Archiv


Tomboy

Seit ihrer ersten Lektüre Otto Weiningers vor zwei Jahren stieß die Studentin andauernd auf die Psychoanalyse und deren nicht selten auch lästige Zeitigungen. Weininger, 1880 bis 1903, österreichischer Jude, welcher deutscher als der Deutsche zu werden sich vorgenommen hatte sowie am Tag seiner Promotion feierlich zum Protestantismus übergetreten war, hatte zwar gegen die verweichlichte, ist gleich verweiblichte, Kaffeehauskultur gekämpft, gegen die sogenannten gemischten Gefühle, wie er sie haßte, gleichzeitig aber, sprichwörtlich, eine Lanze gebrochen für die sogenannte Theorie der Bisexualität, welche von der relativen Gemischtgeschlechtlichkeit eines jeden Individuums ausging. Dies ausgeplaudert hatte seinem Patienten Hermann Swoboda gegenüber, einem engen Freund des fleißigen Doktoranden Weininger, unter vier Augen der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, welcher 1903, als Weiningers erweiterte Doktorarbeit unter dem Titel Geschlecht und Charakter erschien und auf Anhieb zum Bestseller wurde, allergrößten Ärger mit seinem Berliner Kollegen Wilhelm Fließ bekam, der diese Theorie der unbedingten Bisexualität aller Lebewesen im stillen Kämmerlein entwickelt und seinem Wiener Freund Freud nur unter dem Siegel höchster Verschwiegenheit anvertraut hatte. Otto Weininger hatte sich unterdessen, nur wenige Monate nach der Veröffentlichung seines misogynen Wälzers, in Beethovens Sterbehaus erschossen und trat, neben dem Senatspräsidenten des königlichen Oberlandesgerichts Dresden, Daniel Paul Schreber, dem unter so wahnwitzig religiösen wie geschlechtsumwandlerischen Zwangsvorstellungen leidenden Sohn des Erfinders der Schrebergärtnerei sowie allergrößten Gegners der Selbstbefriedigung, eine posthume Karriere als wissenschaftliches Objekt der Psychoanalyse an. Tatsächlich waren Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken im selben Jahr erschienen wie Weiningers ungleich populäreres Werk Geschlecht und Charakter. Aus seiner blanken Abscheu gegen das Jüdische und Weibliche in sich selbst hatte Weininger die paranoide Gleichung destilliert, daß der Jude ein Weib sei und damit sogar den jungen Hitler zu seinem Fan machen können. Auch Jesus Christus sei ein Jude gewesen, aber nur, um das Judentum in sich am vollständigsten zu überwinden. Der Jude sei eine kommunistische Kupplerin, und so weiter. Vivian kannte das geschlossene System der Zwangsvorstellungen Weiningers so gut wie auswendig; schließlich ging es ganz überwiegend mit dem westlichen Common Sense der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konform. In seinen letzten Tagebucheintragungen hatte der Frühvollendete allerdings vor sich selbst bekannt, hinter dem Haß gegen die Frau verberge sich immer nur der noch nicht überwundene Haß gegen die eigene Sexualität. In seinem Nachlaß hatte Vivian Atkinson den Aphorismus gefunden: Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, daß er endgültig böse wird. Händigt seinem Vater noch das abgewetzte Lederfutteral seiner Brille aus, wenn das nun wirklich keine Blaupause für den Psychoanalytiker ist, dachte die Studentin, mietet sich ein muffiges Zimmer in der Schwarzspanierstraße 15, wo sechsundsiebzig Jahre zuvor auch der tote Beethoven herausgetragen worden ist, und gibt sich die Kugel. Auf dem Friedhof sollten seinem Sarg Persönlichkeiten wie Stefan Zweig, Karl Kraus und der ganze vierzehn Jahre zählende Ludwig Wittgenstein folgen. Noch 1931 würde dieser begeistert über Weininger schreiben: Sein gewaltiger Irrtum, der ist großartig. Vivian Atkinson hatte Wittgensteins hochfotokopierter Spruch einige Wochen lang als Lesezeichen in ihrer 1947er Ausgabe, der achtundzwanzigsten Auflage von Geschlecht und Charakter im Verlag Wilhelm Braumüller zu Wien, gedient, antiquarisch erstanden 1995 in Heidelberg, unten am Neckar. Dann hatte sie den Zettel aber doch weggeworfen, in den Neckar, nämlich befunden, daß sich Wittgenstein in der Bewertung von Weiningers Irrtum geirrt hatte.

