Zu den vielen Neuerscheinungen dieses Jubiläumsjahres gehört auch das Buch des Göttinger Theologen Martin Tamcke "Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biografie". In seiner Einleitung weist der Autor darauf hin, dass durch die einschneidende Zäsur des Zweiten Weltkriegs gerade diese Linie der Tolstoj-Rezeption fast in Vergessenheit geraten ist: In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war es vor allem Tolstojs vehemente Kritik an der offiziellen Kirche und seine radikale Neudeutung der christlichen Botschaft, deretwegen er 1901 exkommuniziert wurde, die ihn damals zur angebeteten Leitfigur für alternative pazifistische, anarchistische, mystisch- soziale und rational-freireligiöse Strömungen machte. Aus dieser seiner Form der Religiosität nämlich erwächst Tolstojs extreme Systemkritik, mit der er nicht nur die Gesellschaftsordnung des zaristischen Russlands, sondern die gesamte materialistische Zivilisation der Moderne infrage stellte.
Das Anliegen Tamckes ist aber nicht – wie er sagt - "Tolstoj zu einer Autorität für alternative religiöse Konzepte zu küren", sondern "ihn vor den gleichen menschlichen Grundfragen zu sehen, die sich vielen von uns auch heute stellen".
Inwieweit der Autor diesem wichtigen Anliegen gerecht wird, bleibt jedoch fraglich. Das Buch ist eine Mischung aus wissenschaftlichem Fachbuch, in dem auch Sekundärliteratur behandelt wird, und populärwissenschaftlicher Darstellung, die sich nicht wirklich zu einer Einheit verbindet.
Der Theologe Tamcke, ein hervorragender Kenner des russisch-orthodoxen Christentums, trägt eine Menge Material zu Tolstojs Religiosität zusammen: Er referiert den Inhalt seiner wichtigsten religiös-philosophischen Schriften "Meine Beichte", "Worin besteht mein Glaube" und "Das Reich Gottes ist inwendig in euch", mit denen Tolstoj seine rigorose, kirchenferne, allein auf der Bergpredigt basierende christliche Morallehre begründet.
Er macht die geistige Prägung Tolstojs durch so spezifische Erscheinungen der Ostkirche wie die Starzen, die geistlichen Lehrer in den Klöstern, oder die Jurodivye, die Narren in Christo, deutlich. Hat doch Tolstoj in seinem Suchen nach einem mönchisch-asketischen Lebensideal mehrfach das Gespräch mit den berühmtesten Starzen seiner Zeit im Kiewer Höhlenkloster oder im Kloster Optina Pustyn gesucht und war immer wieder bitter enttäuscht davon.
Und jener Sonderform der russischen Volksfrömmigkeit, den Narren in Christo, die außerhalb aller gesellschaftlicher Konventionen, nackt oder in Ketten mit ihrem Auftreten provozierten, fühlte sich der immer mehr zum absoluten Außenseiter werdende Tolstoj durchaus nahe.
Außerdem interpretiert der Autor die wichtigsten Erzählungen Tolstojs mit religiöser Thematik wie "Vater Sergej", "Drei Tode" oder "Der Tod des Iwan Iljitsch".
Allerdings fügt sich all dieses spannende Material – mosaikartig zusammengesetzt – nicht zu einem geschlossenen Gesamtbild. Das seitenlange Referieren der Traktate Tolstojs in der Form der indirekten Rede ist alles andere als leserfreundlich. Überhaupt keine Beachtung findet, dass Tolstoj eine Synthese aller Religionen, also auch des Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus sowie unterschiedlicher philosophischer Systeme anstrebt.
Vor allem aber ist das Buch keine "spirituelle Biografie" Tolstojs, da sein religiöses Suchen nicht chronologisch in seiner Entwicklung und kaum verknüpft mit seinem konkreten Lebensweg beschrieben wird.
Für viele Leser steht – besonders auch nach dem Film "Ein russischer Sommer" - das Interesse an Tolstojs Leben ganz im Vordergrund.
