Eine Abschiebung widerspreche der Genfer Flüchtlingskonvention, betonte Koenigs. Auch wenn derzeit nicht in allen Teilen des Landes Gefahr herrsche, so könne doch ganz Afghanistan sehr schnell zum Kriegsgebiet werden.
Koenigs argumentierte, afghanische Flüchtlinge lernten meist rasch die deutsche Sprache und integrierten sich deshalb leicht. Zudem wollten die meisten Afghanen eigentlich in ihrem Land bleiben; sie flöhen mit Tränen in den Augen. Wenn sie die Möglichkeit zur Rückkehr in ihre Heimat sähen, würden sie diese auch wahrnehmen.
Unsicherheitsfaktor Pakistan
Nach Auffassung Koenigs kommt es vornehmlich auf die Afghanen selbst an, die Sicherheit in ihrem Land zu verbessern. Dies sei auch eine Frage der Diplomatie mit den Nachbarländern. Denn vor allem Pakistan sei ein großer Unsicherheitsfaktor in der Region. Das pakistanische Grenzgebiet zu Afghanistan gilt als Rückzugsgebiet der afghanischen Taliban-Kämpfer. Der Grünen-Politiker äußerte die Hoffnung, dass die Bedrohung durch die IS-Terrormiliz zu einem Zusammenrücken der beiden Länder führen könne.
Koenigs warf dem Westen diesbezüglich große Versäumnisse vor allem in der Anfangszeit seines Afghanistan-Engagements vor. Damals habe man gedacht, man müsse sich um Pakistan nicht kümmern.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Besuch aus Afghanistan erhält heute die Bundeskanzlerin von Afghanistans Präsident Aschraf Ghani. Feiern wollen sie, und zwar 100 Jahre deutsch-afghanische Freundschaft. Doch zu jener Freundschaft zählt im Jahr 2015 auch eine Auswanderungswelle. 140.000 Afghanen kamen allein in diesem Jahr nach Europa, viele von ihnen nach Deutschland. So steht der Freundschaftsbesuch vor allem im Zeichen der Flüchtlingskrise und der Frage, ob afghanische Flüchtlinge auch in ihre Heimat abgeschoben werden können.
Am Telefon begrüße ich Tom Koenigs. Er ist menschenrechtspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag und für die Vereinten Nationen leitete er als UN-Sonderbeauftragter die Friedensmission in Afghanistan. Guten Morgen, Herr Koenigs!
Tom Koenigs: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Wir haben diese emotionalen Eindrücke gerade gemeinsam gehört. Hören wir, was dagegen Bundesinnenminister Thomas de Maizière Ende Oktober über Afghanistan gesagt hat:
O-Ton Thomas de Maizière: "Deutsche Soldaten und Polizisten tragen dazu bei, Afghanistan sicherer zu machen. Es sind viele, viele Summen von Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen. Da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben. Deswegen sage ich auch heute ganz klar: Die Menschen, die als Flüchtlinge aus Afghanistan zu uns kommen, können nicht alle erwarten, dass sie in Deutschland bleiben können, auch nicht als geduldete."
Dobovisek: Ein Teil der Afghanen soll wieder zurückgeschickt werden, natürlich nicht überall hin, ergänzt diese Woche noch CDU-Generalsekretär Peter Tauber. Wohin könnten Afghanen aus Deutschland denn abgeschoben werden, Herr Koenigs?
Koenigs: Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass man in ein Kriegsgebiet, von dem man gar nicht weiß, wo der Krieg hinkommt - selbst in Kabul ist die Situation ja unsicher -, dass man in so ein Gebiet Flüchtlinge abschiebt.
Dobovisek: Ist ganz Afghanistan ein Kriegsgebiet aus Ihrer Sicht?
Koenigs: Ganz Afghanistan kann sehr schnell ein Kriegsgebiet werden. Innerhalb von Afghanistan gibt es viele Flüchtlinge. Es gibt auch viele Flüchtlinge in den Nachbarländern. Ich finde, auch wir sollten uns an der Flüchtlingsaufnahme beteiligen. Es ist ja nicht so, dass die meisten nach Deutschland fliehen. Die aller meisten sind in Pakistan oder Iran.