    Was Vivian in diesem Moment, oben bei der Molkenkur, noch erinnerte, während der gleichfalls luftig bekleidete Hans die ganz persönliche Unterhaltung Oliver Tolmeins mit Irmgard Möller verschlang: Der okkultistische Schwede August Strindberg schickt einen schmucken Kranz zu Otto Weiningers Begräbnis und verfaßt einen Nekrolog, in welchem er von dem unverrückbaren Faktum bramarbasiert, daß das Weib nichts als ein rudimentärer Mann sei; Karl Kraus wird diesen Text hocherfreut in der Fackel abdrucken. In seinem Briefwechsel mit Weiningers Freund Artur Gerber betrachtet der halb umnachtete Strindberg das sogenannte Frauenproblem durch Otto Weininger als auf erlösende Weise gelöst und bekennt am 8. Dezember 1903: Ich glaube jetzt, daß ich Böses getan, bevor ich geboren war. Ich bin auch wie Weininger religiös geworden aus Furcht, ein Unmensch zu werden. Ich vergöttere auch Beethoven, habe sogar einen Beethoven-Klub gestiftet, wo man nur Beethoven spielt. Aber ich habe bemerkt, daß sogenannte gute Menschen Beethoven nicht vertragen. Er ist ein Unseliger, Unruhiger, der nicht himmlisch genannt werden kann: überirdisch gewiß. P.S. Drucken Sie meine Briefe nicht vor meinem Tode. Woraufhin sich ein Lächeln auf Vivians bis eben noch sehr konzentrierte Züge stahl, Hänschen sogleich aufmerksam nachfragte: warum lachst du, und seiner um dreieinhalb Jahre älteren Kumpanin damit die geradezu klassische weibliche Antwort entlockte: Ach, nichts. Eine Drahtseilbahn kam knarzend vom Königstuhl herabgekrochen, und Hans rieb seinen Rücken an dem romantischen Mäuerchen, gegen das sie beide lehnten. Weitere prominente Verehrer erster Generation des selbsterklärten Genies Otto Weininger, mehr als ein halbes Jahrhundert vor Slavoj Zizek, die der Magistrandin augenblicklich einfielen: Heimito von Doderer, Alban Berg, Walter Serner, Alfred Kubin. Später würde der französische Germanist Jacques Le Rider schreiben, Weininger sei zwar kein Genie gewesen, aber ein geniales Symptom; es stelle sich deshalb die Frage, inwieweit seine Psychopathologie nicht gleichzeitig die Ratio seiner Zeit gewesen sei. So war der dreiundzwanzigjährige Wiener schon zu Lebzeiten, jene wenigen Wochen, die er seinen Ruhm zu erleben sich gestattete, von dem Leipziger Professor Paul Julius Moebius, Verfasser des überaus erfolgreichen Publikumsrenners Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, als Plagiator von dessen Ideen bezichtigt worden. Und noch Jahre nachdem Weininger Hand an sich gelegt hatte, tobte, wo immer man ihm zuhörte, besagter Wilhelm Fließ aus gleichem Grund. Wobei Sigmund Freud seinem Berliner Freund das volle Urheberrecht an der Idee von der unbedingten Bisexualität aller Lebewesen ohnehin zu keinem Zeitpunkt einzuräumen bereit gewesen war. Karl Kraus war hier abermals der Dritte, der sich freute und diesen fruchtlosen Disput in seiner Fackel, pro Weininger natürlich, rezensierte. Für Kraus, den wortgewandten Häuptling des engsten Kreises der Weiningerianer, hatte Geschlecht und Charakter seit seinem gefeierten Erscheinen ein ganz prima Anti-Freud-Kompendium abgegeben. Des Selbstmörders antifeministische Genietheorie diente Karl Kraus, Heimito von Doderer sowie Ernst Jünger, bis allen zu Hitler nichts mehr einfallen konnte, als verbaler Gefechtsstand gegen die verhaßte Psychoanalyse. Dabei war der berühmte Doktor Freud von dem noch namenlosen Studenten Weininger sehr verehrt worden, hatte dem wißbegierigen Neuropathen, wie sein letztendlicher Befund lauten würde, sogar ein paar Tips zu dessen Arbeit gegeben, sowie später über diesen geurteilt, daß er, so wörtlich, ein hochbegabter, sexuell gestörter junger Philosoph gewesen sei, der die Juden und das Weib mit der gleichen Feindschaft und den gleichen männlichen Schmähungen überhäuft habe. Dies hatte Vivian in einer von Jacques Le Rider zitierten Freudschen Fußnote zur Analyse der Phobie eines 5jährigen Knaben gelesen, wo sie auch die folgenden Worte des ersten Psychoanalytikers gefunden und abgeschrieben hatte: Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus, denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, dass dem Juden etwas am Penis – er meint, ein Stück des Penis – abgeschnitten wurde, und dies gibt ihm das Recht, den Juden zu verachten. Auch die Verachtung gegen das Weib hat keine stärkere unbewußte Wurzel. Nach Jacques Le Rider stellte Geschlecht und Charakter einen einzigartigen, von abgrundtiefem Entsetzen vor penislosen Wesen wie dem Weib und dem Juden gehetzten Gesang über die Kastration dar, wodurch das Werk, wie es Heike schon vorletzten Sommer im Weininger-Seminar geäußert hatte, dann doch, zumindest phänomenologisch, in ganz unmittelbarer Nähe der schulmeisterlichen Psychoanalyse dahinschlingerte. Wo Otto Weininger behauptet hatte, das Weib besäße kein Ich, sogar: das Weib sei das Nichts, ließ sich bei Freuds Exegeten Jacques Lacan nachlesen: la femme n'existe pas. Seit Ödipus hatte die phallokratische Welt anscheinend nur ein Leitmotiv gekannt, den ewigen Kastrationskomplex. Wäre also Weiningers Wahnsinn schließlich als Freuds Wahrheit zu begreifen, hatte Le Rider geschrieben, Weininger als Ultra-Freud? Woraufhin Heike Jensen und Vivian Atkinson zum ersten Mal gemeinsam in den Marstall, die Mensa, gegangen waren.

    Ein paar Sachen nur, unterbrach Hans Mühlenkamm Vivians gedankliche Rekapitulationen unvermittelt: Wußtest du eigentlich, daß Irmgard Möller zunächst einmal nur Flugblattraketen in US-amerikanische Kasernen geschickt hat? Und daß sie an einem Offenbacher Kiosk verhaftet wurde, der nur wenige hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt liegt? Glaubst du der Legende, die RAF hätte gar nicht gewußt, daß sich im Heidelberger Hauptquartier jener Großrechner befand, der sämtliche Bombenangriffe auf Vietnam koordinierte? Den sie dann aber durch ihre beiden Autozündsätze, zwei, drei, viele Vietnams schaffend, wie Che es verlangt hatte, zerstörten, beziehungsweise, mit des Pentagons Worten: in die Steinzeit zurück bombten? Keine Ahnung, erwiderte die Studentin, du hast das Buch gelesen, nicht ich. Aber der Gelegenheitsarzthelfer hatte es noch längst nicht durch und tauchte also abermals in seine Lektüre ab. Ein Jahr nach dem sogenannten Deutschen Herbst, 1978, war dann Judith Butier in Heidelberg aufgetaucht, als amerikanische Stipendiatin mit europäischen Vorfahren jüdischen Glaubens hatte sie sich auf die Suche nach alten jüdischen Friedhöfen sowie Überresten jüdischen Widerstandes gegen den deutschen Antisemitismus gemacht, heißhungrig Fassbinders Spielfilme verschlungen, mit ihren neuen deutschen Freunden über Deutsche, Juden, Geschichte, Politik und Sexualität debattiert, und an der Universität über Hegels Rezeption in Frankreich gearbeitet. Schließlich der logische Umzug nach Frankreich. Noch 1993 bekundete die Philosophin, Philosophin ist gleich Feministin, in ihrem Aufsatz One Girl's Story, Überlegungen zu Deutschland, ihr Erstaunen darüber, in der Frankfurter Rundschau als sympathischer junger Mann apostrophiert worden zu sein, vielleicht italienischer Abstammung, wie es hieß, vor Augen führend, wie unwichtig es sei, Körpern ein genau definiertes Geschlecht zuzuordnen, Judith Butlers Kommentar: Die Vermutung italienischer Herkunft, hier zudem Schauplatz für die Beunruhigung über den Verlust geschlechtlicher sowie rassischer Grenzen, zeuge von einer immer noch herrschenden Unlesbarkeit des Juden in Deutschland. Joe, der Südländer, wie es im Judo Club immer geheißen hatte; denn der Deutsche war seinem Wesen nach nordisch. Vivian Atkinsons Lieblingsstelle in One Girl's Story, Überlegungen zu Deutschland, lautete: Konnte es einen Gedanken der Differenz geben, der nicht wieder zum Gedanken der Identität zurückkehrte?