Die wesentliche Neuentdeckung ist da natürlich seine Frau Sofja Andrejewna Tolstaja. Auf der Flucht vor ihr ist er vor hundert Jahren auf der Bahnstation Astapowo gestorben. Und das damals auch in Deutschland vorherrschende und in der von Männern geschriebenen Literaturgeschichte weiter gepflegte Bild von ihr ist das der hysterischen Xantippe, die nicht fähig war, den geistigen Höhenflügen ihres genialen Mannes zu folgen und wie ein Mühlstein an seinem Hals hing.
Die vor einem Jahr im Insel Verlag erschienene Biografie Sofja Andrejewnas von Ursula Keller und Natalja Sharandak hat uns auf der Basis reichen Quellenmaterials ein neues Bild gezeichnet: das einer hochgebildeten, künstlerisch begabten starken Frau, die an der Seite Tolstojs, als Mutter der dreizehn Kinder und seine Mitarbeiterin, die Tausende Manuskriptseiten seiner großen Romane wieder und wieder abschrieb, lange Jahre jedes Eigenleben aufgegeben hatte. Seinen Weg der radikalen Wende, der schließlich zur Aufgabe jedes Eigentums und der Rechte an seinen Werken führte, konnte sie jedoch aus Sorge um die große Familie nicht mitgehen. Das führte zu jenem qualvollen Ehedrama, das damals die Weltöffentlichkeit verfolgte.
Die beiden Autorinnen haben der Biografie Sofjas nun den Briefwechsel der Ehegatten folgen lassen: vom ersten Liebesbrief Tolstojs 1862 über die jahrelange Korrespondenz zwischen Jasnaja Poljana und der Moskauer Stadtwohnung, wohin die Familie 1882 wegen der Ausbildung der Kinder übersiedelte, bis zu den herzzerreißenden, verzweifelten Schreiben im Todesjahr 1910. Auf Russisch gab es eine einzige Ausgabe dieses Briefwechsels im Jahr 1936. Nun ist er endlich – in Auswahl und mit Kürzungen - zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden.
Und vor uns ersteht in der Tat – wie es der Titel suggeriert - "eine Ehe in Briefen", die in ihrer häufig selbstzerstörerischen, erbarmungslosen Aufrichtigkeit das erschütternde Dokument einer großen Liebe, wachsenden Entfremdung und seelischen Peinigung sind. Immer jedoch ist dieser Briefwechsel auch Ausdruck ihres Ohne- einander- nicht- leben- Könnens.
In dem stetigen Auf- und Ab ihrer Beziehung begann Sofja Andrejewna seit den 90er-Jahren ihre eigene Kreativität wieder zu entdecken. Neben der aufreibenden Aufgabe als Verlegerin der Werke ihres Mannes, Gutsverwalterin und Erzieherin der Kinder begann sie wieder zu schreiben, zu musizieren und zu malen; sie fotografierte und entwickelte ihre Fotos selbst.
Die beiden Autorinnen Keller und Sharandak haben uns Sofja Andrejewna auch als durchaus ernst zu nehmende Schriftstellerin vorgestellt. Schon vor zwei Jahren erschien bei Manesse Sofja Tolstajas Roman "Eine Frage der Schuld", ihre Antwort auf Tolstojs frauenfeindliche "Kreutzersonate" aus weiblicher Sicht.
Nun hat Ursula Keller auch ihren zweiten, bisher überhaupt noch nicht publizierten Roman "Lied ohne Worte" ins Deutsche übersetzt, wiederum – obwohl gut lesbar - weniger ein bedeutender literarischer Text als ein aufschlussreiches Dokument der Literaturgeschichte.
In diesem Buch ist ebenfalls eine dramatische Episode ihres Lebens mit Tolstoj literarisch verarbeitet. Nach dem Tod ihres letzten Kindes, des siebenjährigen, heiß geliebten Wanjetschka 1895, der die Ehegatten einander wieder näher gebracht hatte, suchte Sofja Andrejewna Trost in der Musik. Der bekannte Pianist und Komponist Sergej Tanejew wurde zu einem Freund des Hauses, in den sie sich verliebte, obwohl der Angebetete davon nicht einmal etwas mitbekam. Die Eifersuchtsreaktion des 69-jährigen Tolstojs, der - wie in der "Kreutzersonate - den "unsittlichen und verderblichen Einfluss der Musik" für diese "widerwärtige Abscheulichkeit" verantwortlich macht, und in einem der Briefe sogar seinen oder Sofjas Tod als Ausweg in Erwägung zieht, trägt krankhafte Züge. Eigentlich also ist die reale Geschichte spannender als Tolstajas literarische Verarbeitung.