Dobovisek: Was müsste denn geschehen, damit es sichere Zonen in Afghanistan gäbe, über die ja heute gesprochen wird?
Koenigs: Die verschiedenen internationalen Einsatzkräfte haben seit 15 Jahren versucht, in Afghanistan Sicherheit zu schaffen. Das wird man in gewissem Grade weitermachen. Es wird aber vor allem auf die Afghanen selbst ankommen und auch auf die Diplomatie Afghanistans mit seinen Nachbarländern, dass dort Frieden einkehrt. Gegenwärtig ist davon noch keineswegs zu sprechen.
Deutsche Soldaten könnten Afghanistan stabilisieren
Dobovisek: Die NATO-Außenminister haben ja gerade beschlossen, den weiteren Truppenabzug aus Afghanistan zu stoppen. Rund 12.000 Soldaten werden damit die afghanischen Sicherheitskräfte weiter beraten und ausbilden, darunter knapp tausend deutsche Soldaten. Ändert das die Lage?
Koenigs: Ich glaube, das könnte die Lage wenigstens eine Weile stabilisieren. Letzten Endes werden nur afghanische Kräfte selbst und (ganz deutlich) auch die afghanische Diplomatie mit den Nachbarländern das Land in eine sichere Zone führen. Da sind wir aber leider noch sehr weit von entfernt, auch weiter als wir dachten, als wir den Einsatz begonnen haben. Sogar weiter entfernt, als wir dachten, wir könnten abziehen.
"Pakistan ist eine Quelle der Unsicherheit"
Dobovisek: Die Ausdehnung der Taliban sei heute größer als zu Beginn des militärischen Eingriffes der NATO. Das ist ein Zitat aus einem Lagebericht der deutschen Botschaft in Afghanistan, aus dem der "Spiegel" zitiert. Das passt ja zu dem, was Sie gerade gesagt haben. Muss man am Ende sagen, es war alles umsonst?
Koenigs: Nein, es war nicht alles umsonst. Es sind nur gerade in der Anfangszeit erhebliche Fehler gemacht worden, indem man geglaubt hatte, man müsse sich nicht um Pakistan kümmern. Pakistan ist nach wie vor eine Quelle der Unsicherheit in der Region. Ich glaube, man muss mit allen Nachbarländern, vor allem Iran und Pakistan zusammenarbeiten, um dort einen verhandelten Frieden zu bekommen. Vielleicht könnte ja die Gefahr, die von ISIS ausgeht, die auf alle diese Länder von ISIS ausgeht, zu einem Zusammenrücken der Staaten führen. Ich glaube, die Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan sind ganz entscheidend für den Frieden in der Region.
Dobovisek: Ist Aschraf Ghani der Richtige dafür?
Koenigs: Das kann man nie sagen. Er ist jedenfalls der, der gewählt worden ist, nach großen Schwierigkeiten und nach großen Schwierigkeiten der Bildung einer Regierung. Gegenwärtig versucht er, das zu machen, was notwendig ist. Dazu gehört auch eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland.
Dobovisek: Die meisten Menschen in Afghanistan, die sehnen sich nach Sicherheit, sie sehnen sich nach Vertrauen, nach Perspektiven in die Zukunft. Kann er diese liefern?
Koenigs: Das weiß man nicht. Er müsste es versuchen. Er müsste es mit allen Kräften versuchen, gerade im Aufbau der zivilen Verwaltung. Die meisten Afghanen, eigentlich alle möchten aber vor allem in ihrem Lande bleiben, und diejenigen, die fliehen - Sie haben es eben in dem Beitrag auch selber gehört -, diejenigen, die fliehen, tun das mit Tränen in den Augen.
Dobovisek: Sie tun es aber trotzdem, weil sie sich bedroht fühlen - wir haben es ja gerade gehört -, weil sie keine Perspektive sehen, und Deutschland will sie möglicherweise wieder zurückschicken. Ein Fehler?
Koenigs: Das ist zweifellos ein Fehler und das ist auch unmenschlich, widerspricht auch der Flüchtlingskonvention. Ich glaube, darüber sollte man in dieser Phase überhaupt gar nicht erst nachdenken. Die Afghanen, die zurückkönnen, werden gerne und auch sobald es irgend geht zurückgehen.