    Die Studentin kramte einen Zettel aus ihrer Schallplattentasche hervor und notierte: Judith Butlers heutige Begriffe der Performanz respektive Parodie an Joan Riviéres 1929er Womanliness As Masquerade messen. Dann erhob sie sich, kletterte gelenkig über das Mäuerchen und war für Hans verschwunden; telefonieren gehen. Eine Viertelstunde später kehrte sie zurück und sang ihrem Freund ein Lied ins Ohr, das die Schauspielerin Ann-Margret 1963 als geschlechtsreifer Backfisch in dem Hollywood-Film Bye Bye Birdie, ein Jahr bevor sie mit dem umschwärmten Männerdarsteller Eivis Presley in Viva Las Vegas auftreten durfte, hatte chansonnieren müssen: How lovely to be a woman / The wait was way worthwhile/ How lovely to wear mascara / And smile a woman's smile / How lovely to have a figure/ That's round instead of flat/ Whenever you hear boys whistel / You're what they're whistling at. Das gibt es nicht, lachte Hans, wer hat das geschrieben? Zwei Chauvinisten namens Charles Strouse und Lee Adams, antwortete die Heidelberger Amerikanerin, wobei Lee auch ein Mädchenname sein kann; jedenfalls das paradigmatische Modell einer Gender lmpersonation, und sie wird noch bunter, denn der B-Teil lautet: lt's wonderful to feel / The things a woman feels / lt gives you such a blow Just to know / You're wearing lipstick and heels. Oder so ein komisches Top wie du, nahm Hänschen seine um zehn Zentimeter größere Freundin hoch, wen hast du eigentlich angerufen? Heike Jensen, und sie bekommt den Wagen, antwortete Vivian strahlend. Sie hatte nämlich veranlaßt, daß Heike Ilse Lehrerin um ihren Ford Escort anhalten würde, damit sie alle für einen Tag nach München reisen könnten, wo nämlich übermorgen Judith Butler höchstpersönlich bei den Amerikanisten der Universität gastieren sollte; Korinna Kohn mit ihrer um einiges geräumigeren Tatra-Limousine war, wie angekündigt, schon vor Wochen in den hinteren Odenwald abgeschwirrt. All righty, sagte Hans, wenn ihr mich haben wollt, Viv, ich komme mit. Sprang auf und intonierte, nur wenig tiefer als das Original, She Acts Like A Woman Should, einen ganz miesen Selbsterniedrigungs-Schlager, den sich Marilyn Monroe einst auf den hochdotierten Leib hatte schreiben lassen. Und manchmal wurden alle Frauen wie Männer, hatte D.H. Lawrence geschrieben, so daß die Männer nicht mehr männlich zu sein brauchten. Und manchmal, obladi, oblada, wurden alle Männer wie Frauen, und so brauchten die Frauen nicht länger fraulich zu sein. Die Kinks hatten ein Lied namens Lola darüber aufgenommen. Und manchmal, ach so selten, blieb der Mann Mann und die Frau Frau, und sie kamen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen und waren sehr glücklich. Aber letztlich mußte der Mann Mann und die Frau Frau bleiben, denn Lawrence hatte die komplizierten, die widersprüchlichen Liebschaften zu lieben gelernt.