Martin Tamcke: Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biografie
Insel Verlag Berlin
154 Seiten, 17,90 Euro
Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja, Eine Ehe in Briefen
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak
Insel Verlag Berlin 2010
494 Seiten, 22,90 Euro
Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte
Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller. Nachwort von Natalja Sharandak
Manesse Verlag Zürich,
252 Seiten
Das Anliegen Tamckes ist aber nicht – wie er sagt - "Tolstoj zu einer Autorität für alternative religiöse Konzepte zu küren", sondern "ihn vor den gleichen menschlichen Grundfragen zu sehen, die sich vielen von uns auch heute stellen".
Inwieweit der Autor diesem wichtigen Anliegen gerecht wird, bleibt jedoch fraglich. Das Buch ist eine Mischung aus wissenschaftlichem Fachbuch, in dem auch Sekundärliteratur behandelt wird, und populärwissenschaftlicher Darstellung, die sich nicht wirklich zu einer Einheit verbindet.
Der Theologe Tamcke, ein hervorragender Kenner des russisch-orthodoxen Christentums, trägt eine Menge Material zu Tolstojs Religiosität zusammen: Er referiert den Inhalt seiner wichtigsten religiös-philosophischen Schriften "Meine Beichte", "Worin besteht mein Glaube" und "Das Reich Gottes ist inwendig in euch", mit denen Tolstoj seine rigorose, kirchenferne, allein auf der Bergpredigt basierende christliche Morallehre begründet.
Er macht die geistige Prägung Tolstojs durch so spezifische Erscheinungen der Ostkirche wie die Starzen, die geistlichen Lehrer in den Klöstern, oder die Jurodivye, die Narren in Christo, deutlich. Hat doch Tolstoj in seinem Suchen nach einem mönchisch-asketischen Lebensideal mehrfach das Gespräch mit den berühmtesten Starzen seiner Zeit im Kiewer Höhlenkloster oder im Kloster Optina Pustyn gesucht und war immer wieder bitter enttäuscht davon.
Und jener Sonderform der russischen Volksfrömmigkeit, den Narren in Christo, die außerhalb aller gesellschaftlicher Konventionen, nackt oder in Ketten mit ihrem Auftreten provozierten, fühlte sich der immer mehr zum absoluten Außenseiter werdende Tolstoj durchaus nahe.
Außerdem interpretiert der Autor die wichtigsten Erzählungen Tolstojs mit religiöser Thematik wie "Vater Sergej", "Drei Tode" oder "Der Tod des Iwan Iljitsch".
Allerdings fügt sich all dieses spannende Material – mosaikartig zusammengesetzt – nicht zu einem geschlossenen Gesamtbild. Das seitenlange Referieren der Traktate Tolstojs in der Form der indirekten Rede ist alles andere als leserfreundlich. Überhaupt keine Beachtung findet, dass Tolstoj eine Synthese aller Religionen, also auch des Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus sowie unterschiedlicher philosophischer Systeme anstrebt.
Vor allem aber ist das Buch keine "spirituelle Biografie" Tolstojs, da sein religiöses Suchen nicht chronologisch in seiner Entwicklung und kaum verknüpft mit seinem konkreten Lebensweg beschrieben wird.
Für viele Leser steht – besonders auch nach dem Film "Ein russischer Sommer" - das Interesse an Tolstojs Leben ganz im Vordergrund.
Die wesentliche Neuentdeckung ist da natürlich seine Frau Sofja Andrejewna Tolstaja. Auf der Flucht vor ihr ist er vor hundert Jahren auf der Bahnstation Astapowo gestorben. Und das damals auch in Deutschland vorherrschende und in der von Männern geschriebenen Literaturgeschichte weiter gepflegte Bild von ihr ist das der hysterischen Xantippe, die nicht fähig war, den geistigen Höhenflügen ihres genialen Mannes zu folgen und wie ein Mühlstein an seinem Hals hing.
