Archiv


Tolstojs fünf Gebote

Als Lew Tolstoj vor 100 Jahren starb, war der bärtige Graf im Russenkittel der damals wohl berühmteste Mann der Welt. Von den einen wurde er wie einen Gott als moralische Autorität angebetet, von anderen als idealistischen Spinner verspottet.

Von Karla Hielscher |
    Seine enorme Popularität verdankte der große Schriftsteller zu Anfang des 20. Jahrhunderts weniger seinen großen Romanen, mit denen er in die Weltliteratur einging, als vielmehr seiner rigorosen, zivilisationskritischen Lebenslehre, die sich allen Institutionen von Staat und Kirche verweigerte und eine weltweite alternative Tolstojaner-Bewegung begründete.

    Es ist die Stimme Lew Nikolajewitsch Tolstojs, die hier zu hören ist, eine der ganz frühen Tonaufnahmen auf Wachszylindern. Der Erfinder Thomas Edison selbst hatte Lew Tolstoj 1908 einen Phonographen zum Geschenk gemacht, damit die Stimme des damals sicherlich berühmtesten Menschen der Erde für die Nachwelt bewahrt wird. Der im Bauernkittel auf dem Feld pflügende Graf, der von der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche exkommunizierte Religionsstifter und Morallehrer war schon zu Lebzeiten zum Mythos geworden; und sein Landgut Jasnaja Poljana zur Pilgerstätte für die unterschiedlichsten Sinn- und Heilssucher aus aller Welt.
    Die Worte, die er sprach, waren ein vehementer Aufruf gegen die Todesstrafe:
    "Nein, das ist unmöglich! So kann man nicht leben! So dürfen wir nicht leben! Auf gar keinen Fall! Jeden Tag so viele Todesurteile, so viele Hinrichtungen! Heute fünf, morgen sieben. Heute wurden 20 Bauern erhängt. 20 Tode! (...) Und alle meinen, es müsse so sein."

    Der hier von Tolstoj ausgesprochene Satz: "So kann man, so darf man nicht leben" ist wohl der wesentliche Leitgedanke, der das Leben des 1828 in einer traditionsreichen russischen Adelsfamilie geborenen genialen Schriftstellers von Beginn an durchzieht.

    Schon als junger Mann hatte Tolstoj, der damals ein zügelloses Dandyleben mit wüsten Spielexzessen, Trinkgelagen und ausschweifenden Liebschaften führte, sich selbst rigorose moralische Lebensregeln aufgestellt, diese aber immer wieder durchbrochen. Und auch in seinen unsterblichen Romanen "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" geht es letztlich um die Frage nach dem richtigen Leben.

    Seit seiner tiefen Existenzkrise Ende der 70er-Jahre aber erscheint ihm sein gesamtes bisheriges Leben als verfehlt und sein literarisches Werk als eitel und nichtig. In der Schrift "Meine Beichte" formuliert er die ihn bewegende Grundfrage so:

    "'Wozu lebe ich, wozu begehre ich, wozu handle ich'. Noch anders kann man die Frage so ausdrücken: Gibt es in meinem Leben einen Sinn, der nicht zunichte würde durch den unvermeidlich meiner harrenden Tod?"

    Und Tolstoj entwickelt auf der Grundlage der Bergpredigt jene auf wenigen Glaubenssätzen basierende christlich anarchistische Lebenslehre, die eine Synthese der moralischen Werte aller Weltreligionen darstellt:

    "Diese fünf Gebote sind: 1. du sollst nicht zürnen 2. du sollst nicht ehebrechen, 3. du sollst nicht schwören, 4. du sollst dich dem Bösen nicht mit Gewalt widersetzen, 5. du sollst niemandes Feind sein."

    Von nun an versucht er, konsequent nach diesen Geboten zu leben: Aus dem patriotischen Offizier, der im Kaukasus und im Krimkrieg als Freiwilliger gekämpft hatte, wird der unnachgiebige Pazifist; aus dem lasterhaften Schürzenjäger der kompromisslose Kämpfer gegen den Sexus; aus dem wohlhabenden, seinen Reichtum mehrenden Gutsbesitzer der bedürfnislose Asket.

    Die Absage an Privateigentum und jede Form von Gewalt impliziert eine scharfe Systemkritik von Staat und Kirche, gegen die er zum zivilen Ungehorsam aufruft. Genauso verurteilt er jedoch auch alle revolutionären Bestrebungen.

    Für Tolstoj persönlich ist die Konsequenz seiner radikalen Lehre das tragische Zerwürfnis mit seiner Ehefrau Sofja Andrejewna, die aus Sorge um die große Familie den Verzicht auf sein Eigentum und die Einkünfte aus den literarischen Werken nicht mitmachen konnte und wollte. Nach 48-jähriger Ehe flüchtet der 83-Jährige aus Jasnaja Poljana und begibt sich auf eine Pilgerfahrt mit unbekanntem Ziel.

    Auf dieser Reise ist er am 20. November 1910 im Stationshäuschen der Bahnstation Astapowo gestorben.