    Am Donnerstag, den 12. Juni 1997 saßen Heike, Angela, Vivian und Hans, sowie ein luxemburgischer Gasthörer namens Maurice, in Ilse Lehrerins leuchtend gelbem Ford Escort; die Inhaberin des Fahrzeugscheins nicht mit an Bord; sie mußte im Odenwald Unterricht geben. Heike, die ihren Führerschein vor Ewigkeiten in Travemünde gemacht hatte, erwies sich als zwar unerfahrene, aber nicht ungeschickte Chauffeuse, und schon nach vier Stunden auf überfüllten Autobahnen, unter mehrfachem, zeitraffenden wie donnernden Durchhören einer Kassette mit Sleater-Kinneys brandneuem Album Dig Me Out, rollten die fünf Freunde beziehungsweise Freundinnen in der bayerischen Landeshauptstadt ein. Angela Guida hatte sich ihren zierlichen Schopf weißblond wie Heike Jensen färben lassen, eine Idee, auf welche sich die beiden Verlobten durch die begeisterte Lektüre von Ernest Hemingways unvollendetem Roman Der Garten Eden hatten stoßen lassen, in dessen Handlung sich der frisch vermählte Held, ein lyrisches Ich namens David, womöglich Hemingway selbst, so Heike, von seiner gynandrischen Gattin, dem Wildfang Catheine, nach und nach zu deren Ebenbild modellieren läßt. Schon in den Flitterwochen muß der Mann im Bett als willfähriges Mädchen herhalten, die Frau nähert sich ihm als resoluter Junge, wie es auch Heike zu tun beliebte, wovon wiederum die phallische Angela ein Lied zu singen wußte. Maurice, der neben Angela saß, schaute verlegen zur Seite; soeben zog das mächtige Schloß Nymphenburg an dem Escort vorbei. Dabei ist Der Garten Eden, aus mir absolut schleierhaften Gründen, lediglich in einer um, stellt euch mal vor, mehr als tausend Seiten gekürzten Fassung erhältlich, beschwerte sich Heike über dieses somit doppelt unvollendete, ziemlich pikante Nachlaßwerk des Selbstmörders. Das will ja so gar nicht mit all den Gerüchten über Hemingways Brusttoupet zusammengehen, stellte Hans Mühlenkamm nachdenklich fest, während Heike Ilses Auto durch Münchens Feierabendverkehr fädelte. Irgendwie aber doch, widersprach Vivian, die bei Marjorie Garber gelesen hatte, daß Ernest Hemingway und seine ältere Schwester Marcelline im Kindesalter von ihrer Mutter wie gleichgeschlechtliche Zwillinge verkleidet worden waren, heute als Jungen, morgen als Mädchen, wie die Mutter ihren Sohn Oberhaupt gern ihr Summer Girl gerufen hatte, wovon ein berühmtes, gleichnamiges Lichtbild zeugte, und daß, darüber hinaus, des Dichters jüngster Sprößling schließlich selbst als Cross Dresser bekannt wurde. Vermutlich eine Koinzidenz, hatte Garber geschrieben, welche der faszinierenden, ohnedies komplexen Hemingway-Geschichte einen zusätzlichen Dreh verpaßte. Maurice, der seinen linken Arm, nicht zuletzt der Enge des Escort wegen, hinter Angela und Hans auf die Hutablage gelegt hatte, fuhr seiner Sitznachbarin durch das gebleichte Haar und sagte ganz einfach: Charmant. Vivian, die seit Augsburg vorn saß, hatte einen Stadtplan auf ihren Oberschenkeln, die unbestrumpft aus einer kurz vor der Abreise abgeschnittenen Oshkosh-Latzhose herausschauten, entfaltet. Hans hielt seinen Kopf aus dem offenen Fenster. Es konnte gut sein, daß heute noch ein Gewitter käme. Eine gute Stunde später saßen alle bis auf Maurice, der nur seiner Benzinkostenbeteiligung halber mitgenommen worden war und in München eine gestrauchelte Cousine besuchen wollte, in einem Hörsaal der Münchner Universität, welcher sich im Nu so sehr gefüllt hatte, daß die ganze Versammlung nach Nebenan, in einen größeren, umziehen durfte. Für einen kurzen Moment schämte sich Hans seines Geschlechts, von welchem, proportional gesehen, auffallend wenige Exemplare zugegen waren. Dann trat Judith Butler ein, ungemein sympathisch, auf anziehende Weise vergeistigt, Hans hätte sie vom Fleck weg heiraten wollen. Auch Vivian schlug das Herz bis zum Hals, als ihr Star nun zum Rednerpult schritt, von einer älteren, offenbar ortsansässigen Amerikanistin, welche die einführenden Worte hielt, gebeten wurde, zunächst auf einem bereitstehenden Stuhl Platz zu nehmen, und schließlich selbst, nur drei, vier Meter vor Hans und Vivian, ans Mikrophon trat. Heike und Angela hatten sich gleich in die letzte Reihe verkrümelt; sie konnten es wirklich keine Minute lang unterlassen, unflätig aneinander herumzunesteln. Weshalb Angela auch die gesamte Fahrt nach München, per Mehrheitsbeschluß, auf der Rückbank hatte zubringen müssen. Judith Butlers Vortrag handelte von Antigone, Heldin zahlreicher nach ihr benannten Tragödien, im Besonderen, einer Definition familiärer Verwandtschaft im Allgemeinen. Als die Autorin gegen Ende ihres Textes, aus einer Laune heraus, in die deutsche Übersetzung hinüberwechselte, fiel Vivian abermals auf, wie außerordentlich umständlich ihre umfangreiche Muttersprache funktionierte. Daddy Atkinson hatte sich dereinst strikt geweigert, auch nur eine Vokabel mehr als die rudimentärsten Floskeln German zu erlernen: Wo bitte kann ich meine Wäsche waschen? Ich möchte meinen Salat selber anmachen. Ich bin gekommen, um die werte Hand Ihrer Tochter anzuhalten. Sogar Hänschen Mühlenkamm, dessen erste Fremdsprache das Französische war, hatte den von Judith Butler dargelegten politischen Anspruch Antigones im wenig gewohnten englischen Idiom um einiges besser begriffen als in der synonymisch mäandernden Übertragung ins Deutsche durch eine gewisse Elke Heckner. Warum nicht durch Kathrina Menke, dachte Vivian, die Gender Troubie so passend ins Deutsche gebracht hatte? Warum nicht Karin Wördemann, die fähige Übersetzerin von Bodies That Matter? Wußtest du eigentlich, fragte der aschblonde Gelegenheitsarzthelfer seine brünette Sitznachbarin, nachdem die Vortragende fertig geworden war und der gesamte Hörsaal, inklusive Heike und Angela, die sogar aufgesprungen waren, frenetisch applaudierte, daß Judith Butler mit Frau und Kind, wie ich aus der Reihe hinter uns aufgeschnappt habe, eine quasi bürgerliche Kleinfamilie führt, deren puritanisch US-amerikanisches Diktat sie doch andererseits so vehement, auch in dem eben gehörten Aufsatz zu Antigone, Tochter des Odipus, bekämpft? Und wenn schon, erwiderte Vivian, der es auch egal war, wenn Kommunisten Mercedes fuhren. Hans hingegen fühlte eine gewisse Eifersucht in sich aufsteigen; gern hätte er sich in diesem Augenblick unter der von Brian Wilson besungenen Sonne Kaliforniens gegen die beneidenswerte Freundin Judith Butlers eingewechselt. Eine innere Regung, von welcher die deutsch-amerikanische Studentin sofort Notiz nahm, und zwar mit Erleichterung, denn die bislang so ausnehmend ausschließlich aufgetretene Verliebtheit des jungen Offenbachers in Vivian Atkinson hatte dieser im Lauf der vergangenen Monate, bei aller auch ihrerseitigen Zuneigung, eine nicht unerhebliche Last auferlegt. Ein paar nichtssagende Fragen aus dem Publikum sowie das profilneurotische Inzest-Geplapper einer offensichtlich freudianischen Amerikanistin rundeten die Abendveranstaltung ab, der Universitäts-Pedell rasselte bereits mit seinem Schlüsselbund, und gegen halb zehn wurde der ebenerdige Hörsaal in Münchens Schellingstraße geräumt. Wobei sich Hans tatsächlich noch ganz schnell, am Personal vorbei, nach vorn durchschlängelte, um den Theorie-Star zu befragen, ob sie in absehbarer Zeit wieder einmal auch nach Heidelberg käme. Leider nicht, antwortete Judith Butler, die ein angenehmes, flüssiges Deutsch zu sprechen verstand, lediglich in Berlin habe sie gestern den gleichen Vortrag gehalten. Der mir enorm gut gefallen hat, stammelte Hans Mühlenkamm auf Englisch, wofür sich die Amerikanerin ihrerseits freundlich bedankte. Und damit: Ende der Vorstellung. Überaus glücklich stürzte der Fan davon; seine Mitreisenden hatten die Szene aus den erhabenen hinteren Reihen, unweit der Ausgänge, beobachtet. Wahnsinn, kreischte Heike Jensen und trommelte mit beiden Fäusten auf Hänschens Schultern ein, du hast tatsächlich mit ihr gesprochen, dafür schenke ich dir meine einzige Handtasche. Ein schreckliches Stück aus den Achtziger Jahren, das der Sammler nicht einmal nachgeworfen haben mochte. Jedoch, er sagte dazu nichts, denn Heike würde die Sache schon morgen wieder vergessen haben, und fragte lieber: Pizza oder McDonald's? Tatsächlich hatten alle, der weiche Offenbacher wie die coole Heidelbergerin, die forsche Travemünderin wie das zwiegeschlechtliche Fabelwesen aus der Po-Ebene, einen Riesenhunger, und so tafelten sie binnen kurzem in einer typisch scheußlichen Schwabinger Pizzeria, der wißbegierigen Angela mit vollen Backen die tollen Theoreme Judith Butlers vorkauend. Gerade, daß der temperamentvollen Wasserstoffblondine nicht gleich die ganze Lasagne aus dem sexy bepinselten Gesicht fiel: Mein schöner Schwanz, nichts weiter als das Fleisch gewordene Ergebnis politischer Übereinkünfte? Woraufhin sich eine lebhafte Debatte darüber entzündete, ob Heikes und Angelas Verlobung nun als homo-, hetero- oder gar zwangsheterosexuell zu klassifizieren sei. Und ob, falls sich die Protagonisten des Postfordismus, Kerle allesamt, nicht besserten, Zwangshomosexualität über die Welt zu verhängen sei. Jedenfalls brachte der nervös gewordene Kellner die Rechnung, bevor die lärmende Runde auch nur annähernd aufgegessen hatte.