Die vor einem Jahr im Insel Verlag erschienene Biografie Sofja Andrejewnas von Ursula Keller und Natalja Sharandak hat uns auf der Basis reichen Quellenmaterials ein neues Bild gezeichnet: das einer hochgebildeten, künstlerisch begabten starken Frau, die an der Seite Tolstojs, als Mutter der dreizehn Kinder und seine Mitarbeiterin, die Tausende Manuskriptseiten seiner großen Romane wieder und wieder abschrieb, lange Jahre jedes Eigenleben aufgegeben hatte. Seinen Weg der radikalen Wende, der schließlich zur Aufgabe jedes Eigentums und der Rechte an seinen Werken führte, konnte sie jedoch aus Sorge um die große Familie nicht mitgehen. Das führte zu jenem qualvollen Ehedrama, das damals die Weltöffentlichkeit verfolgte.
Die beiden Autorinnen haben der Biografie Sofjas nun den Briefwechsel der Ehegatten folgen lassen: vom ersten Liebesbrief Tolstojs 1862 über die jahrelange Korrespondenz zwischen Jasnaja Poljana und der Moskauer Stadtwohnung, wohin die Familie 1882 wegen der Ausbildung der Kinder übersiedelte, bis zu den herzzerreißenden, verzweifelten Schreiben im Todesjahr 1910. Auf Russisch gab es eine einzige Ausgabe dieses Briefwechsels im Jahr 1936. Nun ist er endlich – in Auswahl und mit Kürzungen - zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden.
Und vor uns ersteht in der Tat – wie es der Titel suggeriert - "eine Ehe in Briefen", die in ihrer häufig selbstzerstörerischen, erbarmungslosen Aufrichtigkeit das erschütternde Dokument einer großen Liebe, wachsenden Entfremdung und seelischen Peinigung sind. Immer jedoch ist dieser Briefwechsel auch Ausdruck ihres Ohne- einander- nicht- leben- Könnens.
In dem stetigen Auf- und Ab ihrer Beziehung begann Sofja Andrejewna seit den 90er-Jahren ihre eigene Kreativität wieder zu entdecken. Neben der aufreibenden Aufgabe als Verlegerin der Werke ihres Mannes, Gutsverwalterin und Erzieherin der Kinder begann sie wieder zu schreiben, zu musizieren und zu malen; sie fotografierte und entwickelte ihre Fotos selbst.
Die beiden Autorinnen Keller und Sharandak haben uns Sofja Andrejewna auch als durchaus ernst zu nehmende Schriftstellerin vorgestellt. Schon vor zwei Jahren erschien bei Manesse Sofja Tolstajas Roman "Eine Frage der Schuld", ihre Antwort auf Tolstojs frauenfeindliche "Kreutzersonate" aus weiblicher Sicht.
Nun hat Ursula Keller auch ihren zweiten, bisher überhaupt noch nicht publizierten Roman "Lied ohne Worte" ins Deutsche übersetzt, wiederum – obwohl gut lesbar - weniger ein bedeutender literarischer Text als ein aufschlussreiches Dokument der Literaturgeschichte.
In diesem Buch ist ebenfalls eine dramatische Episode ihres Lebens mit Tolstoj literarisch verarbeitet. Nach dem Tod ihres letzten Kindes, des siebenjährigen, heiß geliebten Wanjetschka 1895, der die Ehegatten einander wieder näher gebracht hatte, suchte Sofja Andrejewna Trost in der Musik. Der bekannte Pianist und Komponist Sergej Tanejew wurde zu einem Freund des Hauses, in den sie sich verliebte, obwohl der Angebetete davon nicht einmal etwas mitbekam. Die Eifersuchtsreaktion des 69-jährigen Tolstojs, der - wie in der "Kreutzersonate - den "unsittlichen und verderblichen Einfluss der Musik" für diese "widerwärtige Abscheulichkeit" verantwortlich macht, und in einem der Briefe sogar seinen oder Sofjas Tod als Ausweg in Erwägung zieht, trägt krankhafte Züge. Eigentlich also ist die reale Geschichte spannender als Tolstajas literarische Verarbeitung.
Martin Tamcke: Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biografie
Insel Verlag Berlin
154 Seiten, 17,90 Euro
Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja, Eine Ehe in Briefen
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak
Insel Verlag Berlin 2010
494 Seiten, 22,90 Euro
Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte
Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller. Nachwort von Natalja Sharandak
Manesse Verlag Zürich,
252 Seiten