Ausdruckskraft.
Aufschlussreich waren ein Symposium und ein Konzert der Händel-Akademie, wo Hintergründe und Entstehung von Händels "Tolomeo" beleuchtet wurden. Bereits Domenico Scarlatti hatte 1711 diese Geschichte vertont.
Im Konzert der Akademie wurden einige Scarlatti Arien zu Tolomeo geboten. Das Symposium hatte zuvor Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Händel und Scarlatti unter die Lupe genommen. Beispielsweise ging Scarlatti viel kleinteiliger vor und setzte einzelne Worte musikalisch plakativer um, während Händel durch Harmonik, Rhythmik und Begleitfiguren eine universellere Dimension der Emotionen erreicht.