    Angela Guida wollte selbst auf der Autobahn noch nicht einsehen, daß ihre allseits als perfekt empfundene, feminine Gender Impersonation als parodistische Wiederholung diskursiver Bezeichnungspraxen des Geschlechtlichen zu bewerten sei, als subversiver Akt im höheren Auftrag einer revolutionären Multiplikation der Geschlechter, nämlich jenseits des, wie alle im Ford befanden, absolut schrottreifen, binären Systems. Andererseits wollte sich Angela ihren Penis, der, laut Heike, auf einen Frauennamen hörte, keinesfalls wegmachen lassen, was sie lautstark mit der kartesianischen Trennung von Körper und Geist begründete, Vivian Atkinson dagegen in Erinnerung rief, daß auch Simone de Beauvoirs ursprünglich emanzipativ gelesene Unterscheidung von Sex und Gender diskursiv produziert wurde und in der Trennung beider Kategorien letztendlich ganz reaktionäre Biologismen festgeschrieben wurden. Absolutistische Chimären der Wissenschaft wie Körper, Identität, Subjekt zu denaturalisieren, hieße die heutige Devise, ereiferte sich die Magistrandin. Und apropos Descartes, Angelo, setzte sie hinterlistig hinzu, ist es denn tatsächlich mit deinem katholischen Glauben vereinbar, den Geist als Innenwelt und den Körper als Außenwelt zu begreifen? Die arme Angela verstand überhaupt nichts mehr und setzte eine verdrossene Miene auf. Unterhalb der Dossenheimer Steinbrüche hatte sie allerdings vor nur wenigen Wochen, bei aufgehendem Vollmond, eine Erscheinung gehabt, beziehungsweise, nach Heike, zu haben geglaubt, die, wenn sie ehrlich war, jegliches kartesianische Weltbild ganz gehörig transzendierte. Nachts hatte sie daraufhin geträumt, als blondgelockte, wollüstige Äbtissin im Vorderen Orierit nach dem irdischen Verbleib der Vorhaut Jesu zu forschen, und dabei so wild um sich gehauen, daß Heike Jensen, welche diese Begebenheit in Ilses knallgelbem Auto, bei Vollgas, zum Besten gab, ein blaues Auge davontragen würde.

    Wenig war auf der Autobahn los, als der Escort mit dem, Heidelberger Freundeskreis gegen zwei Uhr nachts über die Schwäbische Alb schnurrte. Im Wageninnern aber hatte sich das erhitzte Gespräch über Judith Butler und, beziehungsweise mit, Angela Guida total verfranzt. Die Italienerin blätterte beleidigt in ihrer Monika, einem katholischen Frauenmagazin, das sie seit 1995, sehr zum Erstaunen ihrer Mitreisenden, abonniert hatte, und vertiefte sich schließlich in einen fraulichen Reisebericht über die Insel Korsika. Ganz einfach Frau; dieses Motto der in 86601 Donauwörth erscheinenden Illustrierten, war eines Tages aus Angelas TV-Magazin geflattert, auf einem Werbefaltblatt, welches mit den entwaffnenden Merksätzen aufmachte: Ganz einfach Frau zu sein, ist das Lebensgefühl der neuen Weiblichkeit. Die Frau von Heute steht selbstbewußt zu ihren typisch weiblichen Eigenschaften, denn emanzipiert ist sie schon längst. Sie tut viel für ein harmonisches Leben und entdeckt die christlichen Tugenden neu. Sie steht zu ihrer Lebensaufgabe, und sie erwartet von ihrer Zeitschrift mehr als Mode und Kosmetik. Sie liest gerne, und sie liest Monika. Selbst das Kleingedruckte hatte Angela äußerst vielversprechend gefunden: Ja, ich möchte Monika kennenlernen. Senden Sie mir die nächsten zwei Ausgaben kostenlos und unverbindlich. Nach Erhalt der zweiten Nummer habe ich zehn Tage Zeit zu entscheiden, ob ich Monika regelmäßig mit zwölf Nummern jährlich beziehen möchte. Nur wenn ich überzeugt bin, und so weiter, frei Haus für achtunddreißig Mark vierzig. Die phallische Katholikin hatte prompt unterschrieben und der in Heikes, llses, Pats und nun auch ihrer gemeinsamen Toilette thronende Playboy in der keuschen Monika einen sündigen Partner gefunden.

    Ganz einfach Frau ist natürlich Quatsch, Angela, versuchte Hans Mühlenkamm die Eingeschnappte neben ihm aus ihrer eskapistischen Lektüre zu reißen; vergeblich, womöglich hatte sie sich an einem einzigen Buchstaben festgeglotzt. Und so mußte Heike eine gefährliche Vollbremsung vortäuschen, um die Aufmerksamkeit ihrer Zukünftigen wiederzugewinnen: Lesley Ferris, hob sie an, bemerkte in ihrem 1990 an der Memphis State University erschienenen Aufsatz über Goethe, Goldoni And Woman-Hating, daß der deutsche Dichter an den feminin gekleideten italienischen Kastraten seiner Zeit not the thing itself but its imitation verehrte. Wobei the thing die Frau, deine monatliche Monika, Angela, gewesen wäre, wie sich andererseits der männerliebende französische Poet Cocteau in seiner Hymne auf den texanischen Transvestiten und Trapezartisten Barbette geradezu zum Frauenliebhaber umzustrukturieren vermocht hatte. Logisch, sagte Hans, Cocteau als Cock, Barbette als Barbed Woman. Und Goethes Ding an sich als Weib, setzte Vivian belustigt hinzu, aber Heike Jensen wollte noch ein bißchen deutlicher werden: Wenn sich aus männlichen Darstellungen sogenannter Weiblichkeit sowohl des, mit hysterischer, gleichsam nationaler Sicherheit, als heterosexuell gehandelten Goethes Frauenhaß als auch des schwulen Décadent Cocteaus vermeintliche Frauenverehrung gespeist hatte, ließe sich mit essentialistischen Argumentationen wie derjenigen aus Donauwörth, ganz einfach Frau sein zu können, kein Kaktus mehr gewinnen. Genau, erklang es vom Beifahrerinnen-Sitz, denn Frauenverehrung und Frauenverachtung kamen auch bei Vivian, spätestens mit dem späteren neunzehnten Jahrhundert, welches die Künstlerin in erster Linie als Hure und Hysterikerin gefeiert hatte, verdächtig häufig zur Deckungsgleichheit, ganz einfach Frau ist einfach Quatsch.