"Geduldete Afghanen müssen integriert werden"
Dobovisek: Fast die Hälfte aller Asylanträge von Afghanen werden abgelehnt, teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit. Was soll mit all jenen geschehen, die demnach kein Recht auf Schutz in Deutschland haben, also bloß geduldet sind?
Koenigs: Sie sind geduldet und sie bleiben geduldet. Man muss sie, soweit es irgend geht, integrieren. Die Afghanen lernen üblicherweise sehr schnell Deutsch und integrieren sich leicht. Das muss man nutzen. Dann kann man vernünftig mit ihnen zusammenarbeiten. 100 Jahre Freundschaft kann man nicht durch einige wenige Maßnahmen ungeschehen lassen. Ich glaube, die Freundschaft hat eine große Zukunft, und die muss auch darin bestehen, dass man Flüchtlinge aufnimmt.
Dobovisek: Sie haben über die Rolle Pakistans gesprochen, auch über die Rolle Ghanis. Die Frage ist natürlich jetzt, wenn wir auf die Ausbreitung, die Ausdehnung der Taliban im Land gucken. Muss eine Zukunft Afghanistans gemeinsam mit den Taliban geschehen oder gegen sie?
Koenigs: Ich glaube ja daran, dass man mit allen immer versuchen muss zu verhandeln, und die Tür zu Verhandlungen muss offen sein. Das gilt auch für Pakistan. Pakistan muss auch verhandeln. Verhandlungen sind immer vorzuziehen kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt Situationen, wo die Verhandlungen an ihr Ende kommen, oder es Gelegenheiten zu Verhandlungen noch nicht gibt. Mit den Taliban ist das gegenwärtig sehr schwierig, auch weil die Führung unklar ist. Trotzdem muss man die Tür zu Verhandlungen immer offenhalten, denn jeder Tote, der dadurch verhindert, oder jede Verletzung, die vermindert wird, ist ein Erfolg.
Dobovisek: Wenn wir über das Spannungsfeld zwischen Verhandlungen und militärischen Optionen, dem Kampf sprechen, sind wir auch schnell in Syrien angelangt, bei der Debatte über die Schläge gegen den Islamischen Staat dort und die Beteiligung auch der Bundeswehr. In Afghanistan wurden Fehler gemacht, sagen Sie. Auch im Irak wurden Fehler begangen. Welche Fehler müssen jetzt in Syrien vermieden werden?
Koenigs: In Syrien geht es erst mal darum, eine vernünftige Koalition gegen ISIS zusammenzubringen. Das versucht der Präsident von Frankreich, Hollande, gegenwärtig und ich glaube, es ist richtig, sich dem nicht in den Weg zu stellen, sondern im Gegenteil dort mitzumachen. Allerdings mitzumachen, um auch mitzubestimmen. Und in einer Koalition gegen ISIS muss vor allem die Türkei einbezogen werden, muss allerdings auch Russland einbezogen werden, und da sind sehr sorgfältige Verhandlungen notwendig. Ich glaube, sich dem zu verweigern, ist aber der falsche Weg, gerade gegenüber Frankreich, was ja unser wichtigster Verbündeter ist.
"Es ist eine gemeinsame Haltung notwendig"
Dobovisek: Sehen Sie da eine gemeinsame Haltung gerade zwischen den Partnern, die Sie genannt haben?
Koenigs: Ich glaube, es ist eine gemeinsame Haltung notwendig, denn die Bedrohung durch ISIS, sei es über exportierten Terrorismus, sei es durch importierte Kämpfer aus unseren Ländern, sei es durch Ausdehnung in der Region, ist ja ganz offensichtlich. Und die Bedrohung trifft sowohl die Nachbarländer als auch uns und wir können nicht sagen, der Anschlag in Paris hat aber uns nicht getroffen und die Anschläge früher in Spanien oder in London haben uns nicht betroffen, deshalb sind wir nicht dabei. Nein! Es ist richtig, eine Koalition zu schmieden gegen ISIS, die alle bedroht. ISIS ist ja eine der Organisationen, die sich frontal gegen die Menschenrechte, gegen alles, was uns wert und teuer ist, richtet, und da muss man zusammenstehen.
Dobovisek: Der Grünen-Politiker Tom Koenigs im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen, Herr Koenigs.
Koenigs: Ich danke Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.