    Hans kratzte sich am Hinterkopf. Mal eine ganz dumme Frage, sagte er: Wenn nun tatsächlich, nach Judith Butler, der Körper ein Text ist und das Subjekt als solches gar nicht existiert, also vielmehr von einer Art, dein Ausdruck, Heike, Perpetuum Mobile auszugehen ist, welches sich in einem, ich sage mal, unablässig plappernden Prozeß der gestischen bis verbalen Sinngebung sowohl manifestiert als erschöpft, ist natürlich auch das sogenannte Weibliche ein Produkt dieser Praxis. Und wenn, wie es bei Meret Oppenheim heißt, die Männer ihre weiblichen Anteile, wie Couturiers, würdest du sagen, Vivian, auf die Frauen, welche das patriarchalische Zentralgestirn, Trabanten gleich, umkreisen, projizieren, stellen diese dann eine ausgelagerte Teilmenge dessen, was wir einst als männliches Subjekt mißverstanden, nämlich überschätzt haben, dar? Oder eine Restmenge dessen, was, vor Judith Butler, als Objekt zu bezeichnen gewesen wäre? Schon bei Luce lrigaray ist ja sowohl das Selbe als auch das Andere männlich markiert. Ja, was ist denn nun eigentlich eine Frau, mischte sich Angela Guida ganz plötzlich, auffallend ungeduldig, geradezu suggestiv, wieder ein, und was ist in ihr drin? Heike Jensen, deren für die späte Stunde ausgesprochen munter wirkendes Gesicht in diesem Augenblick durch die gleitende Reflexion eines Sportwagens im Rückspiegel erhellt wurde, schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad: Teilmengen, Teilmänner, Männerteile, spintisierte sie, lachte kurz schrill auf, stellte dann aber die überraschende Gegenfrage: Was ist ein Bild, Angela, und was ist auf ihm drauf? Woraufhin die stolze Hermaphroditin abermals verstummte, sich ihre Monika zu einer Nackenrolle drehte.

    Auch der nette, kaum größere Mann neben ihr gab seinen schwierigen Gedankengang erst einmal wieder auf. Was wäre denn tatsächlich der Unterschied, grübelte dafür Vivian vorn vor sich hin, wenn der Körper gar kein Text, sondern ein Bild ist, ein Weibsbild, ein Mannsbild? Darüber hinaus beschlich sie eine deutliche Sympathie für Angela. So freimütig sich deren übergeschlechtlicher Weltenbummel auch darstellte, fühlte sich Vivian Atkinson doch immer wieder, wenn sie diese gelungene Rekonstruktion einer nach herkömmlichen Vorstellungen aufreizenden Kellnerin, in sogenannten unbeobachteten Momenten, beobachtete, an Judith Butlers kritische Anmerkungen zu Michel Foucaults nahezu bukolischer Einschätzung der letztendlich suizidalen Amouren Herculine Barbins erinnert. Kaum jemals außerhalb des Horrorfilms waren jene Helden, die für die Wissenschaft starben, selbst Wissenschaftler gewesen, dachte die angehende Akademikerin. Bereits des suspendierten evangelischen Predigers und selbsterklärten Melancholikers Adam Bernds Eigene Lebens-Beschreibung, Samt einer Aufrichtigen Entdeckung, und deutlichen Beschreibung einer der größten, obwol großen Theils noch unbekannten Leibes= und Gemüths=Plage, Weiche GOtt zuweilen über die Welt=Kinder, und auch wohl über seine eigene Kinder verhänget, 1738 zu Leipzig erschienen, knapp fünfzig Jahre später auszugsweise in Karl Philipp Moritz‘ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde nachgedruckt, stellte eines der finstersten Zeugnisse hypochondrischer Quälereien dar, von Daniel Paul Schrebers hysterischen Erlebnissen ganz zu schweigen; wenn das kein Scheißspiel war, dachte die Beifahrerin: Der Nervenkranke als Frau und Jude, des Satans Baby austragend, beziehungsweise Gottes Sohn, wie er zu wissen glaubte. Der Selbstversuch, fand Vivian, hatte schon immer eher zur Religion denn zur Wissenschaft tendiert. War nun Angela glücklicher als es Angelo je hätte werden können? Ließ sie sich, wie sie lasziv im Escort fläzte, tatsächlich als Cross Dresser, Schauender wie Beschaute zugleich, apostrophieren? War Angela nicht Angelo? Ihr Bild der Frau nicht seine Männerphantasie? Alias Carmen, Medusa, Salome? Warf denn Angelos voluminöser Schwanz, da hinten auf der Rückbank neben Hans, nicht eine ganz enorme Falte in Angelas schicken Wickelrock? Wenn sie sich einen Nose Job hatte machen lassen, warum nicht, ganz lapidar, auch einen Penis Job? Worauf hatte Freud eigentlich hinausgewollt, als er geschrieben hatte, daß für beide Geschlechter nur ein Genitale, nämlich das männliche, eine Rolle spielte? Und Lacan gleich wieder, wenn er betont hatte, der Phallus, den eben niemand besitzen könne, sei keinesfalls das Organ, welches er symbolisiere, nicht Penis, nicht Klitoris, sondern die reine Repräsentation, welche sich in der Anwesenheit der durch sie Repräsentierten restlos aufhob? Die Studentin mit der strähnigen Übergangsfrisur reckte sich, so gut dies angegurtet eben ging, in ihrem Beifahrerinnen-Sitz, nach einer Anekdote ihres Professors war auch Habermas einmal ganz gemein an Lacan gescheitert, klappte den Schminkspiegel aus und schaute nach hinten in den Fond. Erkannte, daß die sündige Italienerin eingeschlafen war; ihr Köpfchen, von der Monika gerutscht, lehnte an Hänschens Schulter. Dieser, mit einer Taschenlampe im Mund, in Irmgard Möller vertieft. Der Escort auf Höchstgeschwindigkeit. Verbarg sich hinter Angela Guida womöglich ein männlicher Hysteriker wie Baudelaire, Flaubert, Huysmans, Mallarmé, Peladan? Deren jeweilige Selbst-Feminisierung ja keine Zuwendung zur Frau, sondern eine Vereinnahmung der Weiblichkeit im eigenen Interesse bedeutet hatte, wußte Vivian. Wie sie auch die Erfindung der Femme Fatale als Phantasmagorie eines unzweifelhaft männlichen Frau-Seins zu begreifen gelernt hatte. Die Frau als fixe Idee. Mae West sowie Madonna als genetisch weibliche Drag Queens. Genus und Genie. Stichworte, die sich Vivian mit einem Kugelschreiber aus llses Handschuhfach auf ihren rechten Oberschenkel schrieb. Eine Stechmücke hatte sich ins Wageninnere verirrt. Heike quetschte sie nahe ihrer Halsschlagader tot, und Hans fragte von hinten, wie weit es noch sei. Also fuhren die vier Wissensdurstigen, unterschiedlich aufgekratzt, durch die gewittrige Sommernacht und erreichten die heimatliche Oberrheinische Tiefebene schließlich in der anbrechenden Morgendämmerung.

    Der Aufseher schlug dem Hindu die Peitsche mitten durch das Gesicht. Mit dieser Formulierung eröffnete der Nazischriftsteller Karl Aloys Schenzinger seinen 1936 erschienenen historischen Roman Anilin über die Badische Anilin- & Soda-Fabrik, durch den er gewissermaßen lückenlos an Hitlerjunge Quex, seinen ganz großen Erfolg von 1932, anknüpfen konnte. Pat Meier hatte daheim in Handschuhsheim eine kleine Privatlesung daraus organisiert, zu der auch Bodo Petersen eingeladen war. Und da der gerade seinen altertümlichen Beiwagen aus einer Ladenburger Reparaturwerkstatt abgeholt hatte, sollte, wozu er stürmisch bei ihr klingelte, auch seine hübsche Nachbarin ganz unbedingt mitkommen, das heißt, in der einseitig geräderten Karosse, welche Petersen eben an sein BMW-Kraftrad geschraubt hatte, Platz nehmen. Vivian sagte schon deswegen zu, weil sie auf diese Weise einen ganzen Stapel ausgeliehener Schallplatten, ohne jede Schlepperei, an Heike Jensen zurückgeben konnte, fand sich dann aber tatsächlich, denn Heike und Angela waren wer weiß wohin ausgeflogen, vor der schroffen Pat Meier im Schneidersitz wieder, auf einem in Auflösung begriffenen Schaumgummikissen, zwischen Ilse Lehrerin, die kannenweise Tee gekocht hatte, Herrn Petersen, der es gar nicht gewohnt war, auf dem Fußboden zu sitzen, sowie einer Handvoll verfilzter Autonomer, deren riesige Hunde im Flur herumtobten. Zu Anfang des Sommersemesters 1858 schritt ein blutjunger Mann ziemlich aufgeregt durch die Gassen Heidelbergs und suchte, wie er bei jeder Gelegenheit sagte, etwas zum Wohnen, las Plat vor. Das Schloß hatte er schon besichtigt. Den stärksten Eindruck hatte auf ihn die Aussicht gemacht, die man von der Terrasse aus auf die Stadt und auf das Neckartal hatte. Und jetzt kommt es, so die Vorlesende: Mit dem Bau selbst hatte er weniger anzufangen gewußt. Ihm gefiel nun einmal ein ganzer Bau besser als ein zerstörter. Ist das nicht stark? Die Gastgeberin, den seltenen Anflug eines Lächelns um ihren Mund, blätterte dreiundzwanzig Seiten weiter, ins Jahr 1865, wo ein sentimentaler Gärtner namens Klingele mit der kleinbürgerlichen Verhinderung des nationalen Fortschritts namens BASF droht, indem er dummdreist von der Dreckküche des Herrn Engelhorn tönt, und daß seine Kohlköpfe wohl demnächst nach Schwefel schmecken würden, nach Chlor sein allseits so gerühmter Apfelwein. Und was für ein widerwärtiger Kleingärtner das für Karl Aloys Schenzinger war, wenn er schreibt: Hier hatte der Gärtnermeister eine Pause gemacht. Er mußte sich endlich einmal die Stirne wischen und sehen, daß er wieder etwas Luft bekam. Außerdem war es wichtig zu sehen, wie die Wirkung war von dem, was man sagte; Originalton Schenzinger, so Pat. Des braven Bürgermeisters heftige Gegenrede: Was Sie da zuletzt sagten, Herr Klingele, scheint mir der springende Punkt Ihrer ganzen Auffassung zu sein. Die Angst um Ihren persönlichen Vorteil, die übrigens unbegründet ist, läßt Sie den ganzen Sachverhalt verzerren. Herr Engelhorn ist ein Mann mit geradezu genialem Geschäftsgeist. Er sagt sich, die Teerfarben sind eine deutsche Erfindung, aber es gibt nicht eine deutsche Fabrik, die sie ausnützt. Dagegen schießen im Ausland die Farbenfabriken wie Pilze aus der Erde, und da müsse endlich etwas unternommen werden. Pat Meier wollte weiterblättern, doch der Bürgermeister von Ludwigshafen war noch nicht am Ende: Herr Engelhorn rechnet mit Bestimmtheit damit daß die neue Fabrik sich in allerkürzester Zeit mächtig vergrößern muß, und dazu gehört Platz, Platz und nochmals Platz. Fabrik ohne Raum, sozusagen, kommentierte die Vorleserin, und die Autonomen nickten; das fatale Zustandekommen eines kriegerischen Konzerns wie der IG Farben gehörte ihrer Ansicht nach von allen Seiten bis ins kleinste Detail analysiert. Bodo Petersen aus Brunsbüttel verlagerte seinen Schwerpunkt auf die linke Arschbacke. Wo war er denn hier bloß gelandet?

    Bei ihrer letzten Einladung hatte Pat Meier Dem Volk dienen / Rote Armee Fraktion: Stadtguerilla und Klassenkampf, die berühmte RAF-Schrift vom April 1972, einen Monat vor den Heidelberger Autobomben zu datieren, vorgelesen. Deren Inhalt in Kürze: Konzerne und Staat; die westdeutsche Innen- , und Außenpolitik als Innen- und Außenpolitik der Konzerne; die multinationale Organisation der Konzerne und die nationale Beschränktheit des Proletariats; die Stadtguerilla als Verbindung von nationalem und internationalem Kampf; die exemplarische Bedeutung des Chemiearbeiter-Streiks von 1971, Militarisierung der Klassenkämpfe; die objektive Aktualität der sozialen Frage, sprich Armut in der BRD; dagegen die subjektive Aktualität der Eigentumsfrage; Reformismus und der Unterschied zwischen CDU und SPD; die Rolle der Springer-Presse; Möglichkeiten sowie Funktion der Stadtguerilla; des weiteren Anmerkungen zu Verrat, Liberalismus, Bankraub und Solidarität. Ein Supertext der RAF, den alle auf dem Fußboden versammelten noch ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen stürmisch begrüßten. Schenzinger dagegen hatte die heroische Heraufkunft bis zur gewaltsamen Expansion der BASF in einer Art futuristischem Epos besungen, dessen siginifikanteste Stilblüten vorzulesen Pat Meier sich an diesem langen Abend auch nach der zweiten Pause nicht nehmen lassen wollte: Das andere kam. Das Neue. Die Ergänzung. Es kam zwangsläufig. Zu dem Einfall gesellte sich die Überlegung. Aus der Idee entstand die greifbare Form. Aus der Erfindung drängte die Nutzanwendung. Aus der Theorie wurde durch Verwertung der praktische Wert, die Ware. Im Reagenzglas lag das Milligramm. Das Milligramm umschloß die Frucht eines geistigen Vorgangs. Pats Gäste johlten. Das Milligramm umschloß die Frucht eines geistigen Vorgangs, wiederholte sie. Der Bedarf verlangte nach dem Kilo, forderte den Zentner, schrie nach Tonnen. Selbst Herr Petersen, der mittlerweile auf dem Rücken lag, konnte sich kaum mehr halten und fand es, wie er Vivian sogleich versicherte, schade, daß er Pat Meier noch nicht kennengelernt hatte, als es vor vier Wochen um die Flugschriften der RAF gegangen war. Womöglich ein gar nicht unlustiger Verein, raunte er seiner Nachbarin zu. War es die Möglichkeit, daß der Hobby-Biker noch nie von Baader-Meinhof, Irmgard Möller und der Rote Armee Fraktion gehört hatte?

    Dies war der Grundstock, las die Darmstädterin unterdessen fort. Dies war die Fabrik. Der Anfang war schwer. Der Chemiker stand in der leeren Fabrikhalle. Er hatte hier kein Vorbild. Er entbehrte jeder Erfahrung. Die Methoden, die er aus seinem Laboratorium mitbrachte, versagten hier kläglich, die Apparate, deren er sich bis dahin bedient hatte, wirkten puppenhaft zierlich, ja lächerlich vor der Größe der Aufgaben, die ihm hier gestellt waren. Alles sollte in das Tausendfache, in das Millionenfache übertragen werden. Pat Meier blickte ernst in die versammelte Runde, nahm einen Schluck Tee und las auf Seite 244 unten weiter: Der Chemiker ließ nicht locker. Er verbiß sich in die neue Aufgabe. Er wurde Techniker. Ihm zur Seite stand der Spezialarbeiter. Dieser Arbeiter brachte aus der Volksschule den geweckten Verstand, aus dem Heeresdienst die Disziplin mit zur Arbeit. Die Fabrikbetriebe verlangten, nach militärischer Ordnung und erhielten sie. Nun war es ganz still zu Füßen der Vorlesenden auf ihrer Weinkiste geworden, selbst dem gutmütigen BASF-Angestellten Petersen ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Pat Meier, welche, wie sie zu betonen nicht müde wurde, Gutmütigkeit für die Klimax der Konzentrationsschwäche hielt, blätterte rund hundertdreißig Seiten weiter, an den Schluß des Buches, Schenzingers Gegenwart, die noch 1997 unbewältigte deutsche Vergangenheit. Sechzigtausend Tonnen Kautschuk im Jahr für die deutschen Reifen, stand dort zu lesen. Keine Naphtaquellen, kein Öl, kein Gummi im eigenen Lande. Keine Kolonien. Gefährliche Summen drohen ins Ausland abzufliegen. Wir sind eingeengt, geographisch, wirtschaftlich, politisch. Wir wollen leben; Ausrufezeichen. Immer lauter wurde die Forderung nach dem künstlichen Werkstoff. So hatte Petersen das noch gar nicht gesehen. Der künstliche Werkstoff bedingt heute die Zukunft der deutschen Nation. Der künstliche Werkstoff ist zur deutschen Lebensfrage geworden.

    Und vergeßt nicht, sagte Pat Meier, als sie ihre Gäste, mitsamt deren bereits eingeschlafen gewesenen Hunden, an die Wohnungstür brachte, daß die Badische Anilin- & Soda-Fabrik, nach Ludwigshafens größtem Sohn, Ernst Bloch, gleichsam inmitten unseres Nibelungenliedes liegt. Die Autonomen waren schon in ihren alten VW-Bus gestiegen, als ihnen, sowie den beiden Wahl-Edingern, von oben, aus Pat Meiers weit geöffnetem Fenster, noch immer Bloch'sche Floskeln um die Ohren flogen: Am feierlichsten Fluß Deutschlands. Zwischen Speyer und Worms. Mitten im Nibelungenlied. Ein Schritt über die Brücke, und die Luft war anders. Hier die größte Fabrik Deutschlands. Drüben in Mannheim das größte Schloß Deutschlands. Die Wirklichkeiten und die Ideale des lndustriezeitalters selten so nahe beisammen. Den Schmutz sowie das residenzhaft eingebaute Geld. Rings um Ludwigshafen die dunstige Ebene. Sumpflöcher und Wassertümpel. Die Studentin und der Angestellte setzten ihre Helme auf. Bloch: Eine Art Prärie. Keine Gütchen und ldyllen. Fabrikmauern und Feuerschlote, bedeutend passender. Das Lied der Telefonstangen. Ilse Lehrerin versuchte, Pat Meier von ihrem Fenster fortzuziehen; vergeblich: Wir Burschen am Ufer fühlten leibhaftige Nymphen, Baumgötter an sonderbaren Abenden, wenn die Rheinwellen wie Glas standen. Hier wurde Pats Predigt durch das Dröhnen des nach mehreren Fehlzündungen endlich angesprungenen VW-Busses unterbrochen. Vivian Atkinson rief hinauf, daß sie gar nicht gewußt hatte, daß Bloch Ludwigshafener gewesen war. Aber klar doch, brüllte Pat zurück, rundherum lagen ja nur gewerbliche Gebäude, Sohn eines jüdischen Königlich Bayerischen Eisenbahnverwalters sogar. Die Pfalz, jahrhundertelang Exklave Bayerns, wußte sogar Petersen zu meiden. Vivian setzte sich in seinen Beiwagen. Blutrot glaubte sie im fernen Westen den Himmel über der Fabrik glühen zu sehen. Konnte es wirklich sein, daß die Schlote der BASF das Nibelungenlied sangen?